«Wir bekommen Twitter-Gehirne»

Was geht verloren, wenn wir nur noch am Bildschirm statt auf Papier lesen? Die Leseforscherin Maryanne Wolf sagt: Mehr, als wir glauben.

Michaela Haas
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Maryanne Wolf ist Neurowissenschafterin und Direktorin des Zentrums für Dyslexie, Diverse Learners und Social Justice an der University of California in Los Angeles

Maryanne Wolf ist Neurowissenschafterin und Direktorin des Zentrums für Dyslexie, Diverse Learners und Social Justice an der University of California in Los Angeles

Rod W. Searcey

Maryanne Wolf, Ihre Forschung zeigt: Wir sind nicht zum Lesen geboren.

Lesen ist nicht natürlich. Für gesprochene Sprache sind wir genetisch programmiert, aber es gibt kein Lese-Gen in unserem Körper. Man kann ein Kind überall hinstecken, wo gesprochen wird, und es wird die Sprache lernen. Für Schrift dagegen braucht man einen ganz anderen Schaltkreis. Schaltkreise sind eine Art Netzwerk von neuronalen Netzen, die alle Bereiche verbinden, die für eine Funktion wichtig sind. Unser Gehirn ist in der Lage, neue Schaltkreise für neue kognitive Funktionen zu schaffen, und das hat es vor rund 6000 Jahren fürs Lesen getan. Es ist einer der wunderbarsten Schaltkreise, die wir je kreiert haben, denn er hat die Fähigkeit, sich mit allem, was wir lesen und denken, immer weiter auszudehnen und sich mit kognitiven und empathischen Prozessen zu verbinden.

Bisher dachte ich, man lerne einmal lesen und könne es dann. Sie schreiben, unser Gehirn lerne immer weiter.

Goethe sagte, er habe achtzig Jahre gebraucht, um richtig lesen zu lernen, und selbst dann sei er noch nicht am Endpunkt gewesen. Die Schaltkreise vernetzen sich immer weiter, können aber auch verkümmern. In den Neurowissenschaften gibt es eine Maxime, was das Gehirn betrifft: Use it or lose it. Nutze es oder verliere es. Dem möchte ich hinzufügen: Choose it. Ich hoffe, die Menschen verstehen, dass wir eine Wahl haben: Wir können wählen, wie wir lesen wollen. Das können wir aber nur, wenn wir wissen und verstehen, was es mit dieser Wahl auf sich hat.

Für das Lesen benutzen Sie das Bild eines Zirkus im Gehirn, in dem fünf Manegen gleichzeitig bespielt werden. Wofür stehen diese Manegen?

Sehen, Sprache, Kognition, motorische Fähigkeiten und Affekt. All die verschiedenen Bereiche in unserem Gehirn müssen auf komplexe Weise zusammenspielen, um ein einzelnes Wort zu lesen. Jeder Bereich bietet neue Informationsbruchstücke über das, was wir lesen, zum Beispiel visuelle Informationen über Buchstabenmuster. Viele Sprach- und kognitive Bereiche liefern Informationen über die Bedeutungen, wörtliche und persönliche Assoziationen oder grammatische Möglichkeiten eines Wortes. In manchen Fällen kann ein Wort wie «springen» sogar die motorischen Bereiche aktivieren, die fürs Springen zuständig sind.

Ihr neues Buch untersucht die Unterschiede, die sich ergeben, wenn wir auf Papier oder digital lesen.

In meinem vorangehenden Buch, «Das lesende Gehirn», ging es ja um die Prozesse, die beim Lesen stattfinden. Noch während ich es fertigstellte, wurde mir klar, dass sich mein Studienobjekt gerade massiv veränderte. Heute verbringen wir im Schnitt täglich elf Stunden vor einem Bildschirm.

Was macht das mit uns?

