„Bei mir ist der Druck angekommen“

  • Der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Ernst-Wilhelm Gohl. Heike Lyding/epd

Missbrauch Landesbischof Gohl fordert ehrliche Auseinandersetzung mit Macht- und Verantwortung in der evangelischen Kirche. An seiner AfD-Kritik hält er fest.

Von rund 300 Missbrauchs-Betroffenen weiß die württembergische Landeskirche. Die Dunkelziffer dürfte auch im Südwesten höher sein. Was die Erkenntnisse für die Landeskirche bedeuten und warum er auf einer klaren Abgrenzung zur AfD beharrt, erläutert Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl im Gespräch.

Herr Gohl, vor zwei Wochen wurde die Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche vorgestellt. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Was leiten Sie daraus für die württembergische Landeskirche ab?

Ernst-Wilhelm Gohl: Jetzt werden die 800 Seiten gründlich analysiert und auch auf unsere bisherigen Studien und Schutzkonzepte geschaut. Die Frage ist: Was bedeutet die neue Studie für unsere Aufarbeitung, für die Prävention und die Anerkennungszahlungen für Missbrauchs-Betroffene. Auch der Blick auf die spezifischen evangelischen Faktoren ist wichtig. Wir tun oft so, als gäbe es bei uns in der evangelischen Kirche kein Machtthema, weil die Hierarchie flach ist. Doch das stimmt nicht. Wir müssen uns auch der Erkenntnis stellen, dass bei uns Macht- und Verantwortung verschleiert werden. Und zwar auf allen Ebenen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass es 14 Jahre nach der Selbstaufdeckung von Missbrauchsverbrechen am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin immer noch keine verlässlichen Zahlen aus den Landeskirchen gibt?

Ich bin bis zur Kritik der Wissenschaftler davon ausgegangen, dass wir von unserer Seite alle Informationen vereinbarungsgemäß zur Verfügung gestellt haben. Deshalb haben mich die Vorwürfe der Studien-Verantwortlichen überrascht. Dann wurde fast nur noch über Zahlen und Akten geredet. Das trifft die Missbrauchs-Betroffenen erneut. Einer von ihnen sagte mir, ich bin im Heim geschlagen worden: morgens, mittags, abends. Meinen Sie, das steht in den Akten? Deshalb ist es jetzt so wichtig, zusammen mit den Betroffenen zu überlegen, was zu tun ist.

Wann können Betroffene in der württembergischen Landeskirche mit konkreten Schritten aus der Studie rechnen?

Wir sind schon einige Jahre mit den Betroffenen im Kontakt. Viele, die in einem Kinderheim aufgewachsen sind, leben heute in prekären Verhältnissen. Nicht jeder hat im Heim eine Schulbildung bekommen. Manche mussten auf Feldern oder in der Einrichtung arbeiten. Wichtig war uns, diese Menschen sofort zu unterstützen. Wir suchten finanzielle Lösungen, die nicht von der Grundsicherung abgezogen werden können. Bisher haben wir allen Betroffenen, deren Meldung plausibel war, mindestens 20 000 Euro gezahlt. Weitere 10 000 Euro pro Person sind bei besonderen Notlagen abrufbar. Zuletzt haben wir mit Betroffenenvertretern bis zu einer EKD-weiten Regelung eine monatliche Zusatzrente von 400 Euro vereinbart.

Mit wie vielen Betroffenen sind Sie im Kontakt?

Wir gehen davon aus, dass sich nicht alle Betroffenen bei uns gemeldet haben. Kenntnis haben wir von 300 Personen. Davon kommen 168 aus dem Bereich der Diakonie. Die anderen stammen aus dem Bereich der Landeskirche. Diesen stehen im untersuchten Zeitraum (1949 bis 2020) 214 Beschuldigte gegenüber, unter ihnen 51 Pfarrer.

Wie reagierten die Kirchengemeinden auf die Studie?

Von den Gemeindemitgliedern haben wir entsetzte Rückmeldungen erhalten. Das Thema Prävention ist zwar seit Jahren an der Kirchenbasis verortet. Auch wusste man, dass es Missbrauch in der Kirche gibt. Wenn man aber das ganze Ausmaß noch einmal so konkret vermittelt bekommt, hat das eine andere Dimension.

In der katholischen Kirche gibt es Basisbewegungen wie „Wir sind Kirche“ oder „Maria 2.0“, die seit Jahren konsequent Reformen von ihrer Kirche einfordern. Haben Sie diesen Druck der Basis auch oder muss die Kirchenleitung selbst für Druck sorgen?

