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Europa schottet sich ab. Foto: Radek Homola/ Unsplash

Am 8./9. Juni 2023 soll beim EU-Rat für Inneres eine Vorentscheidung über die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa fallen. Mit dem Gesetzespaket drohen Schutzsuchenden Grenzverfahren unter Haftbedingungen, eine Verschärfung des Dublin-Systems. Letztlich die Aushebelung des Flüchtlingsschutzes. Wir beantworten dazu die wichtigsten Fragen.

UPDATE: Beim Rat der EU-Innenminister*innen wur­de sich am 08. Juni 2023 auf eine Reform des euro­päi­schen Asyl­sys­tems geei­nigt. Mehr dazu hier.

Stand 01.06.2023

Die Reform des Euro­päi­schen Asyl­rechts geht auf eine gefähr­li­che Ziel­ge­ra­de zu. Zwi­schen den Mit­glied­staa­ten wird aktu­ell eine weit­ge­hen­de Aus­he­be­lung des Flücht­lings­schut­zes dis­ku­tiert. Ein Vor­schlag ist schlim­mer als der ande­re und ein fai­res und soli­da­ri­sches Auf­nah­me­sys­tem ist nicht in Sicht. Auch die Bun­des­re­gie­rung scheint fest ent­schlos­sen, die Reform zu einem Abschluss zu brin­gen – kos­te es, was es wolle.

Über 50 Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Wohl­fahrts­ver­bän­de, See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen und Flücht­lings­or­ga­ni­sa­tio­nen haben die am 26. April beschlos­se­nen Vor­ha­ben der Bun­des­re­gie­rung (Prio­ri­tä­ten­pa­pier genannt), die unter ande­rem Grenz­ver­fah­ren vor­se­hen und das Dub­lin-Sys­tem ver­schär­fen wol­len, stark kri­ti­siert und gefor­dert, dass es kei­ne Kom­pro­mis­se auf Kos­ten des Flücht­lings­schut­zes geben darf. In einem offe­nen Brief an die Bun­des­re­gie­rung und den Bun­des­tag stel­len über 700 Anwält*innen und Jurist*innen fest: »Wir ste­hen in die­sen Tagen vor den mas­sivs­ten Ver­schär­fun­gen des Flücht­lings­rechts seit Jahrzehnten«.

Die Ver­hand­lun­gen in Brüs­sel sind äußerst intrans­pa­rent, aber von Sta­te­watch gele­ak­te Text­fas­sun­gen (Fas­sun­gen Asyl­ver­fah­rens­ver­ord­nung (AVVO) vom 17.5.2023 und Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment­ver­ord­nung (RAMM) vom 15.05.2023) zei­gen, wie weit die Mit­glied­staa­ten gehen könn­ten und dass die Bun­des­re­gie­rung sich mit ihren Vor­schlä­gen – wie zumin­dest Kin­der aus den Grenz­ver­fah­ren aus­zu­neh­men – nicht durch­set­zen wird.

Mit der aktu­ell dis­ku­tier­ten Reform wür­de das euro­päi­sche Asyl­sys­tem fol­gen­der­ma­ßen aussehen:

  • In Euro­pa ankom­men­de Schutz­su­chen­de kön­nen in Dritt­staa­ten abge­scho­ben wer­den, die sie nie zuvor betre­ten haben – nur mini­mals­te Ver­sor­gung muss dort gewähr­leis­tet wer­den. So wird es EU-Staa­ten ermög­licht, ver­gleich­ba­re Abkom­men wie das zwi­schen Eng­land und Ruan­da zu schlie­ßen, um sich aus dem Flücht­lings­schutz zu ziehen.
  • Kin­der kön­nen in Grenz­ver­fah­ren kom­men und damit de fac­to inhaf­tiert wer­den. Wenn Schutz­su­chen­de die EU-Gren­zen unre­gis­triert über­schrei­ten und zum Bei­spiel in Deutsch­land ankom­men, wäre auch hier die Anwen­dung von Grenz­ver­fah­ren nicht aus­ge­schlos­sen. Auch für ande­re vul­nerable Men­schen gibt es kei­ne gene­rel­len Aus­nah­men vom Grenzverfahren.
  • Das Dub­lin-Sys­tem wird ver­schärft, indem Über­stel­lungs­fris­ten ver­län­gert und der Rechts­schutz ein­ge­schränkt wer­den sol­len. Wenn die Dub­lin-Über­stel­lungs­frist dann ein Jahr, anstatt wie bis­her sechs Mona­te, beträgt und bei angeb­li­chem Unter­tau­chen sogar drei Jah­re, anstatt wie bis­her 18 Mona­te, wer­den Kir­chen­asyle, die Men­schen vor rechts­wid­ri­gen oder inhu­ma­nen Abschie­bun­gen schüt­zen sol­len, kaum noch mög­lich sein.
  • »Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus«: Statt Flücht­lin­gen auf­zu­neh­men, sol­len EU-Staa­ten schlicht Geld an außer­eu­ro­päi­sche Dritt­staa­ten zur Flücht­lings­ab­wehr zah­len kön­nen. Eine ver­pflich­ten­de Auf­nah­me von Schutz­su­chen­den durch alle EU-Staa­ten ist nicht vorgesehen.
  • Die Pra­xis der Push­backs wird eher zuneh­men, denn die Ver­ant­wor­tung für die ankom­men­den Schutz­su­chen­den bleibt bei den EU-Grenz­staa­ten. Die letz­ten Dezem­ber noch unter ande­rem von Deutsch­land gestopp­ten Vor­schlä­ge zur Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung wer­den in der Kri­sen-Ver­ord­nung ver­steckt. Das bedeu­tet, dass der Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren aus­ge­he­belt wer­den kann und Push­backs als prä­ven­ti­ver Grenz­schutz legi­ti­miert werden.

Eine stim­mi­ge »Gesamt­ba­lan­ce«, wie von der Bun­des­re­gie­rung gewünscht, ist in den Ver­hand­lun­gen über­haupt nicht in Sicht, da vie­le Mit­glied­staa­ten nur für ihre eige­nen Inter­es­sen kämp­fen, die pri­mär hei­ßen: weni­ger Flücht­lin­ge. Die Bun­des­re­gie­rung darf den mas­si­ven Geset­zes­ver­schlech­te­run­gen nicht in der vagen Hoff­nung zustim­men, dass nach einer Reform EU-Staa­ten end­lich Recht ein­hal­ten wer­den. Die Regeln, die jetzt gemacht wer­den, blei­ben für Jah­re gül­tig und kön­nen von noch rech­te­ren Regie­run­gen als bis­her genutzt wer­den, um den Flücht­lings­schutz in Euro­pa de fac­to abzuschaffen.

Im Fol­gen­den wer­den die wich­tigs­ten Fra­gen rund um die Reform des Euro­päi­schen beantwortet:

In jedem Asyl­ver­fah­ren – auch in den dis­ku­tier­ten Grenz­ver­fah­ren – kann zual­ler­erst ent­schie­den wer­den, ob ein Asyl­an­trag über­haupt zuläs­sig ist. Wer über einen angeb­lich siche­ren Dritt­staat kommt, wird unab­hän­gig von den eigent­li­chen Flucht­grün­den abge­lehnt. Mit der Reform soll die­se »Vor­prü­fung« stark aus­ge­baut wer­den. Denn weil die EU aktu­ell nicht von funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tien mit guten Schutz­sys­te­men umge­ben ist, wer­den die Kri­te­ri­en gesenkt, damit unsi­che­re Staa­ten für sicher erklärt wer­den kön­nen. Beson­ders dra­ma­tisch ist eine sol­che Zuläs­sig­keits­prü­fung in den Grenz­ver­fah­ren, da in die­sen Kla­ge­mög­lich­kei­ten ein­ge­schränkt sind und recht­li­che Unter­stüt­zung nicht aus­rei­chend vor­han­den sein wird. So wer­den Abschie­bun­gen in unsi­che­re Dritt­staa­ten und (Ketten-)Abschiebungen in die Ver­fol­gung ins Her­kunfts­land mög­lich. Ein sol­cher Zurück­zug der EU aus dem inter­na­tio­na­len Flücht­lings­schutz­sys­tem wür­de glo­bal schwer­wie­gen­de Fol­gen haben. Schon jetzt wer­den 80 % der welt­wei­ten Flücht­lin­ge aus den Län­dern des glo­ba­len Südens auf­ge­nom­men – aber war­um soll­ten die noch Bedroh­te schüt­zen, wenn es selbst die EU nicht tut?

