Anfang dieser Woche hat am Wiener Burgtheater ein ganz besonderes Stück begonnen. Die Premiere fand freilich nicht abends und nicht auf der Bühne des größten deutschsprachigen Sprechtheaters statt, sondern tagsüber, bei einer Ensembleversammlung. Die Ensemblevertretung hatte dazu eingeladen, ein sensibles, bereits im Herbst erstmals diskutiertes Thema zu besprechen, das weltweit für Diskussionen, Auseinandersetzungen, Bekenntnisse und – im besten Fall – für Sensibilisierung sorgt.
Ausgelöst durch die #MeToo-Bewegung haben sich Ensemblemitglieder, Techniker, Mitarbeiter des kaufmännischen Personals und anderer Abteilungen im Haus am Ring zusammengetan und sich erstmals gemeinsam über Gleichstellung, sexuelle Belästigung, Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch in Arbeitsverhältnissen ausgetauscht. Konkret über die Verhältnisse im Wiener Burgtheater – und noch konkreter über die Verhältnisse im Wiener Burgtheater in der Ära Matthias Hartmann, also zwischen 2009 und 2014.
Die Ausläuferwellen von #MeToo haben nun also "die Burg" erfasst. Dabei geht es nicht um strafbaren sexuellen Missbrauch, um strafbare Übergriffe oder überhaupt um Strafbares, sondern ums Aufzeigen des "Klimas", das unter Hartmann geherrscht habe. All das haben die Theaterleute in einem "offenen Brief" festgehalten, den bis Freitag 14 Uhr 60 Burg-Mitarbeiter unterschrieben haben (siehe unten).
Nicht um der Debatte eine weitere Stimme hinzuzufügen, wollen die Schauspieler ein neues Schlaglicht auf die Ära Hartmann werfen, sagen sie, die laufende Debatte zu Sexismus, dem Ausnützen von Abhängigkeiten habe sie vielmehr "ermutigt", erstmals miteinander offen über ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit Hartmann zu sprechen. Mit Brief und Debatte wolle man Anstoß geben zu "positiven Entwicklungen".
Machtfülle eines Intendanten
Die Belegschaft hatte oft mit Hartmann zu tun – und zwar mit Hartmann in seinen verschiedenen Rollen: Als Regisseur hat er in seiner Burg-Zeit 13-mal selbst Regie geführt und dementsprechend oft die Proben geleitet – was ihn von seinen Vorgängern unterschied. Für die Schauspieler hieß das, dass im Regiestuhl nicht etwa ein temporärer Kollege saß, sondern der Theaterchef mit all seiner Machtfülle, der Chef, der über Engagements, Arbeitsverträge und deren Beendigung bestimmt hat.
Hartmann war ab 2013 vor allem wegen des "Burgtheaterskandals" in den Schlagzeilen. Der einstige Regie-Superstar musste das Haus am Ring im März 2014 nach fünf Jahren Intendanz verlassen, nachdem ihn der damalige Kulturminister Josef Ostermayer (SPÖ) entlassen hatte. Zuvor waren finanzielle Malversationen aufgeflogen, die Ensembleversammlung sprach Hartmann 2014 das Misstrauen aus. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch wegen eines Vorwurfs gegen Hartmann, für ihn gilt die Unschuldsvermutung. Hartmanns arbeitsrechtliche Klage ist noch offen.
Die nun erhobenen Vorwürfe hätten "mit dem Finanzskandal nichts zu tun", betonen Ensemblemitglieder im Gespräch mit dem STANDARD. Warum man so lange – immerhin fast vier Jahre – gewartet habe, wird so erklärt: Unter Hartmanns Direktion sei eine "Atmosphäre der Angst und Verunsicherung" erzeugt worden. Die Gleichbehandlungsanwaltschaft ist zwar formal nicht zuständig für die Burg-Belegschaft, hat aber einige der Initiatoren beraten – und deren Schilderungen als glaubwürdig und nachvollziehbar eingeschätzt.
DER STANDARD hat einige Erzählungen, für die eidesstattliche Erklärungen der Betroffenen vorliegen, protokolliert und den Ex-Burg-Chef damit konfrontiert.
Bei einer Probe zu Elfriede Jelineks Stück Schatten, an der fast nur Frauen teilnahmen, habe er die Schauspielerinnen gefragt, ob "sie beim Oralverkehr das Sperma schlucken würden und ob das einer kalorienbewussten Ernährung widerspricht".
Hartmann dazu in seinem Antwortbrief:
Auch den Vorwurf, Hartmann habe einen dunkelhäutigen Choreografen in dessen Abwesenheit wiederholt "Tanzneger" genannt (um die Leidensfähigkeit bzgl. "Political Correctness" von Schauspielerinnen, die dies als Provokation empfanden, auszutesten), bestreitet der Regisseur gar nicht.
