Wie sein Kommissar Maigret hatte auch Georges Simenon eine grosse Schwäche fürs Rauchen von Pfeifen. (Bild: Str/Keystone)

Wie sein Kommissar Maigret hatte auch Georges Simenon eine grosse Schwäche fürs Rauchen von Pfeifen. (Bild: Str/Keystone)

Vor zwei Jahren verschwanden die Bücher von Georges Simenon aus den Läden – jetzt sind sie wieder da, so unwiderstehlich wie eh und je

Der Schöpfer von Kommissar Maigret gilt als erfolgreichster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Warum zieht der Vielschreiber immer noch so?

Claudia Mäder
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Die Weihnachtstage nahen, doch anders, als Kranzkerzen und Lichtergirlanden vorgaukeln, herrschen in dieser Zeit des Jahres nicht überall Wärme und Heiterkeit vor. Dunkle Schatten liegen auf vielen Gemütern, und manch ein Mensch blickt bang aufs Fest – denn nie prallen Ideale und Realitäten schmerzhafter aufeinander als im Dezember. Nie fühlt sich die Einsame elender als in den Tagen, da alle Welt von der Liebe redet, und nie spürt der Traurige stärker als neben vielen Geschenken, dass ihm zum wahren Glück doch etwas fehlt.

Ein Kind, zum Beispiel. Jahrelang haben sich Jules und Louise Maigret eines gewünscht, inzwischen ist klar, dass keines mehr kommt, und so sitzt das Paar am 25. Dezember allein in seiner Wohnung. Mit warmen Pantoffeln an den Füssen, einer Pfeife im Mund und einem Glas Pflaumenschnaps in der Hand könnte so ein Tag zwar ganz gemütlich sein. Aber der Autor, der diese Szene schildert, weiss viel zu viel von seinen Figuren, als dass er sie in aller Ruhe lesen und stricken lassen könnte. Immer wieder müssen die Maigrets verstohlen zum Fenster blicken und beklommen beobachten, wie drunten auf dem Boulevard Richard-Lenoir die Kinder der Nachbarn herumtollen und sich ihre neusten Spielzeuge vorführen.

Die Maigrets mögen Weltstars sein, aber sie sind auch «ein altes Ehepaar, das niemanden hatte, den es verwöhnen konnte». Und der Kommissar mag seinem Schöpfer, Georges Simenon, Unsummen in die Kasse gespült haben, aber er selber ist immer ein normaler kleiner Bürger geblieben, ein Mensch mit wohlvertrauten Ängsten und Nöten – die Erzählung «Weihnachten bei den Maigrets» zeigt das exemplarisch.

Träume und Traumata

Dieses Simenon-Buch ist eines der vielen, die derzeit in den Läden liegen. Nachdem die Titel des Belgiers 2016 aus dem Buchhandel verschwanden (s. Kasten), sind die Regale jetzt randvoll mit Werken des legendären Vielschreibers. Neben je rund zehn Maigret-Geschichten und Romanen ohne Kommissar, bestücken auch autobiografische Schriften die Schaufenster, und all die dekorierten Auslagen machen klar: Simenon ist wieder da und zieht wie eh.

Bereits in den 1930er Jahren wurde der Autor als «Phänomen» bezeichnet, und seither hat die Forschung ihr erhellendes Licht auf jeden erdenklichen Aspekt des Simenonschen Werks geworfen. Welche Bedeutung dem Cognac in seinen Büchern zukommt, ist dank fundierten Studien zu erfahren, Maigrets Verhältnis zum französischen Justizapparat kann man ergründen, und auch der Frage, wie Madame Maigret mit Essensresten umging (ihr Mann musste berufsbedingt etlichen bereits gekochten «déjeuners» fernbleiben), haben sich Simenon-Experten schon zugewandt. Doch um zu begreifen, was so viele Menschen diesen Simenon lesen lässt, gibt es nichts Besseres, als diesen Simenon einfach selber zu lesen.

Egal, in welchen der nun wieder verfügbaren Titel man sich vertieft, immer führen die Texte zurück zur Einsicht aus der Weihnachtsgeschichte: Ganz offensichtlich ist in diesen Büchern einer am Werk, der die Menschen im Innersten versteht. Man kann das banal finden, sicher, aber noch dann muss man bewundern, wie konsequent dieser Autor das Verstehen zur Methode erhebt und sein Vorgehen als Schriftsteller auf das Verfahren seiner Figuren überträgt.

