Lesekompetenz in der Grundschule : Internationale IGLU-Studie – die wichtigsten Ergebnisse

Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse lesen schlechter als noch vor fünf Jahren. Ein Viertel der Kinder erreicht beim Lesen nicht den international festgelegten Mindeststandard, der für das weitere erfolgreiche Lernen nötig wäre. Das geht aus der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2021) hervor, die am 16. Mai 2023 veröffentlicht wurde. Die internationale IGLU-Studie bestätigt damit die Befunde des nationalen IQB-Bildungstrends 2021. Das Schulportal hat die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

Kinder sitzen in der Bibliothek auf dem Boden und lesen.
IGLU-Studie 2021 bemängelt zu wenig Leseaktivitäten im Unterricht an den Grundschulen in Deutschland.
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Mit Spannung wurde der Bericht der internationalen IGLU-Studie 2021 erwartet. Für den Leistungsvergleich wurde die Lesekompetenz der Kinder in den vierten Klassen getestet. Der Testzeitraum lässt Schlüsse auf die Auswirkungen durch die Corona-Pandemie zu, aber auch ein langfristiger 20-Jahre-Trend kann aus den Ergebnissen abgelesen werden.

Insgesamt waren 65 Staaten und Regionen beteiligt. In Deutschland wurden 4.611 Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen im Frühjahr 2021 getestet. Erstmals haben die Schülerinnen und Schüler hierzulande den Test am Laptop bearbeitet. Zusätzlich zu den Lesetexten gab es Fragebögen für die Kinder, deren Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen.

Die Ergebnisse im Überblick:

  1. Lesekompetenz im internationalen Vergleich: Die Schülerinnen und Schüler der vierten Jahrgangsstufe in Deutschland liegen mit durchschnittlich 524 erreichten Punkten in der Lesekompetenz im Mittelfeld der Teilnehmerstaaten und -regionen. Singapur erreicht mit 587 Punkten den Spitzenwert, gefolgt von Hongkong und der Russischen Föderation. Unter den EU-Ländern liegen England, Finnland und Polen weit vorn. In Deutschland gibt es große Unterschiede zwischen den lesestärksten und -schwächsten Schülerinnen und Schülern. Die Leistungen weichen bis 77 Punkte voneinander ab. Damit sind die Leistungsunterschiede deutlich gestiegen, 2001 waren es 67 Punkte.
  2. Negativer 20-Jahres-Trend: Im Vergleich zum Beginn der IGLU-Untersuchungen im Jahr 2001 ist die Lesekompetenz in Deutschland um 15 Punkte gesunken. Besonders deutlich ist der Leistungsrückgang zwischen 2016 und 2021. Allerdings wurde der negative Trend bereits 2006 sichtbar. In der Gruppe der 16 Länder oder Regionen, die schon seit 2001 dabei sind, ist nur in Schweden und in den Niederlanden die Lesekompetenz noch stärker gesunken. Die größten Verbesserungen in den vergangenen 20 Jahren dagegen zeigten die Schülerinnen und Schüler in Singapur, in der Türkei und in Honkong.
  3. Verfehlter Mindeststandard: Ein Viertel der getesteten Kinder in Deutschland erreicht nicht den international festgelegten Mindeststandard beim Lesen (Kompetenzstufe III), der zum erfolgreichen Lernen nötig wäre. Dieser Anteil (25,4 Prozent) ist im Vergleich zu 2016 (18,9 Prozent) stark gestiegen. 2001 waren es 17 Prozent. Vor allem der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nur ein rudimentäres Leseverständnis (Kompetenzstufe I) aufweisen, hat sich von 2001 bis 2021 mehr als verdoppelt – von 3 Prozent auf 6,4 Prozent. „Nur rund ein Drittel des Leistungsabfalls erklärt sich durch die veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft. Wichtig ist auch, dass nicht die ausländische Herkunft maßgeblich ist. Der soziale Status – Buchbesitz, Bildungsabschluss und Berufsstatus der Eltern – und die zu Hause gesprochene Sprache erklären die Leistungsunterschiede“, sagte Nele McElvany, Studienleiterin für Deutschland, im Interview auf ZEIT Online.
  4. Soziale Herkunft und Migrationshintergrund: Die sozialen und migrationsbedingten Unterschiede bei den Lesekompetenzen sind seit 2001 kaum verändert und fallen im internationalen Vergleich besonders hoch aus. In den letzten 20 Jahren hat sich hier in Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit nichts getan. Kinder, die zu Hause manchmal oder nie Deutsch sprechen, erreichen deutlich schlechtere Leseleistungen als Kinder, die zu Hause Deutsch sprechen. Der Leistungsnachteil beträgt etwa ein Schuljahr (40 Punkte). Andere Länder zeigen, dass das nicht so sein muss. In Italien etwa liegt der Leistungsnachteil der Kinder, bei denen die Testsprache nicht zu Hause gesprochen wird, nur bei 24 Punkten, in Polen bei 13 Punkten. Ähnlich groß ist der Unterschied in Deutschland je nach sozioökonomischem Hintergrund. Der Vorsprung der Kinder aus Haushalten mit mehr als 100 Büchern beträgt 42 Punkte gegenüber jenen Kindern aus Elternhäusern mit weniger als 100 Büchern.
  5. Geschlechterunterschiede: Mädchen schneiden bei der Lesekompetenz in den meisten Teilnehmerstaaten besser ab als Jungen. In Deutschland haben die Mädchen gegenüber den Jungen einen Vorsprung von 15 Punkten. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit im Mittelfeld. Mädchen haben Vergleich zu Jungen eine höhere Lesemotivation und schätzen ihre Lesekompetenz selbst auch besser ein.
  6. Lesemotivation und Leseverhalten: Die Lesemotivation der Kinder in Deutschland ist im internationalen Vergleich relativ hoch, nimmt aber im 20-Jahre-Trend ab. Der Anteil der Kinder, die sagen, dass sie gern lesen, hat sich von 76 Prozent im Jahr 2001 auf 69,9 Prozent im Jahr 2021 verringert. 63 Prozent der Schülerinnen und Schüler lesen mindestens eine halbe Stunde täglich in ihrer Freizeit. Dieser Anteil ist im internationalen Vergleich hoch, in der EU-Vergleichsgruppe liegt er bei 54 Prozent.
  7. Leseunterricht: Die Lesezeit im Unterricht ist bei den Viertklässlerinnen und Viertklässlern mit durchschnittlich 141 Minuten pro Woche vergleichsweise gering. In den OECD-Staaten insgesamt liegt der Mittelwert bei 205 Minuten.
  8. Zufriedenheit: Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler erlebt die Schule als einen emotional positiv besetzten Ort. Die Schulzufriedenheit fiel zwischen 2011 und 2016 ab und nahm 2021 wieder zu.
  9. Nutzung digitaler Medien: Die Digitalisierung in den Grundschulen ist in Bezug auf Ausstattung und Nutzung digitaler Medien im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich. 29 Prozent der Kinder nutzen digitale Geräte mindestens einmal pro Woche während des Leseunterrichts, um Texte zu lesen. Zum Vergleich: In Norwegen, Spitzenreiter in Sachen Digitalisierung, sind es 89 Prozent. Zur individuellen Diagnostik kommen digitale Tools bei der Hälfte der Kinder in Deutschland nie zum Einsatz.
  10.  Übergang in die Sekundarstufe: Der Übergang an ein Gymnasium hängt bei gleicher Lesekompetenz und bei gleichen kognitiven Fähigkeiten stark von der sozialen Herkunft der Kinder ab. Lehrkräfte prognostizieren für Kinder aus Akademiker-Haushalten mindestens doppelt so häufig den Wechsel auf das  Gymnasium wie bei Kindern aus Arbeiterfamilien. Die Schwelle für eine Gymnasialempfehlung durch die Lehrkraft liegt bei Kindern aus Arbeiterfamilien bei 559 erreichten Punkten in der Lesekompetenz, Kinder aus Akademikerfamilien brauchen dagegen nur 510 Punkte für eine solche Prognose.

