"Wie Lämmer, die Merkel nachlaufen" – Seite 1
ZEIT ONLINE: Frau Bauriedl, sind wir Deutschen so verunsichert, dass wir eine Mutti brauchen?
Thea Bauriedl: "Sie kennen mich", sagt Angela Merkel, und das scheint schon zu genügen. Darauf reagieren viele Menschen spontan mit Zustimmung. Sie meinen: Wir wissen, wie diese Mutti ist, nämlich genau so, wie wir sie uns wünschen. Sie wird alles können und alles gut machen, genauso. Jeder Verdacht, jede Befürchtung wird so beiseite geschoben. Wer es wagen würde, sie zu kritisieren, würde Gefahr laufen, dafür bestraft oder verstoßen zu werden.
ZEIT ONLINE: Aber es ist doch etwas paradox, die Regierungschefin mit einem Kosenamen anzusprechen.
Bauriedl: Auf jeden Fall. Es ist verwunderlich, dass die auch negativ konnotierte Bezeichnung Mutti jetzt wieder aufgetaucht ist und in fast undefinierbarer Art und Weise verwendet wird – ob ironisch, halb oder ganz liebevoll. Man sagt ja nicht: "Die Mutter der Nation", das würde mehr Respekt ausdrücken – allerdings auch mehr Distanz.
ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt die Mutter aus psychoanalytischer Sicht genau?
Bauriedl: In der Psychoanalyse kennt man beide Mutterbilder: Die rettende Mutter, die das Kind gegen alles Böse beschützt, in konflikthaften Familien auch gegen den bösen Vater; und die fressende Mutter, die das Kind vereinnahmt, auch als Bündnisgenosse gegen den Vater, oder gegen andere Feinde dieser Mutter.
Daraus ergibt sich, dass sich das Kind in Angstsituationen im direkten oder im übertragenen Sinn unter den Rock der Mutter flüchten kann, dort aber ganz brav sein muss, um nicht zu stören und den Schutz der Mutter nicht zu verlieren. Dass dies eine Gefängnissituation ist oder war, das erkennen viele Menschen erst später oder nie. Oder sie versuchen, diese Szene in ihrem Leben immer wieder selbst herzustellen – dann eben auch in der Politik.
ZEIT ONLINE: Und das wirkt sich auch auf politische Entscheidungsfindungen im Erwachsenenalter aus?
Bauriedl: Ich meine schon. Es gibt unterschiedliche Formen von Sicherheit: Man kann "geschützt und gehorsam" im (psychischen) Gefängnis sitzen, oder man kann die eigenen Gefühle ernst nehmen und selbstbestimmt dafür sorgen, dass es einem in seinen persönlichen und politischen Beziehungen gut geht. Diese zweite Form der Suche nach Sicherheit kann man im politischen Bereich mit dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung in der Demokratie gleichsetzen. In der Beziehung zu Angela Merkel haben anscheinend viele die Verantwortung für ihre Sicherheit an die Mutti abgetreten.
ZEIT ONLINE: Haben die Deutschen mit Merkel eine Sehnsuchtsgestalt gewählt?
Bauriedl: Das habe ich eben beschrieben. "Keine Experimente": Diese Formel findet sich immer wieder in der deutschen Geschichte. Zum Beispiel bei Adenauer, auch bei Kohl, wo alles sicher zu sein schien, solange man nicht aufbegehrt hat. Da gibt es eine Suche nach Autorität, nach Konstanz und natürlich auch die Suche nach Personen, die persönliche Vorteile versprechen.
ZEIT ONLINE: Lässt die Bezeichnung Mutti denn einen direkten Rückschluss auf die Befindlichkeit der Deutschen zu?
Bauriedl: Es ist bezeichnend für die Beziehung zwischen Merkel und sehr vielen Deutschen, dass man sie zur eigenen Sicherheit immer wieder inthronisiert, wenn Gefahr droht, aber auch, wenn man andere Vorteile unter ihrer Herrschaft erwartet. Auf diese Weise kommen Mehrheiten zustande.
"Das ist alles nur eine Ersatzsicherheit"
ZEIT ONLINE: Wirkt Merkels Schutzmantel stärker als jedes Argument?
Bauriedl: Genau.
Wir sollen uns unter
einer gemeinsamen Sicherheitsglocke vereint fühlen; dann müssten wir uns
auch nicht streiten. Wir brauchen dann auch keine Aufklärung mehr:
Alles ist in Ordnung, egal, was um uns herum geschieht.
ZEIT ONLINE: Welche Konsequenzen hat ein solcher Politik-Stil für das Verständnis von Demokratie?
Bauriedl: Ich glaube, dass wir damit weit hinter das zurück fallen, was wir schon einmal hatten. "Mehr Demokratie wagen" war zumindest als Parole schon einmal da. Und nun erleben wir den Rückschritt in eine Scheinsicherheit durch Verharmlosung unserer Situation und durch gläubige Unterordnung unter die Herrschaft der "ewigen guten Mutter", die wir deswegen zu kennen glauben, weil sie das selbst behauptet. Aber das ist alles nur eine Ersatzsicherheit. Von wirklicher Sicherheit kann man hier nicht sprechen. Als ob das gehen würde: durch Nichts-Tun kein Risiko einzugehen. Das ist ja das größte Risiko, das man haben kann, wenn man nicht darauf achtet, was man fühlt und wie man dementsprechend handeln will.
