«Ich habe mich mehr geöffnet»

Den Druck vor der WM in Brasilien spürt der Schweizer Nationaltrainer bereits jetzt. Doch Ottmar Hitzfeld ist am Ende seiner langen Laufbahn lockerer geworden, wie er im Gespräch sagt.

Interview: Michele Coviello, Stephan Ramming
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Ottmar Hitzfeld nimmt's lockerer und will an der WM in Brasilien die Schweizer Fussballer nicht abschotten. (Bild: keystone)

Ottmar Hitzfeld nimmt's lockerer und will an der WM in Brasilien die Schweizer Fussballer nicht abschotten. (Bild: keystone)

Ottmar Hitzfeld, erinnern Sie sich an den 1. Juni 1983?

Da muss ich nachdenken. War ich schon Trainer in Zug? Eher nicht. Geht es um mein letztes Spiel im FC Luzern?

Genau. Luzern - Wettingen. 44. Minute: Hitzfeld 1:0. 45. Risi 2:0. 4400 Zuschauer auf der Allmend, am Schluss gab es einen Blumenstrauss für Sie.

Ein schönes Ende meiner Karriere als Spieler.

Und was war am 17. Mai 2008?

Das ist klar – mein Abschied als Klub-Trainer beim FC Bayern München. Wir hatten das Double gewonnen.

Nach der WM endet auch Ihre Karriere als Nationaltrainer. Als Spieler, als Klubtrainer wie als Nationalcoach haben Sie stets selber bestimmt, wann Sie aufhören.

Es ist ein Privileg, wenn man das kann. Es war verlockend, nochmals mit dem Schweizer Nationalteam zu verlängern, weil das Team jung ist und Potenzial hat.

Warum haben Sie widerstanden?

Im Januar werde ich 65. Wer weiss, was in drei Jahren ist? Wie steht es um die Gesundheit, wie wirke ich? Man sagt, man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Der Spruch besitzt schon eine Wahrheit. Wir sind erfolgreich, das Team steht, und ich kann dem Nachfolger eine gute Mannschaft übergeben, auch das ist ein Privileg.

Ihr Berufsleben drehte sich stets um Sieg und Niederlage, Schwarz oder Weiss. Das richtige Leben besteht aber vor allem aus dem dazwischen – aus Grautönen. Freuen Sie sich darauf, dass mit 65 das richtige Leben beginnt? Oder fürchten Sie es auch ein wenig?

Ich habe diese Erfahrung schon gemacht. 2004 dachte ich eigentlich, als Trainer aufzuhören. Ich zog mich nach Engelberg zurück und lernte, dass ich ohne den Stress gut leben kann.

Jetzt stehen Sie wieder vor dem Gericht der Resultate.

Der Druck ist immer da, auch im Unterbewusstsein. Sobald ich an Brasilien denke, ist er da – jetzt schon. Es gibt eine Erwartungshaltung und vielleicht auch Frust, falls man nicht erfolgreich sein sollte. Man hat immer Verantwortung, und ein Stück davon abzugeben, wird sicher die Lebensqualität erhöhen.

Ein Trainer muss sich immer wieder häuten. War der Umbau des Nationalteams nach dem Rücktritt von Frei und Streller ein solcher Prozess, in dem Sie sich neu justiert haben?

Nicht zwingend. Ich habe schon bei Dortmund die jungen Spieler Ricken und Tanko eingesetzt, als wir 1995 Meister wurden. Oder Schweinsteiger, ihn liess ich als 18-Jährigen spielen. Ich habe immer auf junge Spieler gesetzt, wenn die Qualität da war. 2011 hatte ich das Glück, dass Talente da waren.

Man kann also nicht sagen, dass Sie damals Neues gelernt haben?

Mir hat vor allem meine Erfahrung geholfen.

Brauchte es Mut zum Wechsel?

Für mich war es eigentlich logisch, dass wir etwas verändern mussten. Als Frei und Streller mir ihren Rücktritt mitteilten, habe ich nicht versucht, sie umzustimmen. Das hätte keinen Sinn gehabt. Es stellte sich dann die Frage: Setzen wir auf erfahrene oder auf junge Spieler? Ich hatte mit jungen Spielern gute Erfahrungen gemacht. Sie werden oft unterschätzt. Man sagt, es brauche Erfahrung. Ich sage: Es braucht die Mischung. Die haben wir jetzt im Nationalteam, mit guten jungen Spielern, die die Welt erobern wollen, unverbraucht sind und Träume verwirklichen wollen. Und wir haben erfahrene Spieler.

