Der vor einem Jahr zusammengeschlagene Rabbiner Daniel Alter warnt vor zunehmendem Antisemitismus in Berlin - und Gegenden, die erkennbare Juden meiden sollten. Neuköllns Bürgermeister widerspricht.

Ein Jahr ist es jetzt her, dass Rabbiner Daniel Alter rassistisch beschimpft und blutig geschlagen wurde. Die Tat geschah unmittelbar vor seiner Haustür im bürgerlichen Friedenau. Seine siebenjährige Tochter war dabei, sie wurde mit dem Tode bedroht. Die Täter sollen arabischstämmige Jugendliche gewesen sein. Sie konnten fliehen. Bisher wurden sie nicht ermittelt.

Alter sagt, dass seine Familie nach der Tat sehr viel Solidarität und Hilfe erfahren habe. Er sei dankbar dafür. „Das war vor allem für meine beiden Töchter sehr wichtig.“ Der Rabbiner warnt allerdings davor, dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in der Hauptstadt zugenommen haben. Inzwischen gebe es Viertel in der Stadt, die bekennende Juden meiden sollten. „Es bringt nichts, sich ins Krankenhaus schlagen zu lassen.“ Langfristig helfe nur eine klare Positionierung der deutschen Öffentlichkeit. Auch die Arbeit von gemeinnützigen Vereinen wie der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus oder Streetworking-Programme wie das Neuköllner Programm Heros würde zur Verständigung der Menschen beitragen.

Buschkowsky widerspricht

Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) betont indes, dass es in Neukölln keine No-Go-Areas gibt. „Ich bin gern bereit, mit Herrn Alter die Sonnenallee entlang zu gehen“, sagt er. Einzelne Vorkommnisse könne man natürlich nie ausschließen. „Wo Menschen sind, wird es immer Dinge geben, die nicht sein dürfen“, so Buschkowsky.

Auch Polizeisprecher Thomas Neuendorf weist deutlich zurück, es würde in Berlin No-Go-Areas geben. Das lasse die Polizei Berlin in der Stadt nicht zu, so Neuendorf. „Aus unserer Sicht sind Übergriffe kein örtliches Problem, sondern haben ihren Ursprung in der Gewaltbereitschaft einzelner Straftäter“, so Neuendorf. „Auf einer rassistischen Gesinnung beruhende Straftaten werden von der Polizei Berlin nicht geduldet und konsequent verfolgt und zwar unabhängig von der Nationalität, der Hautfarbe oder Religion.“

„Wir verurteilen Menschenfeindlichkeit jeder Art, ganz gleich, ob es sich um Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus handelt“, sagt Mustafa Doganay vom Türkischen Bund Berlin (TBB). Er kenne das Problem von Antisemitismus auch unter arabischen oder türkischen Jugendlichen. Der TBB hatte auch vor einem Jahr den Überfall auf Rabbiner Daniel Alter verurteilt. „Die politischen Konflikte in der Welt wirken sich auch in Berlin aus, ich sehe aber keine Zunahme der Aggressivität“, so Doganay. Er selbst wohne in Wedding und nach seiner persönlichen Wahrnehmung, gebe es dort keine Gebiete, wo sich Juden nicht auf die Straße trauen könnten.

Zustimmung von der Amadeu-Antonio-Stiftung

Anetta Kahana von der Amadeu-Antonio-Stiftung, die gegen Rassismus und Antisemitismus arbeitet, sieht das anders. „Ich stimme der Aussage zu, dass es für erkennbare Juden in einigen Berliner Stadtteilen gefährlich sein kann“, sagt die Vorsitzende der Stiftung Anetta Kahana. Die Aggressionen seien teilweise sehr stark, vor allem in Familien die offen mit der Hamas und Hisbollah sympathisieren. Allerdings gebe es diesen iraelfeindlichen Antisemitismus auch unter Deutschen, nur meist weniger offensichtlich. Auf den alljährlichen israelfeindlichen Al-Quds-Demonstrationen nach dem Ende des Ramadan, zuletzt am 3. August, seien Allianzen von Antisemiten aller Art zu finden.

