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Exklusiv-Interview

Kretschmann: „Das ist nicht Oberschwaben“

Stuttgart/Biberach / Lesedauer: 10 min

Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärt im Interview, was er von den Protesten an Aschermittwoch in Biberach hält und welche Fehler die Ampel macht.
Veröffentlicht:18.03.2024, 12:34

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Lange lief es bestens für die Grünen in Baden-Württemberg. Ministerpräsident Winfried Kretschmann führte sie dreimal in eine Landesregierung, machte sie zweimal zur stärksten Kraft. Doch in zwei Jahren tritt der heute 75-Jährige nicht mehr an, seine Partei liegt in Umfragen deutlich hinter der CDU im Südwesten und sie steht heftig in der Kritik. Was Kretschmann den Seinen rät und warum er eine der teuersten Predigten nach denen des Papstes gehalten hat.

Herr Kretschmann, Sie sagen in Interviews oft, die Grünen seien die Verbündeten der Bauern. Inwiefern?

Dass wir überhaupt offene, artenreiche Kulturlandschaften haben, ist ein Ergebnis der neolithischen Revolution: weil Jäger und Sammler sesshaft wurden und Landwirtschaft betrieben. Die industrielle Landwirtschaft brachte dieses Gefüge unter Druck, auch die Bauern selbst. Seit Jahrzehnten heißt es: wachse oder weiche! Davon ist unsere bäuerliche Landwirtschaft elementar betroffen. Deshalb sind wir Grünen eigentlich die natürlichen Verbündeten der Bauern.

Warum sehen das die wenigsten Landwirte so?

Weil viele Vorschriften aus dem Umweltbereich kommen. Es ist natürlich klar: Nitrat gehört nicht ins Grundwasser und Pestizide nicht in einen Bach. Da sind sie aber zu finden. Da muss man Maßnahmen ergreifen, egal ob als Grüner oder Schwarzer. Zudem hat sich das Verhältnis der Gesellschaft zu Tieren verändert. Wir Biologen nennen das anthropomorph. Das heißt, wir vermenschlichen Tiere. Es entstanden dadurch neue Erwartung an Landwirte für mehr Tierwohl.

Bauern sollen also nicht nur Lebensmittel für einen Markt produzieren, sondern auch die Landschaft pflegen, auf Tierwohl achten. Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU vergütet solche Leistungen zwar, aber nur als Verdienstausfall. Was wir brauchen ist ein Anreizsystem, das anerkennt, was Landwirte hier für Umwelt- und Naturschutz leisten. Ganz akut ist die Wut der Bauern durch die Ampel-Koalition in Berlin ausgelöst worden, deshalb können wir uns darüber erstmal nicht beschweren. Beschlüsse wie ein Ende der Kfz-Steuerbefreiung und des Agrardiesels einem Berufsstand über Nacht auf den Tisch zu knallen - das kann nicht gut gehen.

Diese Punkte fallen inhaltlich ins Ressort Ihres Parteifreundes Cem Özdemir. Hat er in der Ampel-Regierung nichts zu sagen, wie manche Bauern daraus schließen?

Das Ergebnis zeigt das Gegenteil: Die Kfz-Steuerbefreiung bleibt und das Ende der Agrardiesel-Subvention ist zeitlich gestreckt. Für den Tierwohlumbau hat er eine Milliarde organisiert. Außerdem hat er gerade den Weg frei gemacht, dass Landwirte, statt vier Prozent ihrer Anbauflächen stilllegen zu müssen, ökologisch und ökonomisch sinnvolle Alternativen wie Zwischenfrucht-Bepflanzung nutzen können. Weitere Entlastungen müssen folgen, wie wir auch in der Ministerpräsidentenkonferenz gerade beschlossen haben.

Viele Menschen bekennen sich in Umfragen zu mehr Tierwohl, viele unterstützen auch die Bauernproteste. Aber beim Einkauf wählen sie günstige Produkte. Auf Tierwohl zu achten, lohnt sich für Bauern also unter Umständen gar nicht. Wie lässt sich dieser Widerspruch lösen?

Der Bürger als Citoyen hat zwar eine Sympathie für regionale Produkte und schätzt die Arbeit der Landwirte. An der Theke verwandelt er sich aber schnell in den Konsumenten und greift nach dem Billigsten. Gute Lebensmittel haben aber einen Preis. Ich habe den Menschen keine Ernährungsratschläge zu machen. Ein Weg, den immer mehr Menschen ganz bewusst wählen: weniger Fleisch essen, dafür aber mehr für gutes, regionales Fleisch bezahlen. Es geht da auch um Wertschätzung für das Produkt und die Leistung, die dahinter steckt.

Kann die Politik in diesem Punkt überhaupt etwas bewirken?

Im Strategiedialog Landwirtschaft, den ich vor eineinhalb Jahren initiiert habe, versuchen wir, Erzeuger, Handel und Verbraucher zusammenzubringen. Ich hatte das mal einen neuen Gesellschaftsvertrag genannt. Das klingt vielleicht etwas hoch gegriffen, aber es sollte unser Ziel sein. Jedenfalls braucht es eine neue Verantwortungsgemeinschaft.

Wie unzufrieden Landwirte vor allem mit Ihrer Partei sind, haben sie beim politischen Aschermittwoch in Biberach gezeigt...

Wir hatten zwei Proteste in Biberach, diese Trennung ist sehr wichtig: einen angemeldeten auf dem Gigelberg. Der war auch nicht gerade so nett, aber alles war im Rahmen, Cem Özdemir hat dort geredet, sich der Kritik gestellt. Eine solche Art des Protests ist legitim und wirksam. In der Breite ist angekommen, dass wir die Anliegen der Bauern mehr in den Blick nehmen müssen. Die andere Demonstration vor der Stadthalle ist gefährlich für die Demokratie. Sie war nicht angemeldet, dort waren wohl auch einige militante Bauern, aber vor allem andere radikale Kräfte, die nicht aus der Landwirtschaft kommen. Was da passiert ist, geht gar nicht. So etwas werden wir uns auch nicht bieten lassen. Wir sind so nicht in Oberschwaben.

Sie sind dann erst gar nicht zur Stadthalle gekommen.

Als auf dem Weg zur Veranstaltung klar war, dass sie aus Sicherheitsgründen definitiv abgesagt ist, bin ich umgedreht und heimgefahren. Erst mit erheblicher Zeitverzögerung ist mir klargeworden, dass das ein unglaublicher Vorgang war. Rückblickend würde ich sagen: Wäre mir das gleich bewusst gewesen, wäre ich gerade deshalb hingefahren. Es kann nicht sein, dass ein Ministerpräsident im eigenen Land auf einer Veranstaltung nicht reden kann.

Eine Folge daraus: Innenminister Thomas Strobl will politische Veranstaltungen mit mehr Polizei schützen, gerade mit Blick auf die Europa- und Kommunalwahlen im Juni. Sie selbst hatten sich jüngst bei einer Fastenpredigt auf dem Bussen über die immense Polizeipräsenz beklagt.

Ja, das martialische Polizeiaufgebot und die Metallgitter zur Absperrung auf dem Bussen, das war eine Folge der Exzesse in Biberach. Da musste ich mich ein bisschen bei den Menschen dort entschuldigen. Wahrscheinlich war das die teuerste Predigt nach denen des Papstes.

Ein Grünen-Kandidat für die Kommunalwahl ist jüngst in Amtzell im Kreis Ravensburg angegriffen worden. Ist das das neue Normal?

Daran ist nichts normal. Neben der Tendenz, dass die Rechtsradikalen offener auftreten, gehen inzwischen auch massenweise Menschen dagegen auf die Straße. Der Staat muss und wird durchsetzen, dass Politiker ihre Aufgaben wahrnehmen können, dass niemand Angst haben muss, für ein Amt zu kandidieren oder dieses auszuführen. Ich bin da privilegiert, habe Personenschützer, aber wir können ja nicht jedem Bürgermeister Personenschützer an die Seite stellen. Alle vernünftigen Kräfte der Gesellschaft müssen das zurückdrängen, müssen zusammenstehen und sagen, der innere Frieden ist wichtig, wie der äußere.

Im Gespräch in der Bibliothek der Villa Reitzenstein (von links): Vize-Regierungssprecherin Caroline Blarr, Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die beiden Landeskorrespondentinnen der „Schwäbischen Zeitung“ Kara Ballarin und Katja Korf.
Im Gespräch in der Bibliothek der Villa Reitzenstein (von links): Vize-Regierungssprecherin Caroline Blarr, Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die beiden Landeskorrespondentinnen der „Schwäbischen Zeitung“ Kara Ballarin und Katja Korf. (Foto: Schwäbische Zeitung)

Am 22. März kehren Sie zu einer Veranstaltung nach Biberach zurück - mit ihrem Vize und Innenminister Thomas Strobl. Warum?

Der Landrat und der Oberbürgermeister haben uns nach dem politischen Aschermittwoch eingeladen, weil sie deutlich machen wollen: Das ist nicht Biberach, das ist nicht Oberschwaben. Biberach hat die zweitälteste Simultankirche des deutschen Reiches. Das heißt: Katholiken und Protestanten nutzten sie seit eh gemeinsam. Als eine von vier oberdeutschen Städten hat sie den Augsburger Religionsfrieden zwischen Katholiken und Protestanten umgesetzt. Man muss bedenken, was damals konfessionelle Unterschiede bedeutet haben. Insofern ist Biberach eine Wiege des Dialogs. Und auch die Bauernaufstände vor 500 Jahren gegen die Obrigkeiten nahmen dort einen ihrer Anfänge. Am Freitag wollen wir in Biberach diskutieren, was eine moderne Demokratie und eine Gesellschaft zusammenhält, welcher Protest legitim ist und wie der Staat mit Protest umgeht.

Weite Teile der Bürgergesellschaft sind unzufrieden mit der Politik der Ampel. Können Sie den Unmut verstehen?