Sie haben viele Spielergenerationen erlebt. Sie selber haben noch beim FCB-Trainer Benthaus angerufen und mit Herzklopfen um ein Probetraining gebeten. Heute erledigt das der Manager.

Die Mentalität und die Lebenseinstellung sind heute ganz anders.

Und wie schaffen Sie es, die jungen Menschen von heute zu verstehen?

Für mich war der Mensch, das persönliche Verhältnis zum Spieler immer besonders wichtig. Spieler sind nicht Nummern. Bei den Aufstellungen überlege ich mir immer auch psychologische Aspekte, nicht nur die sportlichen. Manchmal ist es beispielsweise wichtig, den individuell stärkeren Spieler auf der Bank zu lassen und den Teamplayer einzusetzen. Es ist ein Privileg, mit jungen Spielern zusammenzuarbeiten, mit neuen Ansichten. Man versetzt sich in sie hinein, passt sich an. Ich führe viele Einzelgespräche. Granit Xhaka beispielsweise war vor dem England-Spiel im Juni 2011 noch Ersatz in Basel. Ich fragte ihn, ob er sich den Einsatz im Wembley zutraut. Er antwortete: «Wieso nicht? Ich pack das doch!» Das war eine gute Erfahrung. Ich hätte Herzklopfen gehabt. Die Jungen sind reifer und selbstbewusster. Man muss ihnen vielleicht Grenzen aufzeigen, aber das ist mir lieber als Spieler, die zu zurückhaltend sind. Es ist spannend, mit der neuen Generation zurechtzukommen.

In München wurden sie «der General» genannt. So wirkten Sie lange auch als Nationaltrainer.

Das stimmt wohl. Die Erwartungshaltung in der Schweiz war zu Beginn riesig. Mein Führungsstil war ein wenig härter. Man hat bei Bayern Spieler aus der ganzen Welt, schwierigere Charaktere, eine andere Medienlandschaft. Das prägt, und das hatte ich in den ersten Jahren in der Schweiz noch in mir. Ich habe mich danach mehr geöffnet.

Gehört dazu auch Ihr Stinkefinger im Spiel gegen Norwegen? Als Zeichen ans Team: Der Trainer hat Emotionen, der Trainer kann Fehler machen – genau wie ihr auf dem Spielfeld.

Ja, das war ein Zeichen der Identifikation mit dem Team. Wir wurden ungerecht vom Schiedsrichter behandelt. Weil ich mich so wie die Spieler und mit ihnen verbunden fühlte, nahm ich mir diese Freiheit heraus. Mit Abstand betrachtet lag das vielleicht auch am Wissen, nicht mehr lange Trainer zu sein. Man muss sich natürlich trotzdem beherrschen. Aber das ist sicher mit diesem Prozess verbunden. Es hat mir auch gut getan. Ich musste mich immer disziplinieren, immer alles runterschlucken im Sinne der Haltung, des Erfolgs. Dann platzt einem auch mal der Kragen. Ich ärgere mich nicht, das getan zu haben.

Viele ehemalige Spieler wie Lizarazu oder Ribéry äussern sich heute überaus positiv über Sie. Was bedeutet Ihnen das?

Viel, weil das zeigt, dass ich nicht nur als Fachmann, sondern auch als Mensch geschätzt werde. Integrität ist wichtig. Ein Trainer muss das, was er von den Spielern verlangt, selber vorleben. Also im Umgang respektvoll sein, offen, hilfsbereit. So funktioniert Teamwork. Als Spieler war ich Egoist, ich war Torjäger. Aber ich musste als Trainer umdenken. Man kann nicht nur an den Erfolg, sondern muss auch an die Spieler denken. Rücksichtslos Erfolg haben zu wollen, ist der falsche Weg. Das geht nicht über mehrere Jahre mit dem gleichen Team.

Ehemalige Spieler loben auch immer wieder Ihre Gabe, dass sie von Ihnen emotional gepackt worden seien. Wie stellten Sie das konkret an, als Sie Gökhan Inler damals bei einem Treffen in Venedig zu Ihrem Captain machten?

Ich weiss es nicht. Ich versuche mich immer in die Lage der Spieler zu versetzen. In diesem Sinne sind auch meine Ansprachen und Entscheidungen. Ich möchte offen und menschlich sein, andererseits auch konsequent. Das muss man als Trainer, um allen 23 gerecht zu werden. Will man ein Vertrauensverhältnis, muss man Vertrauen geben. Man muss viel investieren, um seine Strukturen und eine bestimmte Atmosphäre hinzubekommen, die Spieler zu überzeugen und hinter sich zu wissen.

