Die Ziffern

Die Ziffern sind die graphische Darstellung der Zahlen, was allerdings nur eine von vielen möglichen Darstellungsweisen ist.

Das Wort Ziffer hat seinen Ursprung im arabischen sifr, das “leer” bedeutet. “Leer” verweist auf die Zahl Null, die im Abendland von den Arabern eingeführt wurde und ohne die das heutige schriftliche Rechnen unmöglich wäre. Im übrigen bezeichnete cifra im mittelalterlichen Latein eben die Null. Im 15. Jahrhundert erhält ,,Ziffer” oder ,,Chiffre” die Bedeutung eines Geheimzeichens, was die Angst widerspiegelt, die manche angesichts von Zeichen empfanden, die das Unendliche zu verbergen scheinen.

Den geheimen, mystischen und poetischen Aspekt der Ziffer findet man aber auch in anderen Wörtern wieder. Stammt compter (zählen) vom lateinischen computare (rechnen, berechnen, überschlagen, eigentl. zusammen-schätzen), so gilt dies ebenso für das - im Französischen gleichlautende - conter (erzählen). Auch im Deutschen haben ,,zählen” und ,,erzählen” eine gemeinsame Wurzel, die auf das germanische talo (vgl. englisch ,,tale”, ,Märchen‘) zurückgeht, womit die Einschnitte im Kerbholz bezeichnet wurden.

Noch näher an die Ursprünge führt uns das Wort calcul (Rechnen) - im Deutschen in Wörtern wie ,,Kalkül” (Berechnung), ,,Kalkulation” (Vorausrechnung der Kosten) enthalten -, das sich aus dem lateinischen calculus (Steinchen) ableitet und so auf die Zeiten verweist, da man nicht anders zu Addieren wußte als durch das Aufhäufen ebenso vieler Steine wie zu zählender Gegenstände.

Das erste schriftliche Zahlensystem finden wir in Sumer im vierten Jahrtausend v. Chr., zur Zeit der ersten Schriftzeichen überhaupt. Es handelt sich dementsprechend um einfache Formen, um Kerben auf Tontafeln: Ein senkrechter Strich stellte die 1 dar, eine Kugel die 10, ein großer Kegel die 60, ein Kegel mit einem Loch die Zahl 600 und ein Kreis die Zahl 3600. Es scheint, daß diese Tafeln den damaligen Buchhaltern zum Aufschreiben der Warenbestände dienten. Daraus sollte sich die Keilschrift entwickeln, in der z. B. ein Sparren die 10 und ein senkrechter Nagel die 60 bezeichnete.

Um 3000 v. Chr. entwickelten die Ägypter die Hieroglyphen, die als Schriftzeichen und als Ziffern verwendet werden konnten. Drei Schriftsysteme bestanden nebeneinander: die gemeißelten oder gemalten Hieroglyphen, die die Schriftzeichen der Eingeweihten waren und auch zu dekorativen Zwecken dienten, die hieratische Schrift der Priester und die Volksschrift für das tägliche Leben.

Die meisten Zeichen haben einen Bezug zum natürlichen Umfeld Ägyptens. Eine Zehner-Einheit wurde durch eine Art auf den Kopf gestelltes ,,U” versinnbildlicht, ein Hunderter durch eine Spirale, ein Tausender durch eine Lotusblüte, 10.000 durch einen erhobenen, leicht angewinkelten Finger, 100.000 durch einen Frosch oder eine Kaulquappe, eine Million durch einen knieenden Mann.

Um eine Zahl darzustellen, schrieb man die Ziffer für die jeweilige Dezimalklasse so oft wie notwendig hin.

Dieses additive Prinzip wurde im übrigen in allen antiken Schriften verwendet.

Im 2. Jahrtausend v. Chr. erfanden die Phönizier das Alphabet. In der Folgezeit gingen sowohl Griechen als auch  Juden, Christen und Arabern dazu übert, die Zahlen durch Buchstaben ihres jeweiligen Alphabets zu bezeichnen.

Das hebräische Alphabet beruht auf einer chiffrierten Kosmogonie, die auf den Zahlen 3, 7 und 12 aufgebaut ist. Hier gibt es drei Klassen von Buchstaben und Ziffern: die drei Ur-Buchstaben, sieben Doppel-Buchstaben und zwölf einfache Buchstaben.

Die Drei ist die Zahl der Einheit, die Sieben steht für die sieben Planeten des Sonnensystems und die Zwölf für die zwölf Sternzeichen. Jeder dieser Buchstaben hat auch einen Zahlenwert - schreiben und beziffern fließen ineinander. So erhält jedes Wort einen bestimmten numerischen Wert durch die seiner Buchstabenwerte, genauso wie gewisse Wörter bestimmt werden durch die Zahl, die sich auf sie bezieht. Als Beispiel sei das Wort ,,shanah” (,Jahr‘) erwähnt, dessen Zahlenwert 355 ergibt, die Anzahl der Tage in einem Jahr.

Daraus leitet sich die Zahlenmystik in der Heiligen Schrift und in der Gematrie [hebr. gematria, die Kunst, den Zahlenwert von Wörtern zu deuten] mit zahlreichen Folgeerscheinungen ab. So ändert sich die Schreibweise der Ziffern 10 (Y), 5 (H) und 6 (W) in den Kombinationen 10 + 5 und 10 + 6 wegen des religiösen Verbotes, den Namen Gottes YAHWE zu schreiben, dessen Zahlenwert 26 ist.

Die Griechen nahmen ein sehr einfaches alphabetisches Zahlensystem an, indem sie die Einheit durch einen senkrechten Strich und die anderen Zahlen durch den ersten Buchstaben des Zahlwortes darstellten. Für Deka (10) schrieb man D und für Penta (5) schrieb man P.

Die römischen Ziffern sind ein vereinfachtes alphabetisches Zahlensystem, das nur aus sieben Buchstaben besteht. Diese erlauben keine Rechenoperationen und sind lediglich eine Kurzschrift zum Festhalten von Zahlen. Darüber hinaus ist es sehr schwierig, mit diesen Ziffern, die von einem rein additiven Prinzip herrühren, große Zahlen auszudrücken.

Die Römer erfanden schließlich für das Rechnen den Abakus, ein Gerät, das bis zum Ende der Renaissance in Gebrauch bleiben sollte - d. h. bis zur Übernahme der arabischen Ziffern, obgleich diese bereits seit dem 10. Jahrhundert im Abendland bekannt waren. Die vier

Die arabischen Ziffern sind ihrerseits ebenfalls Zahlenbuchstaben, die zu einem in Indien entwickelten Notationsprinzip gehören, das als Ursprung der modernen Zahlensysteme gelten kann.

Dieses Prinzip führte drei neue und grundsätzliche Gedanken ein:

Ziffern können abstrakte graphische Zeichen sein.
Jede Ziffer kann einen unterschiedlichen Wert haben, je nach der Position, die sie in bezug auf die anderen Ziffern einnimmt.
Die Null drückt den leeren Zahlenwert aus und zeigt die Stellen bei fehlenden Dezimaleinheiten an.
Erst dieses durch die Null definierte, stellenbezogene Dezimalsystem erlaubte es, die mit dem Abakus durchgeführten Rechenoperationen schriftlich zu vollziehen. So eröffnete das dekadische System ein unermeßliches Feld für Rechnungen von höchstem Abstraktheitsgrad.

(aus: Die Ziffern, Art Stock Fourier Verlag, Wiesbaden 1997)