Solche Gruppierungen haben wir nicht. Doch ist bei mir der Druck absolut angekommen. Es muss ein Recht auf Aufarbeitung geben. Die Betroffenen müssen wissen, dass sie uns wichtig sind und dass wir ihre Aussagen ernst nehmen, auch wenn diese für uns unbequem sind. Die gründliche Aufarbeitung selbst wird dauern. Das kennen wir aus anderen Zusammenhängen, wie der Aufarbeitung der Verstrickungen während des Nationalsozialismus.

Sie haben vor kurzem für Aufsehen gesorgt, als Sie sagten, dass die AfD für Christinnen und Christen nicht wählbar sei. Wie war das Echo?

So wie es bei klaren Aussagen immer ist: kontrovers. Aus Kirchengemeinden und bei jungen Menschen habe ich viel Zustimmung erfahren. Eine Schülerin sagte mir dieser Tage, dass sie dankbar ist für die Klarstellung. Sie traue sich das nicht mehr zu sagen. Andere empfinden die Positionierung als Ermutigung nach dem Motto: Wenn es der Bischof sagt, dürfen wir es auch sagen. Natürlich stehe ich zur Parteienvielfalt. Doch wenn es gegen das Grundgesetz geht und gegen das biblische Menschenbild, dann muss man etwas sagen.

Und wie war das mit Beschimpfungen?

Manche sagten mir: Das ist doch die einzige Protestpartei. Andere schimpften über die „Systemkirche“. Ich kenne das schon. Als ich Äußerungen des AfD-Politikers Björn Höcke zum Reproduktionsverhalten schwarzer Menschen höflich, aber kritisch hinterfragte, wurde mein Zugang zum sozialen Netzwerk nach kurzer Zeit gesperrt. Inzwischen prägt Höckes rassistischer Kurs die ganze Partei. Nicht alle Wähler der AfD sind rechtsradikal. Aber man muss potenziellen Wählern klar sagen, dass sie Rassisten und Rechtsextreme wählen. Damit haben wir in unserer Geschichte katastrophale Erfahrungen gemacht.

Sie haben Ihren Einspruch bewusst nicht als politische Parteinahme formuliert, sondern begründet mit der Unvereinbarkeit mit der biblischen Botschaft.

Ich mache keine Parteipolitik. Mir geht es um die theologische Aussage. Jeder Mensch ist Gottes Geschöpf, egal wo er geboren ist. Wenn Herr Höcke Afrikaner im Reproduktionsverhalten auf die Stufen von Amöben oder Bakterien stellt, muss man ihm deutlich widersprechen. Hass, der bei Schwarzafrikanern beginnt, endet nie dort. Hass, der bei Schwulen beginnt, endet nie dort. Das Evangelium ist inklusiv. Da gehören alle dazu.

Auch die AfD erklärt, dass sie dem Lebensschutz und der Nächstenliebe verpflichtet ist. Worin besteht der Unterschied zum christlichen Menschenbild?

Das Christentum bewertet Menschen nicht nach ihrer Herkunft. Bei ihm sind alle gleich. Und dieser Grundsatz ist zentral. Da darf man sich nicht ablenken lassen. Wie sich die AfD zum Gendern stellt oder zum Paragrafen 218 ist nachrangig. Wir Kirchen stehen zum Lebensschutz und zur Selbstbestimmung der Frau. Deshalb halten wir den Paragrafen 218 für einen klugen Kompromiss.

Zur Zeit des Nationalsozialismus zeichneten sich die „Deutschen Christen“ in der evangelischen Kirche durch eine besondere Nähe zum NS-Regime aus. Gibt es ein Erbe dieser NS-Christen, das heute noch wirkt?

Das kann ich nicht sagen. Uns wird immer wieder unterstellt, dass wir staatsnahe wären. Das sehe ich nicht so. Wir in der evangelischen Kirche bilden einfach einen Querschnitt zur Bevölkerung. Der Ungeist der Deutschen Christen hat sich weitgehend erledigt, als 1933 im Berliner Sportpalast die „Entjudung des Neuen Testaments“ gefordert wurde. Da hat auch der damalige Landesbischof Theophil Wurm eine Kehrtwende vollzogen.

Sodass es nicht um Erbe geht, sondern um Verantwortung …

Und um das Lernen aus der Geschichte. Mein Großvater war bei der Bekennenden Kirche, auch wenn er etwas gebraucht hatte, das NS-Regime zu durchschauen. Große Teile der Bevölkerung waren in der Weimarer Republik verunsichert. So wie heute. Doch eine Demokratie muss damit leben, dass es auf manche Fragen keine einfachen Antworten gibt. Vorsicht ist geboten, wenn Menschen glauben machen wollen, dass es einfach geht.

Hass, der bei Schwulen beginnt, endet nie dort.“

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