Auf einer ganz grundlegenden Ebene sammeln und entschlüsseln wir beim Lesen Information. Das ist aber nur die Basis, denn es passiert viel mehr: Je tiefer wir in einen Text eintauchen, desto stärker schult es unser kritisches Denken, auch unsere Empathie und Einsichten. Das braucht aber Zeit. Ich unterscheide zwischen zwei Arten des Lesens: dem oberflächlichen digitalen Lesen, bei dem es vor allem darum geht, möglichst schnell viele Informationen zu verarbeiten. Und dem zeitaufwendigen «tiefen» Lesen, bei dem ein kognitives Räderwerk aus Aufmerksamkeit, Gedächtnis sowie visuellen, auditorischen und sprachlichen Prozessen in Gang gesetzt wird. Beim digitalen Lesen verändern sich nicht nur die Augenbewegungen: Wir lesen den Anfang, huschen im Zickzack über den Mittelteil und lesen dann wieder den Schluss. Das digitale Lesen ist auf Geschwindigkeit geeicht.

Und was genau passiert beim tiefen Lesen?

Der Dichter T.S.Eliot fragte: «Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in der Information verloren haben?» Wenn wir tief lesen, gehen wir über die blosse Information hinaus und zapfen unser Wissen an. Wenn wir Glück haben, gehen wir über unser gespeichertes Wissen hinaus, um unsere eigene Weisheit zu entdecken. Das ist die produktivste Form des tiefen Lesens.

Sie schreiben, dass wir täglich 50000 bis 100000 Wörter lesen. Es ist offensichtlich, dass wir das nicht verarbeiten und behalten können.

Wir lesen so viel, aber es ist fragmentiert. Man kann mit dieser Menge nicht umgehen, also brauchen wir kognitive Strategien. Das Überfliegen ist die erste Strategie. Wie wir lesen, beeinflusst aber, was wir lesen, denn wir wenden uns dem zu, was am wenigsten Aufwand braucht. Wir wissen, dass Studenten immer aus den ersten und den letzten Seiten der Literatur zitieren und nur aus wenigen Stellen dazwischen. Wenn wir Google konsultieren, schauen wir die ersten Resultate an, niemand schaut auf Seite 20 nach. Wir lassen den Algorithmus über unser Wissen bestimmen. Das ist oft kein Wissen, sondern Information, die gekauft wurde oder sonst aus einem Grund populär ist. So verkümmern die Bereiche in unserem Gehirn, die für kritisches Denken zuständig sind. Wir geben den Sätzen nicht mehr unsere ganze Aufmerksamkeit. Das führt dazu, dass wir alle Twitter-Gehirne bekommen.

Gab es in Ihrem Leben eine Erfahrung, die Ihnen klar machte, wie einzigartig und wichtig Lesen ist?

Ja, in den 1970er Jahren wurde ich auf eine Art Peace Corps Mission in eine sehr ländliche und arme Gegend von Hawaii geschickt. Da gab es keine Schule, und ob die Kinder lesen lernten, hing von mir ab. Sie waren toll, absolut lernbegierig. Einigen konnte ich das Lesen beibringen, aber vielen nicht. Meine grosse Liebe zum Lesen reichte nicht aus. Viele der Kinder hatten Analphabeten als Eltern. Mein Aha-Erlebnis war: Ich sah in dem ärmlichen Dorf, was passiert, wenn man nicht lesen lernt. Wenn die Kinder Analphabeten blieben, würde das ihr Potential für den Rest ihres Lebens einschränken. Natürlich kann man später lesen lernen, aber als Kind baut man die Plattform für flüssiges Verstehen.

Das wurde Ihr persönlicher Wendepunkt?

Ich hatte gerade meine Abschlussarbeit über Rilke geschrieben und dachte, ich würde weiter vergleichende Literatur studieren. Stattdessen sagte ich nach Hawaii alles ab und bewarb mich um einen Studienplatz in Neurolinguistik. Ich hatte das Glück, im Harvard Reading Lab in Boston zu einer Zeit zu landen, in der all die grossen Denker da waren, Noam und Carol Chomsky oder der Neurologe Norman Geschwind. Seither versuche ich, alles über das Lesen zu verstehen. Wie können wir allen Kindern helfen? Wie kann ich Leuten begreiflich machen, dass diese Fähigkeit, die viele für selbstverständlich halten, eine der wichtigsten Grundlagen ist, um sich geistig weiterzuentwickeln?

