Lange Prozesse in Deutschland:Ein Urteil nach 29 Jahren

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland 58 Mal wegen überlanger Gerichtsverfahren verurteilt. Sechs erschütternde Beispiele für die Trägheit der Justiz.

Wolfgang Janisch

Lange Prozesse in Deutschland

7 Jahre und vier Monate

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Im Juli 1997 erreichte die Strenge der Straßburger Richter sogar das Bundesverfassungsgericht. In einem Fall benötigten die Karlsruher Richter sieben Jahre und vier Monate, in einem weiteren fünf Jahre und drei Monate, um über die Rechte von Kleingärtnern zu entscheiden; es ging um die Pachtverhältnise ihrer Schrebergärten. Der Gerichtshof sprach den Beschwerdeführern jeweils 15.000 Mark an Entschädigung zu. Kleiner Schönheitsfehler: Der EGMR benötigte für seine Urteile fast genauso lang - sieben und fünf Jahre.Foto: dpa

Lange Prozesse in Deutschland

7 Jahre und vier Monate

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Am 21. Januar erstritt ein 1935 geborener Mann 4500 Euro wegen eines überlangen familiengerichtlichen Verfahrens. Anfang 1998 beantragte der Mann die Scheidung. Daran schloss sich ein erbitterter Streit um das Sorgerecht für die beiden Kinder an, auch um Zugewinnausgleich wurde gestritten. Das Verfahren dauerte allein vor dem Amtsgericht knapp fünfeinhalb Jahre, mehrfach vermerkten die zuständigen Amtsrichter in den Akten, dass es ihnen wegen gestiegener Arbeitsbelastung nicht möglich sei, das Verfahren voranzutreiben. Der Kläger reagierte mit Dienstaufsichts- und Untätigkeitsbeschwerden.Foto: ddp

Lange Prozesse in Deutschland

15 Jahre

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Mit einem Urteil vom 13. November 2008 gewährte der Gerichtshof dem Vorstand eines Wirtschaftsunternehmens 15.000 Euro an immaterieller Entschädigung. Er war im Jahr 1987 unter dem Vorwurf des Betrugs ins Visier der Ermittler geraten, doch bis zur Rechtskraft eines Freispruchs sollten 15 Jahre vergehen. Allein die Ermittlungen zogen sich mehr als sieben Jahre hin, von der Anklage im Juli 1994 bis zum Verhandlungsbeginn vergingen weitere viereinhalb Jahre.Foto: dpa

Lange Prozesse in Deutschland

16,5 Jahre

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Am 8. Juni 2006 sprach die Große Kammer des EGMR einem türkischen Staatsangehörigen aus Stade 10.000 Euro zu. Ein Schadensersatzprozess gegen einen Fahrradfahrer, der ihn 1982 angefahren hatte, zog sich seit 1989 hin. Allein der Streit über die Höhe des Schadensersatzes schwelte seit 1994 und war beim Urteil noch nicht beendet. Beim Bundesverfassungsgericht hatte S. keinen Erfolg gehabt.Foto: AP

