Tracker verraten, was mit gestohlenen Fahrrädern passiert

Ein Forscherteam hat untersucht, was mit den Rädern passiert, die in Amsterdam gestohlen werden. Landen sie alle in Osteuropa, wie es viele zu wissen glauben?

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Typisches Amsterdam-Bild: Giebelhäuser und Fahrräder.

(Bild: Jennifer Lepies)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Ein Forschungsteam des MIT Senseable Lab und der TU Delft hat den Fahrraddiebstahl in Amsterdam empirisch überprüft – und kam zu einem überraschenden Ergebnis. Wir sprachen mit den beteiligten Forschern Titus Venverloo und Fábio Duarte über die Ökonomie des Fahrradklaus.

Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, gestohlene Räder nachzuverfolgen?

Fábio Duarte: Jährlich werden zehntausende von Rädern gestohlen. Was passiert mit ihnen? Eine oft ventilierte Hypothese sagt, dass sie direkt nach Osteuropa wandern. Stimmt das? Wir wussten es nicht. Also haben wir die Stadt gebeten, uns 100 gebrauchte Räder zu geben. Die haben wir dann mit kleinen Trackern versehen und an polizeibekannten Hot Spots abgestellt. Dann mussten wir abwarten, was passiert.

Wie lange musstet Ihr warten?

Titus Venverloo: Es hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Das erste Rad hat sich schon nach zwei Tagen bewegt. Aber wir mussten ja warten, bis wir genug Daten zusammen hatten. Es hat insgesamt fünf oder sechs Monate gedauert, bis 70 Räder gestohlen waren und wir sagen konnten: Jetzt können wir die Daten auf Muster hin analysieren.

Lasst mich das noch mal klarstellen: 70 Prozent der Räder wurden gestohlen? Wie kann das sein? Welche Schlösser habt Ihr denn benutzt?

Duarte: Wir haben die meisten Räder angekettet. Aber in einigen Gegenden gibt es keine Infrastruktur, an die man Räder anschließen könnte. Da haben wir die Räder einfach mit den eingebauten Ringschlössern gesichert.

Ich nehme mal an, diese wurden zuerst gestohlen?

Venverloo: Ja. Ich lebe in Amsterdam, und ich habe mir gleich am nächsten Tag ein neues Schloss gekauft.

Ich habe den Eindruck, dass die Schlösser in Amsterdam oft teurer sind als die dazugehörigen Räder. Kann ein Fahrrad überhaupt runtergeritten genug sein, um nicht gestohlen zu werden?

Venverloo: In Amsterdam werden Räder grundsätzlich gestohlen, egal in welchem Zustand – vor allem diese generischen schwarzen Räder, die kein Mensch mehr wiedererkennen würde. Dazu kommt, dass hier offenbar auch jeder gestohlene Räder kauft. Das ist eine der interessantesten Erkenntnisse aus unserer Forschung: Die meisten gestohlenen Räder bleiben vor Ort, statt in andere Städte oder ins Ausland gebracht zu werden.

Zynisch betrachtet ist das also ein Bike-Sharing-System.

Venverloo: Ja, eine Art Kreislaufwirtschaft. Allerdings zahlen bei einem regulären Bike-Sharing-System alle Leute die gleichen Gebühren. In Amsterdam hingegen sind die Kosten sehr ungleich verteilt: Einigen Leuten wird dauernd das Rad gestohlen, anderen nur alle drei Jahre oder gar nicht.

Welche Ergebnisse haben Euch noch überrascht?

Venverloo: Auf der technischen Seite, wie gut uns die Tracker verraten konnten, was vor sich ging.

Waren das normale GPS-Tracker aus dem Regal?

Venverloo: Wir haben die Tracker aus handelsüblichen Teilen selbst gebaut, für etwa 25 Euro pro Stück. Anders als klassische GPS-Tracker benötigen sie kein Mobilfunknetz, sondern arbeiten mit dem Sigfox-Netzwerk. Sie können zwar nur sehr kleine Datenpakete übertragen, sind aber sehr energieeffizient. Normale Tracker arbeiten mit einer Batterieladung vielleicht zwei Wochen, unsere viereinhalb Jahre. Erst das hat die Studie möglich gemacht.

Wo habt Ihr die Tracker versteckt? Wenn ich ein Fahrraddieb wäre, würde ich jedes Bike erstmal nach Trackern absuchen.