Hartmann meint dazu Folgendes:
Als homophob empfundene Äußerungen, die Hartmann im Beisein eines Homosexuellen bei Proben zu Schatten getätigt habe, fanden Unterzeichnerinnen des Briefes wenig amüsant. "Man wusste nie, wie man sich in solchen peinlichen Situationen verhalten sollte. Aufstehen und gehen? Schweigen? Konter geben?", fragen sie und sprechen damit das Thema der Doppelrolle Hartmanns an: hie Regisseur, da Chef über ihre Verträge. Hartmann erklärt dazu:
Auffassungsunterschiede gab es auch zum berühmten "toi, toi, toi", mit dem man am Theater Glück für die Premiere wünscht. Eine Schauspielerin, die seit 2001 im Ensemble ist, berichtet, dass das übliche Prozedere, bei dem man einander symbolisch über die Schulter spuckt, bei Hartmann eine Umarmung mit Schlag auf den Hintern gewesen sei. Etliche Schauspielerinnen bestätigten das, sie hätten das als Übergriff empfunden. Hartmann interpretiert diesen "Klaps" aber ganz anders:
Auch Hartmanns Umgang mit technischem Personal dürfte nicht gerade sanft gewesen sein, er habe die Leute regelmäßig als "Vidioten", "Trottel", "Schwachmaten" oder "Scheiß-Technik" abgekanzelt. Zum Teil könne das stimmen, sei aber den Emotionen geschuldet, sagt er:
Hartmanns Doppelfunktion als Regisseur und Direktor in Personalunion hat den Erzählungen Betroffener zufolge zu besonders konfliktbehafteten Situationen geführt. In seiner Ära wurden Einjahresverträge zur Regel, was Unsicherheiten und Ungewissheiten fürs weitere Engagement zur Folge hatte. Etliche Ensemblemitglieder berichten, dass ihr Chef Kündigungen bzw. die Nichtverlängerung von Verträgen nicht nur angedroht, sondern auch ausgesprochen habe – die er dann aber oft in Form eines "Gnadenakts" wieder zurückgenommen habe. Die Schauspieler empfanden das als Disziplinierungsmaßnahme und beklagen, dass sie so in monatelange extreme Unsicherheit versetzt worden seien. Was Hartmann nicht auf sich sitzen lässt:
So ganz alltäglich seien die Zustände in Hartmanns Wiener Theaterwelt aber nicht gewesen, meinen seine Kritiker. Auch vier Jahre nach seinem Abgang klaffen noch offene Wunden. Exmitarbeiter bezeichnen ihn als "narzisstisch", er sei "ein präpotenter, chauvinistischer Macho in einer Machtposition gewesen", meint eine, die jahrelang unter Hartmann gespielt hat. Allerdings hätten auch die "ganz Großen an der Burg" den Umgang des heute 55-jährigen Regisseurs mit seinen Schauspielern toleriert und akzeptiert, "sie konnten sich seinem Mechanismus nicht entziehen". Theater sei "totalitär und keine Demokratie", sagt sie, "an den daraus entstehenden Reibungen schärfen wir Schauspieler uns". Eine Exkollegin von ihr sieht es genau umgekehrt: Auf der Bühne sei die Zusammenarbeit immens persönlich und körperlich. "Das macht uns auch so angreifbar. Daher brauchen wir Vertrauen ineinander."
Die Polarisierung, von der Hartmann da spricht, stellt sich auch jetzt wieder ein an der Burg. Der 0ffene Brief nämlich ruft auch Kritik in der Belegschaft der Burg und bei Exmitarbeitern des Deutschen hervor. Da werde die #MeToo-Debatte als Vorwand genommen, um den Ruf des Unbequemen weiter zu beschädigen, sagen die einen. Andere meinen, die Veröffentlichung solle die rechtliche Position des Regisseurs in seinem Kampf gegen die Entlassung und um Geld schwächen.
Karin Bergmann, die Hartmann 2014 an Burg beerbt hat, kann alle Seiten nachvollziehen. Die Unterzeichner des Briefs "bringen strukturellen und verbalen Missbrauch an Theatern zur Sprache, aber auch konkrete Vorwürfe an die vergangene Direktion", sagt die Burg-Chefin. Sie respektiere diesen Schritt, verstehe aber auch die Entscheidung derer, die nicht unterschreiben und die Debatte nicht in die Medien bringen wollen. (Renate Graber, Petra Stuiber, Stefan Weiss, 2.2.2018)