Großbritanniens Ruanda-Modell wird für einzelne EU-Staaten ermöglicht

Anders als bis­her ist nun vor­ge­se­hen, dass noch nicht ein­mal eine Ver­bin­dung der Schutz­su­chen­den zu die­sem Staat, in den sie abge­scho­ben wer­den sol­len, bestehen muss – Mit­glied­staa­ten sol­len selbst dar­über entscheiden.

»Mem­ber Sta­tes may under natio­nal law pro­vi­de for rules requi­ring a con­nec­tion bet­ween the appli­cant and the third coun­try con­cer­ned on the basis of which it would be reasonable for that per­son to go to that coun­try.« (Arti­kel 45 Absatz 2 AVVO)

Es ist also anders als bis­her kein Gebiets­kon­takt mehr nötig – der Rat will Natio­nal­staa­ten so ermög­li­chen, soge­nann­te natio­na­le Aus­la­ge­rungs­stra­te­gien zu ver­fol­gen. Die Gefahr droht zum Bei­spiel von den Regie­run­gen in Däne­mark, Öster­reich, Schwe­den und ande­ren Staa­ten. Schon 2021 hat Däne­mark ein ent­spre­chen­des Gesetz ver­ab­schie­det. Der UN-Flücht­lings­kom­mis­sar Filip­po Gran­di kom­men­tier­te wie folgt: »UNHCR wen­det sich ent­schie­den gegen Bestre­bun­gen, die dar­auf abzie­len, Asyl- und inter­na­tio­na­le Schutz­pflich­ten an ande­re Län­der zu exter­na­li­sie­ren oder aus­zu­la­gern. Sol­che Bemü­hun­gen, sich der Ver­ant­wor­tung zu ent­zie­hen, wider­spre­chen dem Text und dem Geist der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on von 1951 sowie dem Glo­ba­len Pakt für Flücht­lin­ge, in dem sich die Län­der dar­auf geei­nigt haben, die Ver­ant­wor­tung für den Flücht­lings­schutz gerech­ter zu tei­len.«

Eine Woche vor der Rats­sit­zung der EU-Innenminister*innen hat auch der öster­rei­chi­sche Innen­mi­nis­ter Kar­ner eine sol­che Aus­la­ge­rung von Asyl­ver­fah­ren nach dem UK-Ruan­da-Modell offen­siv in die Debat­te eingebracht.

Teilgebiete reichen aus – was bedeutet das in der Praxis?

Nun sol­len gene­rell Stan­dards, wann ein drit­ter Staat als sicher gilt, so auf­ge­weicht wer­den, dass angeb­lich siche­re Teil­ge­bie­te aus­rei­chen, um Men­schen in das Land abzuschieben

»The desi­gna­ti­on of a third coun­try as a safe third coun­try both at Uni­on and both at Uni­on and at natio­nal level may be made with excep­ti­ons for spe­ci­fic parts of its ter­ri­to­ry or cle­ar­ly iden­ti­fia­ble cate­go­ries of per­sons.« (Arti­kel 45 Absatz 1a AVVO)

Für Schutz­su­chen­de ist die Gefahr groß, dass Staa­ten wie Grie­chen­land oder Kroa­ti­en sol­che Optio­nen gna­den­los aus­wei­ten und nut­zen wer­den, um mög­lichst vie­le Men­schen abzu­schie­ben. Dann defi­niert zum Bei­spiel Grie­chen­land, dass die kur­di­schen Gebie­te im Irak sicher sind und kann dort­hin abschie­ben. Selbst die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on muss nicht mehr gel­ten. Die künf­tig ver­lang­ten mini­ma­len Stan­dards sind auch weit davon ent­fernt, einen mit der GFK ver­gleich­ba­ren Schutz zu gewährleisten.

Die Aus­nah­me von Teil­ge­bie­ten und Per­so­nen­grup­pen soll auch für angeb­lich »siche­re Her­kunfts­staa­ten« gel­ten (Arti­kel 47 Absatz 1a AVVO).