Venverloo: Wir haben eine kleine Vorstudie mit Passanten gemacht und ihnen gesagt: An diesem Rad ist ein Tracker angebracht – versucht bitte, ihn zu finden. Zum Teil haben wir die Tracker unter dem Sattel angebracht und mit derselben Ledersorte abgedeckt. Zum Teil haben wir sie auch offen an den hinteren Reflektoren befestigt. Niemand hat sie entdeckt. Aber wir hatten auch etwas Glück, denn bei dieser Art von Rädern für etwa 100 Euro erwarten nicht einmal professionelle Fahrraddiebe einen Tracker, weil die normalerweise 150 bis 200 Euro kosten.

Was haben Eure Daten noch ergeben?

Venverloo: Ein interessantes Ergebnis war, dass viele Räder schon kurz nach dem Diebstahl offenbar wieder im Alltag genutzt wurden, mit regelmäßig wiederkehrenden Routen. Also wurde ein Rad entweder schon in den ersten 20 Minuten vom Dieb weiterverkauft, oder er hat es selbst benutzt. Und bei rund 30 Prozent der Räder konnten wir klare Muster erkennen – etwa, dass viele Räder kurz nach dem Diebstahl an denselben Orten auftauchten. Das ist ein Hinweis darauf, dass jemand ein System hat, wie er Räder stiehlt, wie er sie transportiert und wie er sie wieder verkauft.

Waren diese Schwarzmärkte, an denen die Räder wieder verkauft wurden, der Polizei wirklich völlig unbekannt?

Venverloo: Ich glaube, die Amsterdamer Polizei weiß genau, wo gestohlene Räder regelmäßig verkauft werden. Aber kaum jemand meldet es der Polizei, wenn ihm ein Rad gestohlen wurde. Und solange das nicht der Fall ist, liegt für die Polizei kein Vergehen vor, und sie kann nicht viel machen.

Laut Eurem Paper landen drei bis fünf Prozent der Räder auch bei Händlern. Können nicht wenigstens die besser überprüfen, ob ein Rad gestohlen wurde?

Venverloo: Nein. Sie müssen zwar die Rahmennummer checken, aber wenn ein Rad nicht als gestohlen gemeldet wurde, taucht die Rahmennummer auch nicht in einer entsprechenden Datenbank auf. Nur, wenn die Rahmennummer ausgefräst wurde, weiß der Händler: Oh, das ist suspekt.

Was ich noch nicht ganz verstanden habe, ist die Ökonomie aus Sicht der Diebe. Nach Euren Daten werden die meisten Räder ja morgens um drei gestohlen. Wenn die Räder aber so billig sind, wie kann sich die ganze Nachtarbeit dann lohnen?

Venverloo: Das habe ich mich zuerst auch gefragt. Aber wenn ich die 30 Prozent der Räder, die offenbar von gut organisierten Kriminellen gestohlen wurden, auf die schätzungsweise 80.000 jährlich in Amsterdam gestohlenen Räder hochrechne, macht es plötzlich Sinn: Wir haben hier Skaleneffekte.

Habt Ihr versucht, einzelne Räder aufzuspüren oder die Daten der Polizei übergeben?

Venverloo: Wir haben eine wissenschaftliche Studie aufgesetzt, und wer ein Rad von uns gestohlen hat, der wurde dadurch zum Teilnehmer dieser Studie. Er durfte daraus also keine negativen Konsequenzen erfahren. Das war so mit dem Ethik-Komitee abgestimmt. Aber wir haben unseren Bericht der Stadt übergeben. Sie hat beispielsweise bereits eine neue Tiefgarage für Fahrräder gebaut, direkt am Hauptbahnhof, der bei unserer Studie der Hot Spot für Fahrraddiebstähle war. Ich hoffe, dass wir unser Verhalten dadurch kollektiv etwas verbessern können – keine gestohlenen Räder mehr kaufen und sie besser abschließen.

Lassen sich Eure Ergebnisse auch auf andere Städte übertragen?

Venverloo: In vielen Städten würden wir wohl ähnliche Ergebnisse finden. Bei teureren Rädern wie E-Bikes wird es wahrscheinlich anders aussehen. Ich würde erwarten, dass diese weiter weg transportiert werden.

(grh)