Ralf Holtmeyer ist der Trainer des Deutschland-Achters. Er erinnert sich an die Goldmedaille in London und weiß auch, was die Gründe für den Erfolg seines Teams sind.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Still ruht der Dortmund-Ems-Kanal. Es ist ein herrlicher Tag am Stadtrand Dortmunds. Hier ist das Leistungszentrums des Deutschlandachters angesiedelt. Beschaulich und ruhig ist es, doch der Schein trügt. Hinter den Kulissen wird eifrig an der Zukunft gebastelt. Der Blick geht längst nach Rio, 2016. Im zweiten Stock der Geschäftsstelle sitzt Ralf Holtmeyer, 56, in seinem Büro. Der Bundestrainer, wegen seiner harten Methoden auch der „Felix Magath des Ruderns“ genannt, ist der Mann hinter den Triumphen. Holtmeyer, der den Achter schon 1988 zu Gold geführt hatte, kehrte nach den enttäuschenden Spielen 2008 als Trainer zurück, um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen – seitdem ist das Boot ungeschlagen: Es ist dreimal in Folge Weltmeister und in London erstmals seit 1988 wieder Olympiasieger geworden.

 

Herr Holtmeyer, praktisch jeder hatte das Gold des Achters eingeplant. War es rückblickend betrachtet so einfach wie es aussah?
Es sah vielleicht so aus. Das war es aber nicht. Wir haben ja mitbekommen, dass es zu Hause eine Unzufriedenheit gab, weil es bis dahin bei Olympia nicht so gut lief. Die Schwimmer hatten nichts geholt, die Stimmung war ziemlich schlecht. Aber jetzt kommt ja der Achter, hieß es. Gold wurde erwartet. Die Erwartungshaltung war riesig. Aber nichts ist selbstverständlich.

Kann man diesen Druck simulieren?
Es ist ja nicht so: hoppla, heute ist Olympia. Der Druck hat sich über vier Jahre gesteigert. Die Mannschaft hat aber eine große Fähigkeit, sich auf sich zu konzentrieren. Man darf nicht vergessen: Es reichen ja schon zwei im Boot, die ein bisschen Angst haben, und schon ist alles weg.

Ist das der viel größere Druck? Die Angst, die Gruppe zu enttäuschen?
Die Gruppe und ihre Wertemaßstäbe ist wichtiger als alles, was von außen kommt. Sie ist der Schutzraum. Aber sie kann auch den Druck erhöhen. Jemand ist zwei Wochen krank, wie gehe ich als Sportler damit um? Das klingt banal, ist es aber nicht in einem Achter, in dem jeder vom anderen abhängig ist. Das kann eine brutale psychische Belastung sein. Im Achter verschmelzen die Individuen zu einer Einheit, die eigene Leistung geht unter in der Leistung des Teams. Es gibt kein oben, kein unten, kein hinten, kein vorne – es ist ein Gleichklang. Die Tätigkeit ist nicht auf Herausheben der eigenen Leistung angelegt, sondern auf Verschmelzen. Der Fehler, das Verkrampfen eines Einzelnen, hat gravierende Folgen. Grundsätzlich steht charakterlich der Optimismus im Vordergrund bei meinen Athleten – zu viele Sportler mit Versagensängsten gehen in einem Boot nicht.

Ihr Ruf ist der eines Schleifers.
Ach, das ist so ein bisschen schwarz-weiß. Auch bei uns geht es menschlich zu. Ich wurde mal gefragt, ob eine Mannschaft harmonisch sein muss. Daher kommt das.

Muss sie nicht, war Ihre Antwort.
Das Harmoniemodell passt nicht zum Spitzensport. Das scheint mir aber gerade so eine Mode zu sein. Überall lese ich von Harmonie als Erfolgsrezept. Wir lieben die Vorstellung, dass das, was erfolgreich ist, auch harmonisch sein muss. Und wo es nicht läuft, ist es unharmonisch. Das stimmt aber nicht. Die Harmonie ist dort am Größten, wo am wenigsten Leistung erwartet wird. Wenn wir zwei uns einmal die Woche aus Spaß an der Freude zum Rudern treffen und danach zusammen ein Bier trinken gehen – das ist sicher toll harmonisch. Aber wo um Erfolg gerungen wird, wo es darum geht, besser zu werden, ist es zwangsläufig unbequem, weil man immer arbeiten muss. Du darfst im Leistungssport nie zufrieden sein, du musst immer Sachen infrage stellen, dich selbst immer infrage stellen, um besser zu werden. Das ist eben hart, und meistens nicht harmonisch.

Das klingt ein bisschen nach dem Felix-Magath-Prinzip.
Ich kenne Felix Magath nicht persönlich. Ich weiß gar nicht, wie der im Detail arbeitet, aber okay, das Image stört mich nicht. Rudern ist eben harte Arbeit, speziell im Achter. Die Verantwortung für den Gesamterfolg liegt bei jedem Einzelnen. Jeder übernimmt eine hohe Verantwortung. auch abseits des Ruderns. Wenn einer toll trainiert, aber abends immer feiert, wird er der Verantwortung für sich und für die Gruppe nicht gerecht. Disziplin, Pünktlichkeit und Härte sind entscheidende Werte für ein leistungsfähiges Team. Jeder muss versuchen, besser zu werden.

Stillstand ist Rückschritt?
Wenn man keine Fortschritte mehr erzielen will, ist das ein Rückschritt. Es gibt Athleten, für die es eine große Hürde ist, in den Achter zu kommen. Da ist die Gefahr groß, dass sie zufrieden sind, wenn sie es geschafft haben. Sie denken, dass sie schon etwas erreicht haben. Ich kenne auch Sportler, die sagen: Hauptsache eine Medaille, egal, welche. Das geht nicht. Das ist gefährlich. Du musst immer nach dem Maximum streben, das zeichnet diesen Achter aus.

Welchen Anteil haben Sie an der bemerkenswerten Siegesserie des Achters?
Ich bin kein Zauberkünstler. So ein Erfolg entsteht in einer Gruppendynamik mit günstigen Rahmenbedingungen plus individueller Veranlagung. Man stellt sich nach so Erfolgen ja gerne hin und sagt: Das war alle so geplant und ist das Ergebnis systematischen Trainings. So ist es halt nicht.

Sind die besten Acht der beste Achter?
Das kann man so nicht sagen. Es müssen nicht alle acht Ruderer alles gleich gut können: die Stärken müssen sich ergänzen. Es ist eine Kombination aus der reinen Physis, die leicht messbar ist, dann geht es um rudertechnische Dinge, also, ob die Schlagstruktur passt. Jeder hat seine eigene Handschrift, und die acht müssen perfekt übereinander passen. Und am Ende kommt die Frage, ob einer in die Gruppe passt. Natürlich ist das manchmal schwer zu vermitteln. Es heißt dann: ihr geht nicht nach Leistung und so Sachen. So lange man Erfolg hat, kann man sich gut wehren, wenn es nicht so klappt, wird es schwierig.

Ihre Sportler investieren verdammt viel. Und dann müssen Sie sagen: Sorry, es reicht nicht.
Das ist schwer, keine Frage. Ich kann es einem Sportler auch nicht übel nehmen, wenn er sauer ist. Andererseits: Leistungssport ist so. Der Bessere sitzt im Boot. Ich finde es furchtbar, wenn ich Sätze lese wie „Danke, für deine Hilfe“ und so. Das ist eine Sache auf Gegenseitigkeit. Ich erwarte keine Dankbarkeit, und umgekehrt kann der Athlet auch keine erwarten. Ein Ruderer war drei, vier Jahre erfolgreich im Boot, aber dann kommt eben ein Besserer nach. Natürlich ist das emotional, wenn man zusammen viel erreicht hat, aber davon muss man sich freimachen. Es geht darum, die Besten zu ermitteln. Das ist das Prinzip des Hochleistungssports.

