Die Physik steht im Geist des real existierenden Sozialismus. "Die Kohlenwasserstoffwandlung bei hohen Temperaturen in Abwesenheit von Sauerstoff (Thermolyse, Pyrolyse, Plasmolyse) ist gegenwärtig und sicher auch in Zukunft von hoher volkswirtschaftlicher Bedeutung." Mit dieser Verbeugung vor den Produktivkräften beginnt die Dissertation der Diplom-Physikerin Angela Merkel, eingereicht am 8. Januar 1986 bei der Akademie der Wissenschaften der DDR. Darin widmet sich die heutige Kanzlerkandidatin dem "Mechanismus von Zerfallsreaktionen", die bei der Abfallentsorgung ohne Luftzufuhr ("Thermolyse, Pyrolyse …") auftreten.

Dass sich selbst eine theoretische Arbeit über Quantenchemie mit dem Hinweis auf die volkswirtschaftliche Bedeutung legitimieren muss, war wohl in der DDR unabdingbar. Aus heutiger Sicht müsste die Einschätzung allerdings revidiert werden. Zwar stand Ende der achtziger Jahre die ganze DDR unter Luftabschluss, und Zerfallsreaktionen hatten tatsächlich eine große Bedeutung. Doch daraus resultierte nur ein Verfahren zur Entsorgung des politischen Systems. Die Pyrolyse hat die in sie gesetzten Hoffnungen bis heute nicht erfüllt.

Doch in Wahrheit geht es Angela Merkel in ihrer Doktorarbeit auch nicht so sehr um die Abfallentsorgung als vielmehr um die Entwicklung eines mathematischen Formelapparats, der "eine tiefergehende wissenschaftliche Durchdringung der ablaufenden Prozesse" erlaubt. Die Lektüre der 153 maschinegeschriebenen Seiten – in die mathematische Formelzeichen noch von Hand eingefügt wurden – ist denn auch keine leichte Kost. Merkel, die zwölf Jahre lang als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie in Berlin-Adlershof forschte, löst unendliche Integrale und jongliert mit n-dimensionalen Matrizen – das Handwerkszeug theoretischer Physiker beherrscht sie.

Der sprachliche Duktus der Arbeit zeugt zwar nicht gerade von hoher rhetorischer Eleganz; doch als Kanzlerkandidatin beweist Merkel, dass dies kein Karrierehindernis sein muss. Ansonsten hat sie aus ihrer Zeit als Wissenschaftlerin wohl nur jenen "Herrn Dr. J. Sauer" mitgenommen, dem sie "für die kritische Durchsicht" ihrer Arbeit dankt. Heute ist er ihr Mann und Professor für Quantenchemie an der Humboldt-Universität. Ob sie in ihrem Templiner Wochenendhäuschen hin und wieder nostal-gisch quantentheoretische Probleme wälzen?

Jedenfalls führen politische Kommentatoren Angela Merkels Erfolg neuerdings gern auf ihre naturwissenschaftliche Prägung zurück. Spätestens seit ihrer Kandidatur wird die einst als "Kohls Mädchen" belächelte Pastorentochter nun als "Physikerin der Macht" (stern) bewundert. Sie mache "keine Rechnung auf, deren Ergebnis sie nicht kennt", heißt es in der CDU, das ganze Leben sei für sie "eine Versuchsanordnung", weiß die Wirtschaftswoche, und Focus berichtet nach einem Blick in das Merkelsche "Entscheidungslabor", sie rechne stets "vom angestrebten Ergebnis zurück" .

Tatsächlich aber ist der Physikerin bewusst, dass längst nicht jede Kalkulation zum gewünschten Ergebnis führt. Ihre Dissertation beispielsweise überzeugt vor allem im ersten Teil, in dem sie die "Theorie des Übergangszustandes" und andere quantenchemische Grundlagen abhandelt. Doch wenn es um praktische Berechnungen geht, greift auch Angela Merkel – wie das bei komplexen Reaktionen so üblich ist – auf "semiempirische Interpolationsvorschriften" zurück. Und in manchen Fällen muss sie sogar ganz die Waffen strecken: "Mit den quantenchemischen Rechnungen sind wir lediglich in der Lage (…) die Vibrationszustände zu beschreiben. Ihr korrekter Übergang in die Rotationszustände der Fragmente konnte nicht berücksichtigt werden."

Falls ihre vor Machthunger vibrierenden Kontrahenten innerhalb der Union daraus eine Lehre ziehen wollten, dann wohl die, dass sie ihr Heil in der Rotation suchen müssen. Bleibt Stoiber (der über den "Hausfriedensbruch" promovierte) in München? Rotiert er nach Berlin? Solche Zustände sind selbst für die Quantenchemikerin Merkel unkalkulierbar. Die jedoch tröstet sich über die theoretische Schwachstelle mit dem Hinweis hinweg: "Diese Schwierigkeit ist prinzipieller Natur und konnte unseres Wissens auch international noch nicht gelöst werden."

Das klingt überzeugend, dennoch kann dieser Satz eine gewisse Unsicherheit bezüglich des internationalen Parketts nicht verhehlen. "Unser Wissen" bezieht sich allenfalls auf Literaturrecherchen. Direkte Kontakte zu wissenschaftlich tonangebenden Staaten wie den USA waren von der DDR-Akademie aus kaum möglich. So muss die ostdeutsche Physikerin auch ihre Berechnungen zu "Struktur und Schwingungsfrequenzen des Methylradikals CH3(2A2’’)" mit dem Hinweis versehen: "Wir schließen nicht aus, daß entsprechende Rechnungen bereits anderweitig durchgeführt wurden." Als Bundeskanzlerin hätte sie immerhin die Möglichkeit, solche Wissenslücken durch Staatsbesuche wettzumachen.

Apropos "anderweitig durchgeführt": Häufig wird Angela Merkel mit Margaret Thatcher verglichen, die als erste Frau und Naturwissenschaftlerin den Sprung an eine Regierungsspitze schaffte. Thatcher war allerdings weniger theoretisch als praktisch veranlagt: Bevor sie zur Eisernen Kanzlerin aufstieg, beglückte sie als Chemikerin die Briten mit der Entwicklung des Softeis’.

Ein solcher Erfolg blieb Angela Merkel in der Wissenschaft versagt. Das Resultat ihrer Arbeit fällt eher bescheiden aus: "Als Ergebnis liegt ein Programmpaket vor, das die Berechnung der Geschwindigkeitskonstanten auf einem Niveau ermöglicht, das dem modernen Stand der Entwicklung entspricht." Nahezu zwanzig Jahre liegen zwischen diesem Satz und dem soeben vorgestellten Wahlprogramm der CDU, doch die Formulierung klingt, als sei sie von heute. "Ein Programmpaket, das dem modernen Stand der Entwicklung entspricht." Eine wirklich mitreißende Vision ist das nicht. Aber vielleicht ist für Deutschland derzeit einfach nicht mehr drin.