In kurzen, meist kaum mehr als zehn Tage dauernden Schreibperioden versenkte sich Simenon in seine Protagonisten, durchdachte ihre Milieus, durchlief ihre Kindheit und entwarf ihre Träume und Traumata. Und in einer ebenso kurzen Ermittlungsphase tastet sich Maigret – freilich selber eine Figur mit Träumen und Traumata – dann behutsam an diese komplexen Leben heran und kommt so natürlich auch etlichen Verbrechen, vor allem aber dem Wesen der Menschen, auf die Spur.

Maigrets Nebenbuhler

Diese empathische Ermittlungstaktik war zur Zeit ihrer Entstehung etwas absolut Neues. Zwar schrieb Simenon seine ersten Verbrechergeschichten in den 1920er Jahren mitten im «goldenen Zeitalter» des Krimis. Nur hatte dieses Genre das Publikum bis dahin mit Actionstoffen, Rätselaufgaben und Heldenfiguren unterhalten: Zumeist traten die Detektive wie etwa Sherlock Holmes als schlaue Genies auf und amtierten, wie Siegfried Kracauer bemerkte, als säkularisierte Priester – immer bemüht, Gut und Böse zu scheiden und eine aus den Fugen geratene Welt wieder rudimentär zu ordnen.

Ein Kommissar, der am liebsten im Pyjama bei seiner Ehefrau sitzt, ein Beamter, der während der Verhöre Sandwiches isst und sich zwischen zwei Schlucken Bier von seiner Intuition leiten lässt, ein Kleinbürger, der in einer vollkommen kontingenten Welt operiert und nichts zu ihrer Verbesserung beitragen mag, sondern nur ihr elementares Chaos verstehen will – eine solch farblose Figur musste seinerzeit suspekt erscheinen. Folglich traute ihr die Buchwelt nicht viel zu: «Nous allons à la catastrophe», prophezeite der Verleger Fayard, bevor er 1931 die ersten Maigret-Romane herausgab.

Georges Simenon, fotografiert am 11. November 1981. (Bild: Str/KEYSTONE)

Georges Simenon, fotografiert am 11. November 1981. (Bild: Str/KEYSTONE)

Auch der Autor selber glaubte nicht rundweg an einen Erfolg. Das legt ein besonderes Buch der neuen Simenon-Ausgabe nahe: Im Erzählband «Das Rätsel der Maria Galanda» ermittelt anstatt Maigret ein gewisser «G7», ein «wohlerzogener, etwas schüchterner junger Mann», der hier in vier erstmals ins Deutsche übersetzten Geschichten diversen Mordfällen nachgeht. Das wäre im Prinzip nichts Nennenswertes, schliesslich hat Simenon in seiner frühen Karriere als Groschenromanschreiber über ein Dutzend Detektive erfunden. Aber während die meisten wieder verschwanden, hielt sich der 1929 eingeführte G7 erstaunlich hartnäckig.

Noch 1931, als die Maigret-Maschinerie schon angelaufen war, verwickelte Simenon diesen anderen Kommissar in mehrere Geschichten – offensichtlich, um neben Maigret ein «zweites Eisen im Feuer» zu haben, wie Daniel Kampa im Nachwort zu dem neuen Band annimmt. Tatsächlich hat der Autor mit G7 sein Kommissaren-Spektrum für den Fall der Fälle erheblich erweitert: Der junge Mann wendet zwar eine ähnlich hermeneutische Methode an wie der alte Maigret, im Unterschied zu diesem setzt er aber wie viele erfolgreiche Detektive auf einen Gehilfen, er zeigt sich interessiert an Abenteuern und Frauen – und kündigt wegen einer Liebschaft sogar seine Stelle bei der Polizei.

Die Wut der kleinen Leute

Maigret dagegen bleibt bis zu seiner Pensionierung Beamter und seiner Frau genauso treu wie seinem Büro am Quai des Orfèvres 36 und seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir 132. Dass diese Biedermeierei die Leser der krisengeschüttelten 1930er Jahre faszinierte – schon bis 1939 sind die Bücher des Belgiers in 18 Sprachen übersetzt worden –, könnte einen irritieren. Aber wieder darf man sich den Erfolg wohl mit Simenons Gespür für den Menschen erklären.

