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Abgehörte EU-Vertretungen "Kernschmelze des Rechtsstaats"

Der NSA-Lauschangriff auf eine EU-Vertretung provoziert wütende Reaktionen: Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA seien gefährdet, heißt es in der CDU. Ein Grüner fordert gar eine Klage vor dem internationalen Gerichtshof.
Luxemburgs Außenminister Asselborn: "Abscheuliche Berichte"

Luxemburgs Außenminister Asselborn: "Abscheuliche Berichte"

Foto: JOHN THYS/ AFP

Hamburg - "Unerträglich", "abscheulich", "niemand ist sicher": Die neuesten Enthüllungen über die Spionageaktionen des US-Geheimdienstes NSA sorgen für wütende Reaktionen. Nach SPIEGEL-Informationen haben die Amerikaner Wanzen in der EU-Vertretung in Washington versteckt und das Computernetzwerk infiltriert. Führende EU-Politiker verurteilen das Vorgehen im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

"Wir brauchen noch genauere Informationen", sagt Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments. "Aber wenn das stimmt, ist es ein Riesenskandal", sagte der SPD-Politiker. "Dann bedeutet das eine große Belastung für die Beziehungen der EU und der USA. Wir verlangen jetzt umfassende Aufklärung."

"Wenn diese Berichte wahr sind, ist das abscheulich", sagt Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. "Hier sind offenbar die Geheimdienste außer Kontrolle geraten. Die USA sollten lieber ihre Geheimdienste überwachen statt ihre Verbündeten." Asselborn sprach von einem Vertrauensbruch: "Alles wird von den USA damit begründet, man bekämpfe den Terrorismus. Aber die EU und ihre Diplomaten sind keine Terroristen. Wir müssen jetzt von allerhöchster Stelle eine Garantie bekommen, dass das sofort aufhört."

"Das Ausspionieren hat Dimensionen angenommen, die ich von einem demokratischen Staat nicht für möglich gehalten habe", sagt Elmar Brok, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments. "Es ist unerträglich, wenn man sich unter Bündnispartnern so verhält." Die USA, die einst das Land der Freiheit gewesen seien, "stehen unter einem Sicherheitssyndrom", so der CDU-Politiker weiter. "Sie haben völlig die Verhältnismäßigkeit verlassen. George Orwell ist nichts dagegen."

"Vertrauen steht auf der Kippe"

"Es ist inakzeptabel, wenn europäische Diplomaten und Politiker in ihrem Alltag ausspioniert werden", sagt Manfred Weber, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der EVP und Sicherheitsexperte im Europaparlament. "Das Vertrauen ist erschüttert", so der CSU-Mann weiter.

Guy Verhofstadt, langjähriger belgischer Premierminister und Chef der Liberalen im Europaparlament, sagt: "Das ist absolut inakzeptabel und muss sofort gestoppt werden. Die amerikanische Datensammlungs-Manie, die öffentlich beim Swift-Abkommen zur Lieferung von Bankdaten gezeigt und bei Prism versteckt wurde, hat eine neue Stufe erreicht, indem EU-Vertreter und ihre Treffen ausspioniert werden. Unser Vertrauen steht auf der Kippe."

Grünen-Abgeordnete fordern weitreichende Konsequenzen. "Das ist die Kernschmelze des Rechtsstaats", sagt Jan Philipp Albrecht, Grünen-Abgeordneter im Europäischen Parlament. Das Vorgehen der NSA sei nichts weniger als "Spionage gegenüber demokratischen Staaten und ihren Institutionen". "Niemand ist mehr vor Überwachung sicher", empört sich der Politiker, der für das EU-Parlament die EU-Datenschutzverordnung mit aushandelt. Die EU müsse ein Verfahren vor dem internationalen Gerichtshof gegen die USA einleiten, fordert Albrecht. Die Enthüllungen verlangten "schonungslose Aufklärung".

"Freihandelsabkommen mit den USA unterbrechen"

Noch weiter geht Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Grünen im Europaparlament. "Eine einfache Protestnote reicht jetzt nicht mehr", sagt er. "Die EU muss sofort die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA unterbrechen. Wir brauchen erst einmal ein Datenschutzabkommen, damit so etwas nie wieder vorkommt. Erst dann können wir die Gespräche wieder aufnehmen."

CDU-Mann Brok geht nicht ganz so weit, sieht das Abkommen aber zumindest gefährdet. "Wie soll man noch verhandeln, wenn man Angst haben muss, dass die eigene Verhandlungsposition vorab abgehört wird?", fragt er.

Die Attacke auf Einrichtungen der EU zeigt eine weitere Ebene der Spähaktivitäten der NSA. Seit Wochen tauchen Details über Prism und weitere Überwachungsprogramme auf, die der Whistleblower Snowden zusammengetragen hat. Auch der britische Geheimdienst GCHQ führt demnach ein ähnliches Programm namens Tempora aus, mit dem weltweit Telefon- und Internetverbindungen überwacht werden.

Nach den Unterlagen, die der SPIEGEL einsehen konnte, ist auch die EU-Vertretung bei den Vereinten Nationen auf die ähnliche Weise wie jene in Washington attackiert worden. In dem NSA-Dokument vom September 2010 werden die Europäer ausdrücklich als Angriffsziel benannt.

Die USA schweigen zu den Enthüllungen des SPIEGEL. "Ich kann das nicht kommentieren", sagte der stellvertretende US-Sicherheitsberater Ben Rhodes nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa am Samstag vor Journalisten in Pretoria.