Hierzulande fehlt es heute nicht am Willen, sondern an der Konzentration, oder?

Unsere Aufmerksamkeitsspanne liegt bei etwa fünf Minuten. Vor zehn Jahren waren es noch zehn.

Hat der Autor Nicholas Carr also recht mit seiner These, das Internet mache uns dumm?

Das Internet macht nicht dumm. Es verführt uns dazu, das Potential zu verschwenden, etwas tiefer zu verstehen. Ich bin kein Feind der Technik, die digitalen Medien haben viele Vorteile. Die «soziale Gerechtigkeit» im Titel meines Instituts ist mir wichtig: Lesen ist ein Menschenrecht. Eine Hälfte von mir ist ekstatisch wegen der neuen Möglichkeiten, die andere Hälfte macht sich Sorgen, wie wir diese neuen Werkzeuge nutzen. Wir müssen beide Wahrheiten im Auge behalten, damit wir nicht nur in eine Richtung rasen und die Kontrolle verlieren. Der Bildschirm eignet sich perfekt, um verschiedene Informationsebenen auf einmal zu bewältigen, er eignet sich fürs Multitasking. Das hat gute und schlechte Folgen: Ohne es zu merken, ist unsere Aufmerksamkeit immer geteilt.

Gilt das auch, wenn wir Ablenker wie E-Mail-Benachrichtigungen ausschalten?

Der psychologische Modus beim digitalen Lesen ist Geschwindigkeit: Wir wollen damit schnell zum Ende kommen. Beim Lesen von Print helfen uns räumliche Mechanismen. Wir erinnern uns, dass eine bestimmte Information im ersten Drittel des Buches auf der linken Seite ganz oben stand. Auch beim digitalen Lesen oder sogar bei Hörbüchern kann man sich an den Inhalt erinnern, aber der räumliche Hilfsmechanismus fehlt. Es ist ein Sakrileg zu glauben, dieses schnelle, oberflächliche Lesen führe zu den besten Einsichten. Ich bin genauso ein Drüberhuscher geworden wie alle anderen, aber ich habe mir angewöhnt, mir eine Frage zu stellen, bevor ich lese: Warum lese ich das? Was ist meine Absicht, mein Ziel? Wenn es mir um tiefes Lesen geht, dann drucke ich den Text aus oder markiere ihn mir für später, wenn ich mehr Zeit habe. Es ist nicht so, dass wir am Bildschirm nicht auch tief lesen könnten, aber auf dem Papier ist es einfacher.

In der sogenannten Stavanger-Erklärung haben kürzlich über 130 Wissenschafter aus ganz Europa festgestellt: Papier ist der beste Träger für Informationen, vor allem wenn man sie auch im Gedächtnis behalten will.

Sie haben eine Metaanalyse von mehr als 50 Studien gemacht, in die mehr als 171000 Menschen involviert waren, um herauszufinden: Gibt es einen Unterschied, wenn wir eine Kurzgeschichte auf dem Kindle oder auf Papier lesen? Die Personen, die auf Papier lasen, verstanden den Text besser, erinnerten sich an mehr Details und konnten den Handlungsstrang besser chronologisch nacherzählen. Wir brauchen mehr Hirnforschung, um wirklich zu verstehen, was im Gehirn vor sich geht, wenn wir digital lesen. Aber die bisherigen Studienergebnisse sind eindeutig. Ich dachte, vielleicht wäre es für die «Digital Natives» anders – also die Generation, die mit digitalen Medien aufgewachsen ist –, aber auch in dieser Altersgruppe ist Papier klar im Vorteil.

Was passiert beim digitalen Schnelllesen?