Lange Prozesse in Deutschland

18 Jahre

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Manchmal benötigt man für zwei Jahre nur zwei Sätze. So wie im Fall einer Klägerin aus dem Raum Würzburg, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vergangenen Herbst einen Prozess gegen die Bundesrepublik Deutschland gewann, weil sich ihr Rechtsstreit um eine Hinterbliebenenrente mehr als 18 Jahre hingezogen hatte. Protokollarisch listete der Straßburger Gerichtshof ihren Kampf mit der Sozialgerichtsbarkeit auf: "Am 24. März 1999 legte die Beschwerdeführerin Berufung ein", heißt es unter Punkt 17. Der nächste Satz lautet lapidar: "Am 29. Juni 2001 nahm das Bayerische Landessozialgericht die Bearbeitung des Falles auf."Zwei Jahre und drei Monate ohne erkennbare Aktivität, schon das allein könnte problematisch sein: Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention fordert, die Justiz habe binnen einer "angemessenen Frist" tätig zu werden. Doch für Frau S. war es nur eine kleine Etappe auf ihrem kafkaesken Marsch durch die Instanzen.Die Geschichte beginnt im Jahr 1978 mit dem Krebstod ihres Mannes. 25 Jahre hatte er in einer Gießerei gearbeitet, mehr als sein halbes Leben. Weil sich die Krebsfälle häuften, stellte die Berufsgenossenschaft Nachforschungen an, lehnte aber 1987 eine Hinterbliebenenrente ab - Alkohol und Zigaretten hätten den Mann ins Grab gebracht. Die Frau klagte beim Sozialgericht Würzburg.Die Sache zog sich hin, man wartete komplizierte Messungen in den Gießereihallen ab, die in zwei Pilotverfahren vorgenommen wurden. Weitere Gutachten wurden in Auftrag gegeben, die der Klägerin nur wenig halfen. Sie schaltete einen weiteren Sachverständigen ein. Sein Ergebnis: Schuld waren wohl eher Nikotin und Alkohol - es könnten aber auch die Giftstoffe in der Gießerei gewesen sein. Keine Berufskrankheit, entschied das Gericht, also auch keine Rente. Da schrieb man bereits das Jahr 1999.Der Rest ist schnell erzählt: Die Berufung beim Landessozialgericht wird 2004 abgewiesen. Auch beim Bundessozial- und Bundesverfassungsgericht scheitert die Klägerin. Am 3. Mai 2006 ist der Rechtsweg in Deutschland zu Ende.Ihr Sieg vor dem Straßburger Gerichtshof, mehr als drei Jahrzehnte nach dem Tod ihres Mannes, ist eher moralischer Natur. Das Gericht spricht Frau S. 14.000 Euro Entschädigung zu. Nicht wegen der versagten Rente, sondern wegen der allzu schleppenden Bearbeitung ihrer Klage. Die Anwaltskosten muss sie selbst zahlen.Die Ursachen für solche Verzögerungen sind vielfältig. Oft sind die Gerichte wirklich überlastet, und manchmal legen querulatorische Kläger der Justiz mit Beschwerden und Befangenheitsanträgen zusätzliche Steine in den Weg. Mitunter gilt in der Justiz aber auch das Prinzip "heiße Kartoffel" - jeder versucht, den Fall möglichst schnell loszuwerden.Und dann gibt es Naturen, die den Kampf mit der Justiz als Lebensaufgabe annehmen. Jürgen Gräßer könnte - nolens, volens - so jemand sein. Er erstritt im Oktober 2006 beim EGMR eine Summe von 45.000 Euro - weil sein Verfahren fast 29 Jahre gedauert hat. Der einstige Autorennfahrer wollte Anfang der 70er Jahre einen Supermarkt bauen, der aber nach der Kommunalwahl von 1974 offenbar nicht mehr opportun war, jedenfalls hob die Stadt Saarbrücken die Erschließungskosten von 2,5 auf 4,5 Millionen Mark an. Das Projekt scheiterte, Gräßer klagte auf Schadensersatz.Es sollte der Auftakt zu einem beispiellosen Prozessmarathon werden. Der Fall wanderte durch die Instanzen der saarländischen Justiz, ein paar Mal griff auch der Bundesgerichtshof ein. Es war wie am Spieltisch des Casinos. Gräßer erstritt ein paar Siege und verlor am Ende doch alles: Im letzten BGH-Urteil von 2003 wurde der Streitwert auf 109 Millionen Euro beziffert - allein die Verfahrenskosten trieben Gräßer in die Insolvenz.Und doch ist der heute 70-jährige Mann unverdrossen. Ein Berufungsprozess beim Oberlandesgericht Karlsruhe liegt auf Eis, Gräßer hatte ihn nicht weiterbetrieben. Man überlege jetzt, wie es weitergehe, sagte Gräßer der SZ. Sicher sei nur: "Wir werden die Sache massiv angehen."Foto: ddp

Lange Prozesse in Deutschland

29 Jahre

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Mit einem Urteil vom 5. Oktober 2006 sprach der Gerichtshof dem Unternehmer Jürgen Gräßer 45.000 Euro Entschädigung zu. In einem Amtshaftungsverfahren forderte Gräßer Schadensersatz von der Stadt Saarbrücken: Es ging um ein gescheitertes Supermarktprojekt, das aus Sicht des Beschwerdeführers von der Kommune vereitelt wurde. Das Verfahren dauerte fast 29 Jahre für drei Instanzen und eine Verfassungsbeschwerde.Foto: dpa

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