ZEIT ONLINE: Sorgt Mutti für eine konsequente Entpolitisierung?
Bauriedl: Ja. Wir haben in unserem Land nur noch wenig echten und konstruktiven politischen Streit, wenig Ringen um den besten Weg. Wir sind überwiegend wie die Lämmer, die Merkel nachlaufen, weil wir fürchten, dass sie uns verlässt, wenn wir nicht brav sind und an sie glauben, beziehungsweise wenn wir bemerken sollten, dass und wie sie uns manipulierend mit ihrem "Sie kennen mich" vereinnahmt. Der eigene Verstand, die eigenen Gefühle spielen in mancherlei Hinsicht keine Rolle mehr. Wir Deutsche haben schon einmal die Erfahrung gemacht, dass wir politisch blind werden können, wenn wir uns der Devise "Sie kennen mich" einfach anvertrauen.
ZEIT ONLINE: Wie sehr müssen wir uns denn sorgen?
Bauriedl: Was derzeit in Deutschland geschieht, widerspricht zu großen Teilen dem Grundprinzip der Demokratie, der verantwortlichen Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen in der Gemeinschaft; und es widerspricht einer Kultur der kontinuierlichen offenen Auseinandersetzung um den besten Weg, um die besten Entscheidungen für alle. Wenn wir die spezifische Art der Vereinnahmung und Entmachtung der Bevölkerung nicht wahrnehmen, wie sie schon seit einiger Zeit im Gange ist, werden wir nichts dagegen unternehmen können. Wir wählen dann immer wieder eine Art von Sicherheit, die unsere Selbstbestimmung einschränkt. Wir antworten dann: "Ja, wir kennen Sie, und wir wählen Sie, weil wir es uns nicht zutrauen, unseren Weg in konstruktiver Diskussion selbst finden zu können".
"Unser politischer Diskurs ist in einer tiefen Krise"
ZEIT ONLINE: Würde ein Mann genau so regieren können, wie es Merkel tut?
Bauriedl: Das glaube ich nicht. Wie schon beschrieben, denke ich, dass die individuellen Erfahrungen der Kindheit jedes Einzelnen ein wichtiger Faktor beim Vertrauen in diese Mutti ist. Unbewusst gibt es die Erwartung, die Mutter würde für alle sorgen und immer nur das Beste für ihre Kinder tun, da sie ja auch am besten weiß, was Kinder brauchen – während man das bei den Vätern oft nicht so recht weiß. Zumindest glauben und vermitteln das viele Mütter so.
Unser
Sicherheitsbedürfnis in der großen Verunsicherung unserer Zeit bringt
uns mehrheitlich unter das Dach dieser Mutter, weil – so glauben viele
Menschen aufgrund ihrer persönlichen Geschichte – Mütter doch nichts
Böses tun und am besten für Beruhigung und Sicherheit der Kinder sorgen
können. Leider stimmt das nicht. Die Art, in welcher Männer und Frauen
"die Macht ergreifen" ist unterschiedlich. Vereinfacht gesagt: Männer
fordern eher Unterwerfung und Gehorsam, wenn sie verunsichert sind.
Frauen tendieren eher dazu, sich in das Kind einzufühlen und es dadurch
an sich zu binden: "Ich kenne Dich, und Du kennst mich. Das genügt doch
schon."
ZEIT ONLINE: Gibt es denn einen Ausweg aus dieser Konsens-Sucht?
Bauriedl: Unser politischer Diskurs ist in einer tiefen Krise. Ich glaube aber, dass diese Krise fruchtbar sein kann. Es wird hoffentlich der Zeitpunkt kommen, an dem die Menschen aus der Vereinnahmung durch die Mutti ausbrechen wollen. Wenn man Politik versteht als offene Diskussion unterschiedlicher Interessen und Vorstellungen darüber, wie vieles gut oder besser werden könnte, dann geht das nicht ohne innere Veränderung jedes Einzelnen, nicht ohne Mut zum Risiko. Da genügt es nicht, als Staatsbürger/in einfach brav zu sein. Das wird hoffentlich bald wieder deutlich werden.
ZEIT ONLINE: Frau Bauriedl, sind wir Deutschen so verunsichert, dass wir eine Mutti brauchen?
Thea Bauriedl: "Sie kennen mich", sagt Angela Merkel, und das scheint schon zu genügen. Darauf reagieren viele Menschen spontan mit Zustimmung. Sie meinen: Wir wissen, wie diese Mutti ist, nämlich genau so, wie wir sie uns wünschen. Sie wird alles können und alles gut machen, genauso. Jeder Verdacht, jede Befürchtung wird so beiseite geschoben. Wer es wagen würde, sie zu kritisieren, würde Gefahr laufen, dafür bestraft oder verstoßen zu werden.