Es gibt drei Dinge, die mich beunruhigen: Erstens geht die Komplexität der Gedanken verloren, und mit der Komplexität verlieren wir auch die Empathie und das kritische Denken. Zweitens verlieren wir Schönheit. Wenn wir nur drüberhuschen, verstehen wir nicht, wie sehr der Autor damit gerungen hat, das «mot juste» zu finden, den richtigen Ausdruck. Wir verpassen die Nuancen. Das könnte man als Luxus­sorgen abtun, aber der dritte Punkt ist eine echte Gefahr für unsere Demokratie: Wir werden faul, kognitiv ungeduldig und bleiben lieber in unseren Gedankensilos, weil das weniger Zeit und Anstrengung braucht. Damit sind wir leichte Beute für falsche Ängste und trügerische Hoffnungen, und dies sind die beiden wichtigsten Werkzeuge von Demagogen. Diese Atrophie, also das Verkümmern unseres Denkens, hat Auswirkungen auf unsere Demokratie.

Digitale Medien lassen die Kritikfähigkeit schwinden?

Der Verlust des Tiefenverständnisses und analytischen Denkens ist ein Kollateralschaden unserer digitalen Kultur. Wir fühlen uns gut informiert, sind es aber nicht und wissen gar nicht, was wir nicht ­wissen.

Kann man nicht daran arbeiten, digitale Technik in diesem Sinn zu verbessern?

Ja, wir müssen mit der Technik arbeiten, um ihre Schwächen anzugehen. Wir leben im digitalen Zeitalter, also müssen wir herausfinden, wie wir Technik zum Besseren verändern. Aber solange wir das nicht gemacht haben, fordere ich, dass wir Print bewahren, vor allem für die junge Generation. Papier und Bildschirm sind keine Feinde. Ich will das eine bewahren und das andere weiterentwickeln.

Statt Technik für unser Suchtverhalten zu optimieren, wie es etwa Facebook macht, könnten wir sie so bauen, dass wir uns besser konzentrieren und erinnern.

Microsoft arbeitet zum Beispiel an einem Lerntool, das Schülern hilft, ihre Lese- und Schreibfähigkeit zu verbessern. Dabei konsultieren die Mitarbeiter von Microsoft auch Neurowissenschafter. Bitte denken Sie nicht, dass ich gegen technischen Fortschritt bin. Hier an der Wand sehen Sie Fotos von Kindern in Äthiopien. Das ist ein Projekt, bei dem wir schauen, ob Kinder mit Tablets ohne Lehrer lesen lernen können. Und ich habe selbst ein Programm kreiert, RAVE-O, das Kindern mit Leseschwäche hilft und das halb digital, halb auf Papier funktioniert.

Sind Ihre Kinder mit digitalen Medien aufgewachsen?

Beim jüngsten Sohn habe ich einen schweren Fehler gemacht: Ich habe ihm die ersten zehn Jahre das Fernsehen verboten. Als er endlich Zugang hatte, war er so fasziniert, dass er fast süchtig wurde. Jetzt ist er 29 und arbeitet bei Google an internationalen Strategien. Was für eine Ironie! Mein älterer Sohn ist 31, Legastheniker und lebt als Künstler hier in Los Angeles. Beide waren sehr wichtig für die Entwicklung meines Denkens.

Haben Sie wegen Ihres Sohnes die Leseschwäche zu einem Ihrer Kernthemen gemacht?

Nein, es war umgekehrt. Unmittelbar nach der Hawaii-Erfahrung wollte ich herausfinden, wie wir Kindern am besten das Lesen beibringen, und Legasthenie ist einfach die offensichtlichste Lernschwäche. Bei meinem Sohn stellte ich die Diagnose, als er fünf war. Ich studierte damals in Berlin als Fulbright Fellow, und wir hatten noch nicht so viele Erkenntnisse. Aber er hat mir geholfen zu verstehen, dass Onlinespiele hilfreich sein können, um lesen zu lernen, wenn sie gut gemacht sind. Gerade Kinder mit Leseschwächen können davon profitieren.

Raten Sie, Kindern digitale Medien zu verbieten?