Das Autorenteam der IGLU-Studie empfiehlt für Deutschland folgende Maßnahmen:

  • Prioritätensetzung auf eine verbesserte Lesekompetenz und Erhöhung der wöchentlichen Unterrichtszeit für Leseaktivitäten
  • Qualitätsvoller Leseunterricht für alle sowie differenzierte Förderung in homogenen Kleingruppen für Kinder mit Unterstützungsbedarf
  • Individuelle Unterstützung für Kinder mit besonderem Förderbedarf
  • Systematische individuelle Diagnostik
  • Aus- und Weiterbildung der Grundschullehrkräfte im Bereich der Lese- und Sprachförderung
  • Frühe und systematische Sprachförderung im Bildungssystem von der Kita an

Reaktionen aus Politik und Verbänden

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagte angesichts der Ergebnisse: „Die IGLU-Studie zeigt, dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen, damit es mit den Leistungen unserer Kinder und Jugendlichen wieder bergauf geht.“ Gut lesen zu können, sei eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg. Stark-Watzinger verwies auf das geplante Startchancen-Programm, mit dem der Bund 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler unterstützen will. Dabei soll ein Fokus auf Grundschulen und die Stärkung der Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen liegen. Staatssekretärin Sabine Döring appellierte bei der Vorstellung der IGLU-Studie an die Länder, beim Startchancen-Programm nicht weiter auf die Verteilung der Mittel nach dem Königsteiner Schlüssel zu beharren.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) und Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) erklärte: „Die Leseförderung ist und bleibt eine der wichtigsten Maßnahmen, um Kindern und Jugendlichen einen erfolgreichen Bildungsabschluss und somit einen erfolgreichen Start in das berufliche Leben zu ermöglichen.“ Die Corona-Pandemie und eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellten die Lehrkräfte vor immer größere Herausforderungen. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK habe bereits ein Gutachten erstellt mit Empfehlungen, wie die Basiskompetenzen in der Grundschule gestärkt werden können. Für die Länder gelte es jetzt zu prüfen, welche der Maßnahmen schnellstmöglich umgesetzt werden können.

In Nordrhein-Westfalen kündigte Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU) gestern verbindliche Lesezeiten an allen Grundschulen ab dem kommenden Schuljahr an. Drei mal 20 Minuten pro Woche sollen im Rahmen der Stundentafel dafür eingeplant werden.

Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, kommentierte: „Bei den aktuellen Debatten um die IQB- und jetzt auch IGLU-Ergebnisse wird außer Acht gelassen, wie langsam sich der Betrieb nach der Corona-Pandemie erholt und wie schwerwiegend die Störung war. Was wir jetzt wirklich brauchen, ist Zeit und die Möglichkeit, Struktur zu schaffen und zu geben. Stattdessen werden weiter immer mehr Aufgaben an Schulen gegeben, sodass die effektive Lernzeit immer geringer wird.“

Die Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, sagte: „Wir müssen hier durchgängig konsequenter fördern, fordern und strenger werden! Die mangelnde Lesefähigkeit gefährdet letztlich nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe zahlreicher Menschen, sondern auch den ganzen Wirtschaftsstandort Deutschland.“ Das Problem der mangelhaften Lesefähigkeit sei schon seit Jahren bekannt, werde aber nur halbherzig angegangen.

Der Grundschulverband fordert angesichts der IGLU-Ergebnisse: Maßnahmen zur Behebung des Lehrkräftemangels sowie eine bessere personelle Ausstattung der Grundschulen, die sich am Durchschnitt vergleichbarer westlicher Industrienationen orientiert.

Mehr zur IGLU-Studie

Prof. Nele McElvany
Prof. Dr. Nele McElvany
©IFS
  • Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), international als Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS) bekannt, wird seit 2001 im Abstand von fünf Jahren von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführt.
  • An IGLU 2021 haben in Deutschland 4.611 Schülerinnen und Schüler aus 252 vierten Klassen teilgenommen. Zusätzlich wurden ihre Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen befragt. International beteiligten sich rund 400.000 Schülerinnen und Schüler aus 65 Staaten und Regionen.
  • Die wissenschaftliche Leitung für die IGLU-Studie 2021 in Deutschland liegt bei der Bildungsforscherin Nele McElvany, Leiterin des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund.