Die großen Pamphlete werden derzeit von französischen Männern jenseits der 80 geschrieben. 2010 hat der in diesem Jahr verstorbene Stéphane Hessel, damals 93, in seinem Manifest Empört euch! mit Kapitalismus und sozialer Ungleichheit abgerechnet. Nun legt der französische Philosoph und Wissenschaftstheorethiker Michel Serres, 83, nach. Erfindet euch neu! ruft er der jungen Generation zu. Es ist weniger ein Aufschrei geworden als eine "Liebeserklärung an die vernetzte Generation", mit allen Sentimentalitäten, die das mit sich bringt.

Das fängt schon beim Namen an, den Serres den sogenannten Digital Natives gibt: "Petitte poucette" nennt er sie verniedlichend, kleine Däumlinge. Die, schreibt Serres, tippen eine SMS während sie sich Informationen von Wikipedia holen oder auf Facebook chatten. In der Schule oder Uni können sie nicht stillsitzen, weil der Lehrer vorne am Pult ja auch nicht mehr weiß als ihr Smartphone. Die Folge: "Sie haben nicht mehr den gleichen Kopf."

Kulturpessimisten geißeln die Konzentrationsschwierigkeiten der Digital Natives, Serres jedoch sieht sie positiv: "Weshalb verlieren die Kleinen Däumlinge zusehends das Interesse an dem, was das Sprachrohr sagt? Weil angesichts eines wachsenden, überall zugänglichen Wissensangebots von unübersehbaren Ausmaßen ein punktuelles und besonderes Angebot lächerlich wird." Für ihn sind die Kleinen Däumlinge interessiert, gebildet und kritisch. Serres unterscheidet nicht zwischen der potenziellen Verfügbarkeit von Informationen und ihrem tatsächlichen Abrufen. Und er unterscheidet auch nicht nach der Qualität von Informationen, also danach ob jemand auf dem Tablet einen Aufsatz über Teilchenphysik liest oder den neuesten Tweet von Miley Cyrus.

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Institutionen erneuern!

Stattdessen ist Serres fasziniert vom historischen Umbruch: Den gegenwärtigen Übergang in eine digitale Gesellschaft vergleicht er mit der Erfindung des Buchdrucks. Nach einer oralen und einer schriftlichen Phase, schreibt er, befänden wir uns an der Schwelle zu einem dritten Kulturzeitalter. Der Gedanke ist interessant. Aber Serres' Versuch, ihn mit Beispielen aus verschiedenen Lebensbereichen zu belegen, wirkt willkürlich. Die Kleinen Däumlinge sind demnach umweltbewusst, arbeiten in flexiblen Jobs und "fürchten nicht länger den gleichen Tod, zumal ihnen die Segnungen der Palliativmedizin zur Verfügung stehen". Auch Entwicklungen wie die Industrialisierung und die Individualisierung zieht er zur Argumentation heran – die aber sind schon etwas länger her und keine Begleiterscheinung der Digitalisierung.

Serres ruft die junge Generation dazu auf, die Institutionen zu erneuern und an die moderne Technik anzupassen. Dabei übersieht er, dass technischer Fortschritt nicht immer gesellschaftlichen Fortschritt hervorbringt; dass im Gegenteil neue Technologien oft benutzt werden, um traditionelle Denkweisen fortzuführen. Der britische Ethnologe Daniel Miller etwa erklärt den Erfolg von Facebook durch die konservativen Züge des Netzwerks: Soziale Kontrolle und clanartige Strukturen erinnerten eher an patriarchale Gesellschaften als an neue Freiheiten.

Den älteren Generationen, schreibt Serres, sei jeder Gemeinschaftssinn abhanden gekommen: Sie ließen sich scheiden, versammelten sich nicht mehr zum Gebet und seien – jedenfalls in Frankreich bei der letzten WM – unfähig, eine Fußball-Mannschaft zu bilden. Die Jungen dagegen seien auf Facebook mit der ganzen Welt vernetzt. Was die Nutzer des Netzwerks zusammenhalten soll, außer dass sie dasselbe kommerzielle Produkt konsumieren, bleibt offen. Ein Gruppengefühl wird sich da kaum einstellen, schon weil es niemanden gibt, gegen den man sich abgrenzen könnte. Das Medium ist hier gerade nicht die Botschaft, sondern eine mehr oder minder neutrale Plattform für Tausende mögliche Inhalte.

Michel Serres' digitale Naivität erklärt sich auch durch seine Perspektive: Er schreibt als Großvater und Professor, oft sehr blumig und metaphernreich, und gibt zu: "Ich wäre gern achtzehn, so alt wie die Kleinen Däumlinge, jetzt, da alles zu erneuern, ja erst noch zu erfinden ist." Serres ist eben kein angry old man wie Stéphane Hessel es war. Eher einer, der – mangels Alternativen – seine eigenen Sehnsüchte auf die nächste Generation projiziert.