In meiner idealen Welt hätten Kinder unter zwei Jahren keinen Zugang zu Bildschirmen. Digitale Medien bombardieren sie zu sehr mit Eindrücken, sie kidnappen ihren Aufmerksamkeitsmechanismus. Ich würde sie nicht vor ihnen verstecken, aber sie ihnen auch nicht geben. Im Alter zwischen zwei und fünf würde ich sie nach und nach einführen, aber nie als Belohnung und schon gar nicht als Babysitter-Ersatz. Ein Kollege von mir hat die Aktivierung verschiedener Gehirnregionen in drei Szenarien verglichen: wenn kleinen Kindern vorgelesen wird, wenn sie ein Hörbuch hören oder wenn sie die gleiche Geschichte als Animation sehen, etwa als Zeichentrickfilm. Das Vorlesen regte das Gehirn am meisten an. Wenn Eltern und Babysitter können, sollten sie den Kindern vorlesen. Wenn nicht, ist ein Hörbuch das Zweitbeste.

Und ab fünf Jahren?

Wir wissen, wie sehr Kinder profitieren, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Meine Hoffnung ist, dass wir das Gehirn biliteral schulen können, also Kindern sowohl das analoge als auch das digitale Lesen beibringen. Wir müssen eine neue Art von Gehirn kultivieren.

Wie kann das konkret aussehen?

Ab fünf Jahren können Kinder lernen zu programmieren. Sie können auf dem Bildschirm zum Beispiel Legos hüpfen lassen und sich so stetig digital weiterbilden. Programmieren ist etwas Kreatives und Aktives, das ist etwas ganz anderes, als sich passiv berieseln zu lassen. Das Lesen würde ich aber auf Papier einführen, und zwar so lange, bis die Fähigkeiten zum tiefen Lesen wirklich entwickelt sind, also bis etwa zum zehnten Lebensjahr. Dann könnten geschulte Lehrer die Kinder weiter ausbilden. Wie navigieren wir im digitalen Raum? Was sollten wir in Frage stellen, was akzeptieren? Im Augenblick überlassen wir die Kinder mit ihren Bildschirmen weitgehend sich selbst. Das macht sie anfällig, zu Opfern zu werden, durch Cyberbullying oder Falschinformationen. Wir beobachten schon bei Dritt- und Viertklässlern weniger Empathie als früher.

Ich habe als Kind so viel gelesen, dass meine Eltern mir verboten, mehr als ein Buch pro Tag zu verschlingen.

Kinder verstehen nicht, dass Geschwindigkeit kein Ziel ist. «Ich bin mit diesem Text schneller fertig geworden als du, also lese ich besser.» Nein, tust du nicht.

Sokrates machte sich nach der Einführung der Schriftsprache Sorgen, Junge würden glauben, die Wahrheit zu kennen, bevor sie angefangen hätten, nach ihr zu suchen.

Sie wissen nicht, was sie nicht wissen. Wir haben sie so erzogen, es ist nicht ihre Schuld. Die Philosophin Martha Nussbaum schrieb, wir alle seien Interessenbewahrer für die nächste Generation. Und dass es ein schrecklicher Verlust wäre, wenn wir alle technisch begabte Kinder erziehen würden, die nie die Weite ihres Intellekts erfahren oder nie wirklich verstehen, was in anderen vor sich geht.

Dass kritisches Denken beim digitalen Schnelllesen auf der Strecke bleibt, leuchtet ein, aber was ist der Zusammenhang mit der Empathie?

Empathie braucht Zeit. Nehmen wir eines meiner Lieblingsbeispiele, das Hemingway zugeschrieben wird. Er wurde gebeten, eine Geschichte in sechs Worten zu erzählen. Er schrieb: «For sale: baby shoes, never worn.» Der Inhalt ist leicht zu verstehen: eine Verkaufsanzeige für Babyschuhe. Aber um die empathische Tragweite dieser Geschichte zu erfassen, braucht es einige Millisekunden extra. Es kommt immer öfter vor, dass Zuhörer die emotionale Wucht erst begreifen, wenn andere aufseufzen.

Wenn ich Advocatus diaboli spielen darf: Ich habe viel zu tun, warum zum Teufel sollte ich Zeit zum tiefen Lesen aufwenden, warum sollte mich kümmern, was ein Autor fühlt oder was Hemingway mit Babyschuhen wollte?