Der Achter ist ein deutscher Sportmythos. Auch für Sie?
Ich kann den Mythos nicht nachvollziehen. Ich habe einen anderen Blick, ich stecke viel zu tief drin im Alltag dieses Bootes. Dort, wo ich keine Ahnung habe, denke ich auch oft, wie super das aussieht, wie faszinierend das ist und so. Mein Vater ist pensionierter Maurermeister. Früher waren wir oft in der Schweiz, da hat er gerne gesagt: Die bauen für die Ewigkeit. Und ich habe nur irritiert geschaut. Er hat halt anders auf das Mauerwerk geblickt als ich Laie. Er sieht manches, was ich nicht sehe. Ich sehe dafür etwas, was er nicht sieht.

Sie können mit der Mystifizierung dieses Bootes wirklich nichts anfangen?
Es gibt auch den Mythos Olympia. Wenn Sie mal hinter die Kulissen schauen, ist das kein Mythos mehr. Da ist das Essen schlecht, der Fahrservice mäßig und so weiter. Es gibt das Olympia vor dem Fernseher, und das Wirkliche, das ich erlebe. Ich weiß, wie es hinter der Fassade aussieht.

Warum, glauben Sie, hat der Achter so eine außergewöhnliche Stellung?
Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es was mit diesem Motiv zu tun: Wir sitzen alle in einem Boot. Solche Bilder werden ja oft verwendet. Auch mit dem Thema Untergang, vielleicht ist es die simple Symbolik.

Oder es liegt an dem, wie wir uns sehen: als präzise, als leistungsfähig, als hart arbeitendes, erfolgreiches Land: der Achter als Symbol für „Made in Germany“?
Kann sein. Es gibt ja so ein paar Symbole, auf die wir stolz sind. Die D-Mark fällt mir da spontan ein. Wir haben durch die Pervertierung in der Vergangenheit ja zurecht Probleme mit allem, was „nationale Identität“ ist und in diese Richtung geht. In meiner Jugend war zum Beispiel Fähnchenschwingen völlig verpönt. Als meine Kinder 2006 bei der Fußball-WM auf einmal mit Fahnen gewedelt haben, habe ich schon komisch geschaut. Vielleicht ist der Sport die Möglichkeit, unbeschwerten und unverdächtigen Patriotismus zu leben, stolz auf etwas Deutsches zu sein. Auf die Nationalelf, auf den Deutschlandachter.

Vielerorts wird über eine vermeintlich faule, nicht leistungsbereite Jugend geklagt. Inwiefern hat sich Ihre Arbeit durch gesellschaftlichen Wandel verändert?
Da bin ich der falsche Ansprechepartner. Was bei mir ankommt, ist eine Elite. Das Gegenteil ist bei uns richtig: die Jungs hier sind unglaublich leistungsbereit, sie haben ein hohes Bildungsniveau, sie können reden, sind reflektiert und intelligent, sie bringen Studium und Sport unter einen Hut und bringen viele Opfer. Aber, da haben Sie Recht, ich fürchte, das ist eine dünne Schicht. Wir müssen sicher aufpassen, dass die Schere nicht zu groß wird.

Wäre es Ihnen lieber, wenn Ihre Athleten statt Studenten Vollprofis wären?
Unser Modell hat auch Vorteile. Wer in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu Hause ist, kann den Sport und die Erfolge und Misserfolge viel besser einordnen. Klar, im Tagesgeschäft wäre manches leichter, aber wir haben gelernt, effektiv mit Zeit umzugehen. Die Verlockung ist groß, mit Zeit rumzuspielen, wenn man genügend davon hat. Wir sind darauf trainiert, sie optimal zu nutzen.