Bauernproteste, der Aufstieg der Rechtsradikalen, das sind Phänomene in vielen Ländern der Welt. Es muss also tiefere Gründe geben als die Ampel. Wir leben in Zeiten großer Krisen: Klimawandel, geopolitische Verschiebungen, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die demografische Entwicklung, die den reichen Ländern des Nordens zu schaffen macht, Teuerung, Migrationsbewegungen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz wälzen die gesamte Kommunikation um, weg von einem Bringsystem von journalistisch ausgebildeten Profis hin zu einem Holsystem in den Sozialen Medien. Ein großer Unterschied dabei: In der Zeitung wird man auch mit Themen und Positionen konfrontiert, die der eigenen Meinung nicht entsprechen, in den Sozialen Medien verstärken die Algorithmen die eigene Sicht auf die Dinge.

All das verursacht einen Veränderungsdruck, der die Leute verunsichert. Dazu kommen selbstgemachte Fehler der Ampel. Bei der handwerklichen Qualität der Gesetze ist an vielen Stellen -mal diplomatisch formuliert - Luft nach oben. Wenn sich die Ampel dauernd streitet, vermittelt sie den Eindruck, nichts zustande zu bringen - was ja gar nicht stimmt. Umgekehrt: Die Ampel muss enorm viel Reformstau aufarbeiten, was unter den Vorgänger-Regierungen lange liegengeblieben war. In der Landwirtschaft etwa hat der Agrardiesel das Fass zum Überlaufen gebracht, aber bis zum Rand gefüllt haben es Regierungen davor, an denen die Grünen nicht beteiligt waren.

In ziemlich genau zwei Jahren stehen planmäßig die nächsten Landtagswahlen an - dann erstmals ohne Sie. Wen sollen die Grünen als Spitzenkandidat aufstellen? Ein hochrangiger Parteifreund von Ihnen hat mal gesagt: Wenn Özdemir nicht antritt, können wir genauso gut picknicken gehen, statt Wahlkampf zu machen. Können Sie ihm in der aktuellen Situation überhaupt zu einer Spitzenkandidatur raten?

Die Frage, wer Spitzenkandidat der Grünen wird, klären wir im Sommer, nach den Wahlen. Das Amt des Ministerpräsidenten ist eine große Herausforderung, aber eine, die sich lohnt. Man regiert ein großartiges und sehr starkes Land. Ob ich nach Kanada komme oder Japan, unser Land ist als hochinnovative Region ein Begriff, auch für sein bürgerschaftliches Engagement, für den Unternehmergeist. Dass das die ganze Welt weiß, erstaunt mich immer wieder.

Kritiker halten Ihnen nach 13 Jahren als Regierungschef eine magere Erfolgsbilanz vor. Als Beispiele dienen etwa der schleppende Ausbau der Windkraft, der Absturz der Südwest-Schüler in Bildungsrankings, der fortschreitende Flächenfraß. Können Sie sich zufrieden aufs Altenteil zurückziehen?

Wir sind beim Ausbau Erneuerbarer an dritter Stelle, erleben einen Boom bei der Photovoltaik. Es hat keinen Sinn zum 17. Mal zu erklären, woran es liegt, dass zu wenig Windräder gebaut wurden. Ich bin optimistisch, dass der Hochlauf noch in dieser Legislaturperiode sichtbar beginnt, weil nun in Bund und Land die Weichen bei Ausschreibungen und Genehmigungen gestellt sind. Die massiv gesunkene Bildungsqualität, gerade im frühkindlichen Bereich, treibt mich extrem um. Die Kritik muss ich annehmen, das können wir nicht mehr so laufen lassen. Sonst versündigen wir uns an unseren Kindern. Das gehen wir jetzt in der Koalition mit Kraft und sehr viel Geld an. Wir führen verbindliche Sprachförderung schon im Kindergarten ein und investieren massiv in die Grundschulbildung.

Seit 1980 machen Sie - mit Unterbrechungen - Landespolitik. Denken Sie manchmal an den bevorstehenden Abschied? Und wenn ja, mit welchem Gefühl?

In solch schwierigen Zeiten ist so ein Amt mitunter eine Bürde. Wir arbeiten sehr viel im Krisenmodus und müssen schauen, dass das Wichtige nicht immer hinter dem Dringlichen hintansteht. Manchmal weiß ich nicht mehr, auf welche Baustelle ich als Nächstes soll. Ich werde oft gefragt, woher ich mit 75 die Kraft nehme. Die Antwort ist einfach: aus der Verantwortung, die ich habe. In solchen Zeiten muss man dieses Amt mehr denn je ausfüllen. Deshalb denke ich jetzt nicht darüber nach, was ich mache, wenn ich aufhöre.

Noch haben Sie zwei Jahre Zeit. Was wollen Sie unbedingt noch erreichen?

Die Energiewende natürlich, und die eben angesprochenen Bildungsreformen. Das ist enorm herausfordernd. Was aber vor allem anderen steht, ist der Zusammenhalt in der Gesellschaft.