Das ist genau die Frage: Warum lesen Sie? Was wir lesen, verändert sich dadurch, wie und warum wir lesen. Nichts hat meinem Leben mehr Sinn gegeben als das, was ich aus Büchern schöpfte. Kein Lehrer, kein Priester, kein Rabbi, kein Mönch hat mir mehr beigebracht als Bücher. Wir können uns Wissen erschliessen, dieses Wissen vertiefen, ausbauen und uns in neue Gebiete entführen lassen, die wir bisher nicht kannten. Es ist eine Frage, die sich jeder Mensch stellen sollte: Was hoffe ich zu gewinnen, wenn ich lese?

Als Forscherin sind Sie ja auch Vielleserin. Wie gehen Sie mit dem digitalen Lesen um? Drucken Sie etwa alles aus?

Irgendwann wurde mir klar: Ich bin eine sogenannte Lese-Expertin, aber was ich erforsche, passiert mir auch selbst. Als ich nach vielen Jahren versuchte, meinen geliebten Hermann Hesse wieder zu lesen, musste ich feststellen, dass ich es kaum noch konnte. Ich zwinge mich, das tiefe Lesen zu trainieren. Schauen Sie sich in meinem Büro um. Einige dieser Container sind voll mit meinem Papierarchiv, das ich mitgebracht habe. Und für mein Haus habe ich mich unter anderem wegen der eingebauten Bücherregale entschieden. Bücher helfen mir, eine Tiefenkonzentration zu erreichen und Einsichten, die ich am Bildschirm nicht bekomme. Mein erstes Buch habe ich übrigens komplett von Hand auf Papier geschrieben, das letzte noch zur Hälfte. Auch das Schreiben von Hand vertieft unser Verstehen und unser Erinnerungsvermögen.

Haben Sie einen Kindle?

O ja, darauf finden Sie – mit wenigen Ausnahmen – leichte Kost, die wenig Anstrengung kostet und die ich vielleicht im Flugzeug lese. Ich bin immer die mit dem schwersten Handgepäck, weil ich mindestens drei Bücher und dazu noch den Kindle dabeihabe. Den benutze ich vor allem für oberflächliches Lesen.

Und wann lesen Sie tief?

Ich nehme mir jeden Morgen und jeden Abend Zeit dazu. Erst meditiere ich am Morgen 20 Minuten, dann lese ich 20 bis 30 Minuten, meistens etwas Philosophisches oder Spirituelles, etwa von Theologen wie Thomas Merton oder John Dunne. Es ist eine Meditation des Lesens, die mir Disziplin und Geduld gibt. Abends nehme ich mir dann nochmals 20 bis 30 Minuten Zeit für einen richtig anspruchsvollen Roman. Er darf nur nicht so spannend sein, dass er mich nachts wachhält. Das gibt mir Ruhe und ein kognitives Glücksgefühl. Ich mache das bewusst, gerade weil ich die Auswirkungen des digitalen Lesens studiere. Damit erinnere ich mich jeden Tag, warum ich lese: um jeden Tag neue Gründe zur Dankbarkeit zu finden für unser schönes, kompliziertes Leben.

Michaela Haas ist freie Journalistin und Buchautorin; sie lebt in Los Angeles.

Zur Person

Maryanne Wolf ist Neurowissenschafterin und Direktorin des Zentrums für Dyslexie, Diverse Learners und Social Justice an der University of California in Los Angeles; zuvor war sie als Professorin an der Tufts University tätig. Sie hat unter anderem das Buch «Das lesende Gehirn» verfasst, das 2009 bei Spektrum erschienen ist. Ihr neues Werk, «Schnelles Lesen, langsames Lesen», erscheint Mitte April im Penguin-Verlag. Wolf wohnt in Los Angeles, hat zwei erwachsene Söhne und spricht ein ganz passables Deutsch: Ihre Schwiegermutter ist Schweizerin, und zwei ihrer besten Freunde leben im Kanton Freiburg.

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom April 2019 zum Thema "Die Leser". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren.