Zum Auftakt der großen Debatte schreibt Altkanzler Helmut Kohl in BILD: Wie soll das Europa der Zukunft aussehen?

Von: Von HELMUT KOHL

Was muss getan werden, damit die Europäische Union nicht an der Schuldenkrise zerbricht? Hat ein gemeinsames Europa überhaupt noch eine Zukunft? Auf welchem Fundament können wir weiter aufbauen? In BILD geben diese Woche Experten und Politiker Antworten auf diese Fragen. Heute: Altkanzler Helmut Kohl.

„Meine Vision für Europa war und bleibt die Vision der Gründerväter Europas: Es ist die Vision des geeinten Europas, das heißt eines immer engeren Miteinanders auf unserem Kontinent.

Der wichtigste Beweggrund der Gründerväter Europas – von Winston Churchill über Alcide de Gasperi, Jean Monnet und Robert Schuman bis hin zu Konrad Adenauer – für Europa bleibt gültig. Es war die Erkenntnis: Nie wieder Krieg! Man wollte, dass Europa nach zwei schrecklichen Kriegen, die entsetzliches Leid und Elend gebracht hatten, endlich klüger wurde. Und die Gründerväter Europas waren sich einig: Nur das geeinte Europa würde uns die Chance auf dauerhaften Frieden und Freiheit geben.

Wer, wie ich, den Krieg als junger Mensch mit all seinen Schrecken und seiner Not erlebt hat, kann aus eigener Erfahrung ermessen, welchen Wert das geeinte Europa für Frieden und Freiheit hat. Wer dies nicht selbst erlebt hat und – gerade etwa jetzt in der Krise – fragt, was die Einigung Europas eigentlich bringt, dem ist, trotz einer für Europa bisher einmaligen, über 65 Jahre währenden Friedensperiode und trotz mancher Probleme und Schwierigkeiten, die es noch zu lösen und bewältigen gilt, zu antworten: Frieden.

Der Blick über den Tellerrand und in die Geschichte macht deutlich: Die bösen Geister der Vergangenheit sind keineswegs gebannt, sie können immer wieder zurückkommen. Das heißt: Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden und der Friedensgedanke also das Bewegungsgesetz der europäischen Integration.

Die Visionäre von damals waren sich wohl bewusst, dass es ein schwieriger und weiter Weg von der europäischen Vision zur europäischen Wirklichkeit sein würde. Dennoch ließen sie sich nicht beirren. Sie – und nicht die Bedenkenträger, die es auch damals schon reichlich gab – haben sich letztlich als die eigentlichen Realisten erwiesen: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten enorme Fortschritte in Europa erzielt. Wir haben u. a. vor über 20 Jahren den Eisernen Vorhang friedlich überwunden, wir haben die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit und mit Zustimmung unserer Nachbarn und Partner in der Welt erreicht, wir haben auch die Wiedervereinigung Europas vollzogen – ganze zehn der 27 Mitgliedstaaten in der Europäischen Union lagen vor 20 Jahren noch jenseits des Eisernen Vorhangs –, und wir haben eine gemeinsame europäische Währung, den Euro, die Europa unumkehrbar macht. Dies alles stärkt Europa als Hort von Frieden und Freiheit, im globalen Wettbewerb und als Partner in der Welt.

Wer jetzt in der Krise zweifelt, dem halte ich entgegen: Wo stünden wir heute in Europa, wenn wir den Kleinmütigen und Bedenkenträgern immer erlegen wären und die große europäische Idee nicht gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt hätten?

Es ist wahr: Dieser Weg nach Europa war oft mühsam. Wir sind dabei auch manches Mal zwei Schritte vor- und einen Schritt zurückgegangen, und wir sind auch nicht immer so weit gekommen, wie wir es uns vorgenommen hatten. Aber auch das gehört zu Europa, und das wird sich auch in Zukunft nicht grundsätzlich ändern: dass man einander nicht überfordert, sondern miteinander das Machbare gestaltet und mit Ausdauer, Zielstrebigkeit und auch Mut immer weiter vorangeht. Das waren entscheidende Voraussetzungen für die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration.

Und das ist auch die entscheidende Lektion für heute: Nicht den Bedenkenträgern gehört die Zukunft, sondern denen, die mit einem klaren Ziel vor Augen die Dinge bewegen. Auf diesem Fundament, das wir geschaffen haben, lässt sich das Haus Europa hervorragend weiterbauen und festigen. Die aktuelle Diskussion in Europa und die krisenhafte Lage in Griechenland dürfen jetzt nicht dazu führen, dass wir das Ziel des geeinten Europas aus den Augen verlieren oder gar infrage stellen und zurückweichen. Das Gegenteil ist richtig: Wir müssen die Krise als Chance nutzen. Wir brauchen – gerade jetzt – mehr und nicht weniger Europa.

Europa ist unsere Zukunft. Es gibt zu Europa keine Alternative. Wir haben allen Grund zu Optimismus, dass wir, dass unser Europa auch aus der gegenwärtigen Krise gestärkt hervorgeht – wenn wir es nur wollen. Lassen wir uns nicht beirren.“

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