Vor 30 Jah­ren wur­de mit dem Asyl­kom­pro­miss das deut­sche Grund­recht auf Asyl weit­ge­hend abge­schafft. In der Pra­xis kön­nen sich kaum noch Schutz­su­chen­de auf das Grund­recht beru­fen, da sie in der Regel über einen ande­ren EU-Mit­glied­staat als »siche­ren Dritt­staat« nach Deutsch­land fliehen.

Arti­kel 16a Grundgesetz

(1) Poli­tisch Ver­folg­te genie­ßen Asylrecht.

(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht beru­fen, wer aus einem Mit­glied­staat der Euro­päi­schen Gemein­schaf­ten oder aus einem ande­ren Dritt­staat ein­reist, in dem die Anwen­dung des Abkom­mens über die Rechts­stel­lung der Flücht­lin­ge und der Kon­ven­ti­on zum Schut­ze der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten sicher­ge­stellt ist. Die Staa­ten außer­halb der Euro­päi­schen Gemein­schaf­ten, auf die die Vor­aus­set­zun­gen des Sat­zes 1 zutref­fen, wer­den durch Gesetz, das der Zustim­mung des Bun­des­ra­tes bedarf, bestimmt. In den Fäl­len des Sat­zes 1 kön­nen auf­ent­halts­be­en­den­de Maß­nah­men unab­hän­gig von einem hier­ge­gen ein­ge­leg­ten Rechts­be­helf voll­zo­gen werden.

Eine noch wei­ter gehen­de Aus­he­be­lung des Flücht­lings­schut­zes wird nun auf euro­päi­scher Ebe­ne geplant. Da um die EU her­um kei­ne für Flücht­lin­ge tat­säch­lich siche­ren Staa­ten lie­gen, sol­len die hier­für ange­wen­de­ten Kri­te­ri­en mas­siv abge­senkt wer­den. Weder müss­te die Per­son – wie im deut­schen Grund­ge­setz als Kri­te­ri­en vor­ge­se­hen – über den Dritt­staat ein­ge­reist sein, noch müs­sen die Anwen­dung der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on noch die Stan­dards des Men­schen­rechts­schut­zes der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on sicher­ge­stellt werden.

Von CDU-Chef Fried­rich Merz bis SPD-Innen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser, vie­le Politiker*innen spre­chen aktu­ell davon, dass »irre­gu­lä­re Migra­ti­on« gesteu­ert bzw. bekämpft wer­den soll. Was sie damit eigent­lich mei­nen: Flucht­we­ge sol­len ver­sperrt wer­den. Denn die meis­ten Men­schen, die von Krieg oder Ver­fol­gung bedroht sind, bekom­men kei­ne Visa, um legal ein­zu­rei­sen. Ihre Visa­an­trä­ge wer­den oft sogar mit der Begrün­dung abge­lehnt, sie wür­den ja län­ger blei­ben und einen Asyl­an­trag stel­len wol­len. Des­we­gen bleibt ihnen nur der Weg, sich selbst­stän­dig auf den Weg zu machen und sie müs­sen oft Schleu­ser bezah­len, um in Län­der zu kom­men, die ihnen dann nach der Ankunft Schutz gewäh­ren. Genau auf die­se Flucht zie­len Politiker*innen ab, wenn sie »irre­gu­lä­re Migra­ti­on« stop­pen wol­len. Man­che spre­chen sogar von »ille­ga­ler Migra­ti­on« und ver­ken­nen damit, dass Men­schen, die einen Asyl­an­trag stel­len, nicht wegen ille­ga­ler Ein­rei­se bestraft wer­den dür­fen. Denn in der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on wur­de genau die­ses Sze­na­rio der Kri­mi­na­li­sie­rung von Flucht vor­her­ge­se­hen und ent­spre­chend im Arti­kel 31 verboten.