Inler ist nicht wie Ihre früheren Leader Alex Frei, Lothar Matthäus oder Stefan Effenberg der geborene Captain, trotzdem haben Sie ihn zu Ihrem wichtigsten Spieler gemacht. Wieso?

Ich bin von ihm überzeugt, von seiner Offenheit, Ehrlichkeit. Er will keine Rolle spielen. Er ist für viele Spieler mit ausländischen Wurzeln die Integrationsfigur. Er identifiziert sich mit der Schweiz und lebt das vor. Der Captain muss nicht das Sprachrohr sein und über die Presse Druck machen, sondern muss intern ein Teamplayer sein. Inler ist das, das habe ich gespürt.

Ist die Zeit der alten Leitwölfe vorbei? Hat das die Rolle des Trainers verändert?

Früher war der Trainer alleine. Als ich Zug trainierte, hatte ich höchstens einen Goalie-Trainer, der ein- oder zweimal die Woche vorbeikam. Einen Assistenten hatte ich nicht. Heute habe ich einen Staff und bin ein Teamplayer. Das war früher auch für den Captain so. Er hatte alleine das Wort. Jetzt gibt es mehrere Leistungsträger, die Jungen wollen mitreden und ernst genommen werden. Ich hatte als junger Spieler die Hierarchien zu spüren bekommen. Deshalb wusste ich als Trainer schon in Zug, wie wichtig es ist, gleiche Pflichten und Rechte von allen zu verlangen und jeden stark zu machen.

Warum ist die Team-Hierarchie flacher geworden?

Sie ist breiter. Viele Spieler übernehmen Verantwortung, viele sind von sich überzeugt. Der Dialog ist offener, früher war man so erzogen, dass man still sein musste, wenn die Älteren redeten. Das ist nun anders. Trotzdem braucht es eine Hierarchie, ich bin dagegen, wenn man sagt, es brauche keine.

Für den Trainer ist die Frage der Hierarchie also diffiziler als früher?

Ich habe mich immer auf meinen Instinkt verlassen, habe überlegt, wen man stark machen muss, wen man in kritischen Situationen braucht. Viele Junge können das noch nicht, auch wenn sie glauben, es zu können. Aber auch das ist ein Vorteil, man soll ihnen das Selbstbewusstsein nicht nehmen. Trotzdem braucht es Säulen, an denen sich Junge anlehnen können.

Nun steht die Vorbereitung auf die WM in Brasilien bevor. Welche Fehler möchten Sie nach der WM in Südafrika nicht wiederholen?

Als Erstes beantragen wir andere Schiedsrichter . . .

. . . nach unserem Wissensstand werden Sie das nicht beeinflussen können.

Natürlich nicht, Spass beiseite. Wir waren damals im Trainingslager ziemlich abgeschottet. Jetzt wollen wir ein offeneres Camp, wollen dort sein, wo es auch Touristen gibt, wo man auch ans Meer gehen kann und Bewegungsfreiheit hat. Wir sind in einem schönen Dorf, nicht nur in einem Hotelkomplex.

In Südafrika führten Sie die Spieler an der kurzen Leine.

Jetzt wird sie gelockert.

In Südafrika hatte man auch den Eindruck, dass im ersten Spiel gegen Spanien die ganze Energie verbraucht wurde und sie gegen Chile und Honduras fehlte. Am Ende reiste die Schweiz als braver Turnierteilnehmer wieder ab. Soll sie nun als Turniermannschaft zurückkehren?

Gegen Spanien kann man nicht mit 90 Prozent spielen, sonst kriegt man fünf Gegentore, da braucht es die volle Konzentration und Laufbereitschaft. Über das Spiel gegen Chile zu sprechen, ist müssig, wenn man nach 30 Minuten zu zehnt bleibt. Honduras hätten wir 2:0 schlagen müssen, auch Spanien, der spätere Weltmeister, hatte nur 2:0 gegen sie gewonnen. Deshalb muss man die WM in Südafrika relativieren.

Nochmals: Was machen Sie anders?

Ich habe zu Hause einen sechsseitigen Bericht, in dem ich analysiert habe, was gut und was schlecht war. Das ist aber nichts für die Öffentlichkeit, sondern nur für mich und meinen Staff.

Sie hassen Niederlagen. Nach menschlichem Ermessen wird Ihre Karriere aber mit einer Niederlage enden – ausser Sie werden Weltmeister oder WM-Dritter.

Wir werden ja sehen. Für mich ist einfach wichtig, gut vorbereitet zu sein. Wenn man alles gibt, muss man sich keine Vorwürfe machen. Wir dürfen in Brasilien träumen. Der Achtelfinal ist das grosse Ziel. Gut vorbereiten, alles geben, dann sind keine Grenzen gesetzt.

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