Der libysche Ableger der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) erhielt schon fast zwei Monate vor dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 ein Video vom Attentäter Anis Amri. Das geht aus einem "geheim" gestempelten Dokument des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) hervor, das ZEIT ONLINE einsehen konnte.

In dem drei Seiten umfassenden Papier, das Ende Januar 2017 abgefasst wurde, referiert das BfV Kernaussagen aus einer Analyse des Anschlags durch US-amerikanische Geheimdienste. "IS LBY soll seit dem 23. Oktober 2016 im Besitz eines Videos … von Amri gewesen sein", heißt es darin. Dies könne bedeuten, "dass IS LBY zumindest seitdem wusste, dass Amri einen Anschlag durchführen will". Der Inhalt des Videos sei allerdings unbekannt.

Bisher war nur ein Video des Tunesiers Anis Amri bekannt, in dem er dem Führer des IS in Syrien, dem "Kalifen" Abu Bakr al-Baghdadi, die Treue schwor. Dieses knapp drei Minuten lange Video veröffentlichte die IS-Zentrale in Syrien am 23. Dezember 2016, also vier Tage nach dem Anschlag, über ihre Onlinekanäle. Deutsche Ermittler konnten rekonstruieren, dass dieses Video am 31. Oktober oder 1. November 2016 von Amri selbst auf einer Brücke am Moabiter Nordhafen in Berlin aufgenommen worden war – also fast sieben Wochen vor dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breidscheitplatz, bei dem Amri zwölf Menschen tötete. Bisher markierte die Entstehungszeit dieses Videos für die Ermittler damit den Moment, an dem Amri sich endgültig entschied, einen Anschlag zu begehen. Das Geheimdokument legt nahe, dass Amris Entscheidung noch früher feststand.

Es enthält auch weitere bisher unbekannte Details. So galt Amris Anschlag der IS-Zentrale in Syrien offenbar als Beglaubigungstat dafür, dass die Filiale in Libyen in der Lage ist, selbständig Anschläge im Ausland zu organisieren. Die US-Dienste zumindest gingen davon aus, "dass Kern-IS von IS LBY die Durchführung weiterer Anschläge erwartet, da man Anforderungen für die mediale Nachbearbeitung von künftigen Anschlägen aufstellte", schreibt das BfV.

Verhandlung, wer mit dem Attentat prahlen darf

In dem Papier verbirgt sich zudem die Information, dass die US-Dienste wissen, dass der IS in Libyen und die IS-Zentrale in Syrien unmittelbar im Nachgang des Anschlags in Berlin miteinander korrespondierten und Absprachen trafen. So informierte der "Medienbeauftragte" des libyschen IS, ein Mann namens "Rashid", die Zentrale des IS in Syrien "über die Rolle des IS LBY bei der Tat" und "koordinierte die öffentliche Übernahme der Verantwortung durch IS".

Bisher war zwar bekannt, dass die IS-Zentrale bereits am Abend es 20. Dezember 2016, also einen Tag nach dem Anschlag, die Verantwortung übernahm und sich im Internet bekannte — aber nicht, dass dies in Absprache mit dem libyschen IS geschah, und dieser der IS-Zentrale den Vortritt ließ, anstatt sich selbst zu bekennen.

Tatsächlich hatte Anis Amri vor seinem Anschlag ein gutes Jahr lang versucht, Kontakt zum IS aufzunehmen. Dabei wandte er sich an tunesische Dschihadisten, die er zum Teil aus seiner Heimstadt gekannt haben dürfte. Als er zu erkennen gab, dass er bereit sei, einen Anschlag zu begehen, sagten ihm die Tunesier, die zu jener Zeit zum Teil beim IS in Libyen kämpften, sie würden dafür sorgen, dass ihm ein Ansprechpartner zur Seite gestellt werden werde.

So kam es auch: Ein IS-Mann mit dem Spitznamen Moumou1 leitete Anis Amri in den Wochen vor dem Anschlag und noch am Anschlagstag selbst an. Die deutschen Ermittler sind sicher, ihn mithilfe tunesischer Behörden als den tunesischen Staatsbürger Meher D. identifiziert zu haben. Allerdings ist sein Aufenthaltsort unbekannt. Zum Zeitpunkt von Amris Anschlag hielt er sich offenbar in Libyen auf.

Libyschen IS intensiver beobachten

Wegen dieser Verbindungen war die Lesart der Ermittler bisher, dass der Anschlag im Wesentlichen ein Werk des libyschen IS-Ablegers war, der in Amris Angebot offenbar eine Gelegenheit sah, sich zu profilieren. Wie es jedoch dazu kam, dass die IS-Zentrale in Syrien sich nach dem Anschlag bekannte und vier Tage später auch das Bekennervideo Amris veröffentlichte, war bislang zumindest öffentlich unbekannt.

Das BfV-Dokument erhellt diesen Aspekt nun: Demnach fiel dem libyschen IS-Medienbeauftragten "Rashid" eine wichtige Rolle zu. Allerdings scheint "Rashid" die Zentrale in Syrien erst nach dem Anschlag eingeweiht zu haben: Die US-Dienste gingen davon aus, "dass Amris Plan nicht mit dem Kern-IS vorbesprochen wurde".

Das BfV-Dokument schließt mit der Information, dass die US-Dienste beabsichtigten, die Aktivitäten des libyschen IS intensiver aufzuklären. "Aufgrund der Annahme, dass IS LBY weitere Attentate begleiten/beauftragen könnte, könnten zukünftig auch weitere Aufklärungsmaßnahmen durch das BfV gefordert sein."