Einerseits kann heute jedermann problemlos nachvollziehen, dass die Leute in wechselhaften Zeiten nach Geschichten gieren, die von Beständigem erzählen. Andererseits aber ist Simenon nicht der ahistorische und oberflächliche Schreiber, als den man ihn gerne abtut. Seine Bücher mögen in heimeligen Kleinbürgerhäusern spielen, immer jedoch drehen sie sich um Leute, die die Härte der Zeit mit voller Wucht spüren, in Armut oder Wahnsinn stürzen und mit prekären Lagen hadern.

Besonders deutlich sind solche gesellschaftlichen Prozesse in den Non-Maigret-Romanen ausgestaltet. Auch in diesen Büchern, die Simenon ab 1932 verfasste, geschehen oft Verbrechen. Ihre Aufklärung aber interessiert nur am Rand, denn im Zentrum steht jeweils ein Mensch, der seinen Platz sucht in einem sozialen Gefüge, das gelegentlich auch gewaltsam aufbricht: Plötzlich können dann Scharen von wirtschaftlich abgehängten Franzosen zum wütenden Protest zusammenkommen und Pflastersteine auf die Läden von eilig identifizierten Sündenböcken werfen.

Im neu übersetzten Roman «Chez Krull» treffen die Geschosse der kleinen Leute eine seit Jahrzehnten in Frankreich ansässige, aber nie richtig akzeptierte deutsche Familie. Simenon hat das Buch im Sommer 1938 geschrieben, und man kann es als gespenstisches Fanal lesen für das, was wenige Monate später den Juden in Deutschland passierte. Man darf die Passage im Herbst 2018 aber auch als beunruhigenden Kommentar zur Tagesaktualität auffassen – wie schnell latenter Unmut in Gewalt umschlägt, zeigt Frankreich derzeit jedes Wochenende.

Gewisse Dinge scheinen sich niemals zu ändern, und in dieser Hinsicht ist Simenons Blick auf uns Menschen schlicht zum Verzweifeln. Doch auf andere Weise hat das Ewiggleiche auch sein Gutes: Wer irgendeinen Simenon in die Hand nimmt, findet sich darin nicht nur sofort zurecht, sondern fühlt sich in jedem Buch auch gleich ein bisschen daheim.

Simenon in der Schweiz

cmd. · 40 Jahre lang sind die Bücher von Georges Simenon in unverkennbarer Aufmachung beim Diogenes-Verlag erschienen, nun tragen sie ein neues Gewand. 2016 hat Simenons Sohn John entschieden, den Vertrag mit Diogenes nicht zu verlängern und die Rechte für die deutschsprachige Ausgabe dem neu gegründeten Kampa-Verlag zu übertragen. Geleitet von Daniel Kampa, bringt dieser in den nächsten Jahren sukzessive alle 75 Maigret-Romane (dazu 28 Maigret-Erzählungen), die 117 Romane ohne Maigret und die autobiografischen Schriften von Simenon neu heraus. Geplant ist mittelfristig aber noch einiges mehr, denn in Simenons Nachlass schlummern diverse Schätze – Korrespondenzen mit Filmgrössen wie Jean Renoir oder François Truffaut zum Beispiel.

Während der Grossteil dieses Materials in Simenons Geburtsstadt Liège lagert, befinden sich einige Stücke auch in Lausanne, dem letzten Wohnort des weltläufigen Schriftstellers. 1903 geboren und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, zog Simenon 1922 nach Paris, wo er sich mit Unmengen an trivialliterarischen Erzählungen den Ruf eines phänomenalen Vielschreibers erwarb. Zu Beginn der 1930er Jahre gelang ihm mit den ersten Maigret-Romanen der Durchbruch bei einem etablierten Verlag, und mit bis heute geschätzten 500 Millionen verkauften Büchern gilt Simenon als einer der meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts. Das Stigma des Trivialen aber wurde er nie ganz los.

Nach dem Krieg übersiedelte Simenon zunächst in die USA, ehe er 1955 nach Frankreich zurückkehrte und sich 1957 schliesslich in der Schweiz niederliess. Mit diesem Schritt habe sein Vater einen Schlussstrich unter das mondäne Leben ziehen und seinen Kindern einen normalen Alltag ermöglichen wollen, sagte John Simenon im Gespräch. Der 69-Jährige lebt heute wieder in Lausanne und verwaltet von dort aus das Erbe des Vaters. Dieser freilich ist auch in der Schweiz rastlos geblieben; er zog im Waadtland mehrmals um und schrieb weiterhin viel, bis er 1972 die Berufsbezeichnung «Schriftsteller» offiziell ablegte – und bis zu seinem Tod im Jahr 1989 nur noch Texte diktierte.