Was häu­fig in der Debat­te auch unter­schla­gen wird: Die meis­ten der Men­schen, die es schaf­fen selbst­stän­dig nach Deutsch­land zu flie­hen, haben ein Recht auf Schutz. Das zeigt die Rekord­schutz­quo­te von 72 % im letz­ten Jahr und in die­sem Jahr (berei­nig­te Schutz­quo­te, also unter Abzug for­mel­ler Ent­schei­dun­gen zum Bei­spiel zur Zustän­dig­keit für das Asyl­ver­fah­ren). Denn mit den Haupt­her­kunfts­län­dern Syri­en, Afgha­ni­stan, Tür­kei, Iran und Irak kom­men die Men­schen aus Län­dern, wo schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, bewaff­ne­te Kon­flik­te und poli­ti­sche Ver­fol­gung dro­hen. Es ist also essen­zi­ell, dass ihnen die Flucht nicht wei­ter ver­sperrt wird. Das wür­de die Flucht eh nicht stop­pen, son­dern nur noch gefähr­li­cher und lebens­be­droh­li­cher machen.

Laut den aktu­el­len Vor­schlä­gen im Rat sol­len nur unbe­glei­te­te Kin­der von Grenz­ver­fah­ren aus­ge­nom­men wer­den, ande­re Min­der­jäh­ri­ge mit ihren Fami­li­en aber nicht (Arti­kel 41e AVVO). Das ist eine Ver­schär­fung zu den ursprüng­li­chen Vor­schlä­gen der Kom­mis­si­on. Die Grenz­ver­fah­ren wer­den wegen der Fik­ti­on der Nicht-Ein­rei­se abseh­bar nur mit Haft­be­din­gun­gen durch­setz­bar sein. Dies wird abseh­bar, aber häu­fig nicht mit indi­vi­du­el­len Haft­ent­schei­dun­gen gesche­hen, son­dern wird in der Umset­zung ein­fach so gehand­habt – Geflüch­te­te dür­fen dann ein von Sta­chel­draht umzäun­tes Lager gar nicht oder nur extrem ein­ge­schränkt ver­las­sen. So wer­den aktu­ell auf der grie­chi­schen Insel Kos Min­der­jäh­ri­ge – angeb­lich zu ihrem eige­nen Schutz – rechts­wid­rig inhaftiert.

Es reicht des­we­gen auch nicht, einen Zusatz in Arti­kel 41e Absatz 2 lit. e AVVO ein­zu­fü­gen, dass Min­der­jäh­ri­ge nicht inhaf­tiert wer­den dür­fen. Ein Fest­set­zen von Min­der­jäh­ri­gen in Haft­zen­tren an den Außen­gren­zen ver­hin­dert man nur, wenn sie von den Grenz­ver­fah­ren aus­ge­nom­men sind. 

In jedem Fall gel­ten die ver­schärf­ten Regeln für Grenz­ver­fah­ren an den deut­schen Außen­gren­zen, den Flug­hä­fen. Dar­über hin­aus besteht aber auch die Gefahr, dass die Regeln zum Grenz­ver­fah­ren so inter­pre­tiert wer­den kön­nen, dass auch Schutz­su­chen­de Men­schen, die z.B. an deut­schen Bin­nen­gren­zen auf­ge­grif­fen wer­den, in ein Grenz­ver­fah­ren müs­sen. Das hängt an der Aus­le­gung fol­gen­der For­mu­lie­rung, die laut unse­ren Infor­ma­tio­nen aus Brüs­sel im Rat noch nicht ein­deu­tig ist:

»fol­lo­wing appre­hen­si­on in con­nec­tion with an unaut­ho­ri­sed crossing of the exter­nal bor­der;« (Arti­kel 41 Absatz 1 lit. b AVVO)

Wenn ein Auf­griff an einer Bin­nen­gren­ze als »in Ver­bin­dung mit« einer nicht-erlaub­ten Ein­rei­se über eine Außen­gren­ze gese­hen wird, dann dro­hen mas­sen­haf­te Grenz­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gen auch in Bay­ern oder Brandenburg.

