In den vergangenen zwei, drei Jahren lese ich immer häufiger Artikel, in denen sich AutorInnen auf polemische Weise über Aussagen empören, die sie grundfalsch finden. Ich habe nichts gegen Polemiken – die Kolumne, in der dieser Text erscheint, steht mit guten Gründen unter der Überschrift "politisch, polemisch, poetisch". Polemiken können beispielsweise Weckrufe sein, die Protest für bis dahin übersehene Missstände mobilisieren. Oder sie können Institutionen daran erinnern, dass sie gegen Grundsätze verstoßen, denen sie eigentlich verpflichtet sind. Doch in einer Auseinandersetzung, in der es darum geht, was gesagt werden darf, läuft die Polemik Gefahr, paradoxerweise gerade jenen zum Erfolg zu verhelfen, gegen die sie sich empört.

Hella Dietz lebt in Berlin. Sie arbeitet als Soziologin und Familientherapeutin. Beide Tätigkeiten eint das Interesse daran, wie Menschen ihre Welt und ihr Leben erzählen. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". © Katrin Penschke

Auch in diesem Fall kann es noch immer gute Gründe für eine Polemik geben – wenn sie gut gemacht ist, wird sie auf mehr oder weniger unterhaltsame Weise allen ähnlich Denkenden bestätigen, was sie schon immer richtig fanden. In diesem Fall scheint es mir allerdings klüger, die Empörung erst einmal hinten anzustellen und rhetorisch abzurüsten. Das lässt sich exemplarisch an der im angelsächsischen Raum seit fast zwei Jahren mit zunehmender Vehemenz geführten Debatte um Jordan B. Peterson vorführen, dem kanadischen Professor für Psychologie, der den einen als gegenwärtig wichtigster Denker der westlichen Welt, den anderen als gefährlicher reaktionärer Verführer gilt.

Petersons Aufstieg begann damit, dass er im September 2016 auf YouTube gegen ein kanadisches Antidiskriminierungsgesetz protestierte, das ihn vermeintlich dazu zwang, genderneutrale Pronomen zu verwenden, sowie gegen seine Universität, die ihrem Lehrpersonal Anti-Bias-Trainings angekündigt hatte. Fast über Nacht wurde er zu einem landesweit bekannten Aktivisten für Redefreiheit. Zwar stellte sich schnell heraus, dass die bloße Verwendung unliebsamer Pronomen gar nicht juristisch unter Strafe gestellt wurde. Doch Petersons Kritik an einer übereifrigen Universitätsadministration, die im Bestreben, Minderheiten zu schützen, über das Ziel hinausschießt, fand bald neues Futter, als eine studentische Lehrkraft sich verantworten musste, weil sie in einem Seminar Ausschnitte einer Fernsehdebatte mit Peterson vorgeführt hatte und damit angeblich in einem Akt "transphober Gewalt" ein "toxisches Klima" für Studierende geschaffen hatte. 

Peterson sieht in solchen Vorwürfen wie auch in Minderheitenschutz und emanzipatorischer Gleichstellungspolitik Formen einer Identitätspolitik, durch die die postmoderne Linke das Fundament der westlichen Zivilisation untergraben will. Durch ihren "kulturellen Marxismus" drohe gar ein neuer Totalitarismus. Peterson, der neben seiner Universitätsprofessur seit vielen Jahren als Psychotherapeut arbeitet, will dieser Katastrophe nicht durch politische Maßnahmen oder soziologische Aufklärung vorbeugen, sondern mithilfe des psychologischen Projekts, den Einzelnen darin zu unterstützen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen – sein kürzlich erschienener Selbsthilferatgeber 12 Rules for Life ist ein Bestseller.

Die Art und Weise, wie ein Großteil der KritikerInnen in den nordamerikanischen Medien auf Peterson reagiert, ist geradezu symptomatisch für die oben geschilderten paradoxen Folgen von Polemik: Sie bezeichnen ihn als Intellektuellen der Dummen oder als Messias für Schwachköpfe. Sie empfehlen ihren LeserInnen, statt eines auf seiner Website angebotenen psychologischen Tests lieber einen Test in einer Frauenzeitschrift zu machen, und setzen sich zwar mit einzelnen Argumenten auseinander, haben sich aber bis auf wenige Ausnahmen offensichtlich nicht die Mühe gemacht, seine Bücher tatsächlich zu lesen oder mehr als eine seiner Vorlesungen anzuhören.

Ihren Höhepunkt erreichte diese polemische Auseinandersetzung, als die Journalistin Cathy Newman in einem Interview Peterson etliche Male Dinge in den Mund legte, die er so tatsächlich nicht gesagt hat. Durch solche Reaktionen sehen sich Petersons AnhängerInnen wiederum in ihrem Verdacht bestätigt, dass die liberalen Medien aus ideologischen Gründen nicht hören wollen, was Peterson zu sagen hat. Schlimmer noch: Durch jede Kritik, die es nicht für nötig hält, Argumente für ihre Verurteilung anzuführen, gewinnt seine Inszenierung als Tabubrecher an Glaubwürdigkeit – das Newman-Interview etwa wurde bislang mehr als elf Millionen Mal auf YouTube angeklickt.

Ich gebe zu, dass es auch mir beim Schreiben manchmal schwerfällt, nicht in Polemik abzugleiten. Denn es gibt Aussagen von Peterson, die eine polemische Antwort geradezu herausfordern. Etwa wenn er twittert, dass man heutzutage für die Frage gekreuzigt werde, ob Feministinnen den Islam deshalb nicht kritisieren würden, weil sie sich unbewusst nach männlicher Dominanz sehnten. Oder wenn er die Amokfahrt von Alek Minassian in Toronto mit den Worten kommentiert: "Er war wütend auf Gott, weil ihn Frauen zurückwiesen. Das Heilmittel dafür ist sozialer Zwang zur Monogamie." Doch zugleich will ich verstehen, warum sich so viele Menschen, unter ihnen auch einige meiner Freunde, für seine Ideen begeistern. Wofür genau steht Jordan B. Peterson? Und was fasziniert seine Follower an ihm?

Peterson Vorträge sind rhetorisch gut: Er spricht mit der Sicherheit von jemandem, der viel nachgedacht hat; mit dem Pathos von jemandem, der tiefe Wahrheiten aufdeckt; mit der Empörung von jemandem, der eine Mission hat. Diese Vorträge funktionieren ähnlich wie J. R. R. Tolkiens Erzählungen über den Kampf der Hobbits für die Freiheit von Mittelerde. EinsteigerInnen werden hier wie dort mit ausführlichen Schilderungen aus für sie fremden Welten konfrontiert – bei Tolkien sind es Landschaften und Geschichte von Mittelerde, bei Peterson ist es das Denken von Nietzsche, C. G. Jung und Solschenizyn, die Evolutionstheorie und Teilgebiete der Psychologie.