Wichtig und erfolgreich seien Projekte, die mit muslimisch erzogenen Jugendlichen arbeiten, so Kahane. Ein solches Projekt sei „Ju:an“. Die Abkürzung steht für Jugendarbeit gegen Antisemitismus. „Die Finanzierung vom Bund läuft jetzt nach drei Jahren jedoch aus, dabei brauchen gerade solche Projekte Kontinuität“, sagt die Sprecherin der Stiftung.

Fortbildung für Lehrer

Dieses Problem sieht auch Daniel Alter, der seit November Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ist. „Es gibt da einen Widerspruch“, sagt er. Die Politiker würden zwar fordern, dass Antisemitismus und Rassismus bekämpft werden müssen, für Verbände und Vereine, die sich genau das auf ihre Fahnen geschrieben haben, wäre aber nie genug Geld da.

Als Antisemitismusbeauftragter bekomme er immer wieder Hilferufe von Lehrern, so Alter. „Jude“ sei auf vielen Schulhöfen ein Schimpfwort. Schüler würden den Nahost-Konflikt zum Anlass für antisemitische Äußerungen nehmen. „Schon während ihrer Ausbildung müssen Lehrer auf den Umgang mit derartigen Problemen vorbereitet werden“, fordert der Rabbiner.

Die Bildungsverwaltung bestätigt, dass auch an Schulen das Thema Antisemitismus unter Schülern mit arabischen Hintergrund auftaucht. Allerdings gebe es in der Gewalt-Statistik keine Steigerung der gemeldeten Vorfälle. Im vergangenen Schuljahr haben die Schulen fünf antisemitisch begründete Fälle von Gewalt gemeldet. Mit der Handreichung für Lehrer „Islam und Schule“ erhalten die Pädagogen auch Hinweise, wie sie mit dem Thema Antisemitismus umgehen können. Unterrichts-Material zu den Themen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit bietet auch das zentrale Medienforum in Moabit.

Eindeutig als antisemitisch motivierte Straftaten weist die Polizei in ihrer Statistik nur Delikte aus, die von rechtsextremer Seite begangen werden. 192 antisemitische Straftaten wurden in diesem Zusammenhang in der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität für 2012 erfasst – ein Anstieg von 68 Prozent im Vergleich zu 2011. Im laufenden Jahr geht der Trend jedoch wieder zurück, für das erste Halbjahr 2013 wurden 14 Prozent weniger antisemitische Straftaten gezählt als im Vorjahreszeitraum.

Unscharfe Statistiken

Ist der Straftäter jedoch nicht rechtsextrem, sondern hat womöglich einen islamistischen Hintergrund, werden die Straftaten laut Polizei unter dem Punkt „Ausländerkriminalität“ erfasst, jedoch beschreibt die Polizeistatistik hier nicht explizit antisemitische Straftaten. Die Fallzahlen in diesem Bereich sind 2012 ebenso wie im ersten Halbjahr 2013 leicht gesunken. In den vergangenen Jahren wurde jedoch von Seiten der Opposition wie von Opferverbänden immer wieder kritisiert, die Polizeistatistik sei bei politischen oder ideologischen Hintergründen von Straftaten unscharf.

Innensenator Frank Henkel (CDU) spricht Daniel Alter „großen Respekt“ für den Einsatz zur Verständigung der Religionen trotz dessen negativer persönlicher Erfahrungen aus. Auch er selbst verfolge diesen Ansatz, sagt Henkel und verweist auf das Projekt „JUGA – Jung, gläubig, aktiv“, bei dem sich Jugendliche verschiedener Religionen für den Dialog untereinander einsetzen würden. „Die jungen Mitglieder von JUGA werden demnächst auch an Schulen gehen, um für ein friedliches Miteinander der Religionen zu werben, von ihren Erfahrungen zu berichten und als Vorbilder zu wirken“, so Henkel, der Schirmherr des Berliner Projekts ist.