Das deut­sche Flug­ha­fen­ver­fah­ren wird ersetzt durch die neu­en EU-Grenz­ver­fah­ren. Wäh­rend bis­lang eine ver­hält­nis­mä­ßig klei­ne Zahl von Men­schen für maxi­mal 19 Tage im Flug­ha­fen­ver­fah­ren blei­ben darf, müs­sen wir durch die Reform mit deut­lich mehr an deut­schen Flug­hä­fen fest­ge­hal­te­nen Men­schen rech­nen – und mit drei Mona­ten auch über einen deut­lich län­ge­ren Zeit­raum. Auch aus ande­ren Mit­glied­staa­ten umver­tei­le Asyl­su­chen­den könn­ten hier ins Grenz­ver­fah­ren kom­men. Wochen­lan­ge Haft von Asyl­su­chen­den auf deut­schem Boden wäre die Kon­se­quenz. Es ist mehr als frag­lich, ob dies dann den eng gesetz­ten Stan­dards des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ent­spricht, das 1996 über das Flug­ha­fen­ver­fah­ren ent­schied (sie­he hier­zu eine aus­führ­li­che Stu­die).

Bereits jetzt wer­den Push­backs zu Tau­sen­den durch­ge­führt. Das ist ille­gal, wird trotz­dem straf­frei staat­li­cher­seits orga­ni­siert. Für die Täter-Regie­run­gen wie Grie­chen­land, Kroa­ti­en wird dies auch in Zukunft schnel­ler und bil­li­ger sein, um sich Schutz­su­chen­de zu ent­le­di­gen, als sie einem wie auch immer gear­te­ten Grenz­ver­fah­ren zuzu­füh­ren. Denn in Grenz­ver­fah­ren müs­sen mini­ma­le Rechts­stan­dards gewähr­leis­tet sein, die mit einem erheb­li­chen logis­ti­schen und finan­zi­el­len Auf­wand ein­her­ge­hen. Ins­be­son­de­re ist nicht in Aus­sicht, dass es einen ver­läss­li­chen Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus geben wird, der die Außen­grenz­staa­ten wirk­sam ent­las­ten wird – ent­spre­chend wer­den sie sich über Push­backs selbst »ent­las­ten«.

In der Reform sind zudem kei­ne wirk­sa­men Maß­nah­men gegen Push­backs vor­ge­se­hen. Ins­be­son­de­re mit der soge­nann­ten Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung und den geplan­ten Ände­run­gen im Schen­ge­ner Grenz­ko­dex wür­den Push­backs als Teil eines »prä­ven­ti­ven Grenz­schut­zes« legi­ti­miert wer­den und der Zugang zu Asyl­ver­fah­ren in der Pra­xis kom­plett ver­sperrt wer­den. Die Vor­schlä­ge zur Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­ord­nung, deren Abstim­mung im Dezem­ber 2022 schei­ter­te, wer­den abseh­bar in die soge­nann­te Kri­sen-Ver­ord­nung auf­ge­nom­men werden.

Obwohl das Dub­lin-Sys­tem nach ein­hel­li­ger Mei­nung geschei­tert ist, wird wei­ter­hin an des­sen Grund­prin­zip der Ver­ant­wor­tung des Erst­ein­rei­se­staats fest­ge­hal­ten. Durch die neu­en ver­pflich­ten­den Grenz­ver­fah­ren wer­den Auf­wand und Ver­ant­wor­tung für die Außen­grenz­staa­ten sogar abseh­bar höher als bis­her. Eine ver­gleich­ba­re Ent­las­tung von ihnen durch die Umver­tei­lung von Geflüch­te­ten ist nicht ernst­haft in der Diskussion.

Nach jet­zi­gem Stand ist nicht geplant, dass ande­re EU-Staa­ten von den EU-Grenz­staa­ten Schutz­su­chen­de über­neh­men müs­sen. Es gibt kei­nen fes­ten Ver­tei­lungs­schlüs­sel, statt­des­sen die Mög­lich­keit, »Soli­da­ri­tät« durch Geld­zah­lun­gen – auch an Dritt­staa­ten – zu leis­ten (Arti­kel 44a RAMM). Dies bedeu­tet, dass unwil­li­ge Staa­ten sich wei­ter­hin wei­gern wer­den, Schutz­su­chen­de auf­zu­neh­men und die Außen­grenz­staa­ten auf Grund des Fort­be­stehens des Dub­lin-Sys­tems wei­ter für die Ein­rei­sen­den zustän­dig blei­ben. Ungarn kann so die liby­sche Küs­ten­wa­che bezah­len, anstatt sich an einer Flücht­lings­auf­nah­me zu beteiligen.

Die neue Asyl- und Migra­ti­ons­ma­nage­ment-Ver­ord­nung sieht letzt­lich ein sogar ver­schärf­tes Dub­lin-Sys­tem vor. Ins­be­son­de­re Deutsch­land setzt sich dafür ein, dass die Dub­lin-Über­stel­lungs­fris­ten – wäh­rend derer z.B. Deutsch­land Zeit hat, eine asyl­su­chen­de Per­son nach Ita­li­en zu brin­gen und nicht das Asyl­ver­fah­ren inhalt­lich prüft – von sechs Mona­ten auf zwölf Mona­te ver­dop­pelt wer­den sol­len. Das Dub­lin-Sys­tem wird zusätz­lich ver­schärft, indem auch unbe­glei­te­te Kin­der rück­über­stellt wer­den sol­len und der Rechts­schutz ein­ge­schränkt wird (vgl. Arti­kel 15 Absatz 5, Arti­kel 33 RAMM).

Das Kir­chen­asyl ist in der Pra­xis oft not­wen­dig, um zum Bei­spiel stark trau­ma­ti­sier­te Men­schen vor einer Dub­lin-Rück­füh­rung zu schüt­zen oder eine Über­stel­lung zu ver­hin­dern, nach der die geflüch­te­te Per­son vor dem Nichts ste­hen wür­de. Wäh­rend der aktu­ell noch sechs­mo­na­ti­gen Über­stel­lungs­frist lebt die schutz­su­chen­de Per­son dann z.B. in den Gemein­de­räu­men. Den Behör­den ist dies bekannt, wes­halb sie auch laut der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts nicht als »flüch­tig« gilt. Nach Ablauf der sechs Mona­te bekommt sie dann ein rich­ti­ges Asyl­ver­fah­ren in Deutsch­land. Schon jetzt sind sechs Mona­te eine enor­me Belas­tung für die Betrof­fe­nen sowie für die Gemein­den. Eine ent­spre­chen­de Unter­stüt­zung für zwölf Mona­te durch­zu­hal­ten, wird in den wenigs­ten Fäl­len mög­lich sein.

Wenn eine Per­son als »flüch­tig« gilt, wenn sie angeb­lich dafür sorgt, dass sie nicht trans­port­fä­hig ist oder medi­zi­ni­sche Vor­ga­ben für die Rück­füh­rung nicht ein­hält, dann soll die Über­stel­lungs­frist sogar auf drei Jah­re ver­län­gert wer­den – es wur­den sogar fünf Jah­re dis­ku­tiert (vgl. Arti­kel 35 Absatz 2 RAMM).

Die bei­den EU-Co-Gesetz­ge­ber, der Rat der EU und das Euro­pa­par­la­ment, haben es sich gemein­sam zum Ziel gesetzt, die Reform des Gemein­sa­men Euro­päi­schen Asyl­sys­tems vor der nächs­ten Euro­pa­wahl abzu­schlie­ßen. Die­se wird im Juni 2024 statt­fin­den. Die Ver­hand­lun­gen sol­len des­we­gen bis Febru­ar 2024 abge­schlos­sen wer­den. Wäh­rend das Euro­pa­par­la­ment bereits im April 2023 sei­ne Posi­tio­nen zu den Vor­schlä­gen beschlos­sen hat, sind die Innenminister*innen der EU-Län­der bis­lang noch nicht so weit. Sie wol­len sich bei ihrer nächs­ten Rats­sit­zung am 8./9. Juni 2023 eini­gen. Doch wie Innen­mi­nis­te­rin Fae­ser schon andeu­tet: Es kann auch sein, dass die Ver­hand­lun­gen sich doch noch län­ger in den Som­mer hin­ein zie­hen. Dann wird es aller­dings immer knap­per mit dem letz­ten Schritt: Denn erst, wenn der Rat sei­ne Posi­ti­on gefun­den hat, kön­nen die soge­nann­ten Tri­log-Ver­hand­lun­gen mit dem Euro­pa­par­la­ment und der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on begin­nen. Da die Posi­tio­nen durch­aus aus­ein­an­der­ge­hen, könn­te auch hier die Reform noch scheitern.

(wj)