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Gerüchte um Vergewaltigung in Magdeburg: „Das ist geistige Brandstiftung“

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Blick in ein Gemeinschaftszelt in der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZASt) in Halberstadt.

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dpa/Archiv Lizenz

Magdeburg -

Hat die Staatsanwaltschaft ausreichend über eine schwere Straftat informiert, die möglicherweise ein Afghane beging? Müssen Flüchtlinge schneller über unser Recht informiert werden. Darüber sprachen Hendrik Kranert-Rydzy und Kai Gauselmann mit Thomas Wünsch, Staatssekretär im Justizministerium.

Herr Wünsch, sechs Afghanen sollen in Magdeburg eine 19-Jährige überfallen haben, um sie gemeinschaftlich zu vergewaltigen. Stimmt das?

Wünsch: Die Behauptung wird im Internet verbreitet. Sie ist falsch. Und sie soll ganz offensichtlich Ressentiments schüren. Lassen Sie mich das so klar sagen: Solche unwahren Gerüchte in die Welt zu setzen, das ist geistige Brandstiftung. Wenn Sie sich diese Facebook-Posts durchlesen, das ist unerträglich. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen drei Tatverdächtige, davon gegen einen wegen des dringenden Tatverdachts, für Übergriffe auf drei Frauen verantwortlich zu sein. In der Sache bitte ich aber zu akzeptieren: Das betrifft ein laufendes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft, zu dem ich nichts sagen kann.

Die Staatsanwaltschaft hat aber auch nicht gesagt, dass es deutsche Tatverdächtige waren. Und damit de facto bestätigt, dass es sich um ausländische Tatverdächtige handelt.

Wünsch: Die Staatsanwaltschaft hat meines Wissens nach bestätigt, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen Afghanen handelt. Für die Ermittlungen ist die Nationalität aber unerheblich. Vor dem Gesetz sind alle gleich.

Finden Sie es richtig, wenn die Staatsanwaltschaft da nicht direkt die Lage erhellt?

Wünsch: Die Staatsanwaltschaft kann das gut selbst einschätzen, welche Informationen sie wann öffentlich macht.

Müssen Sie nicht auch auf die Wirkung in der aufgeheizten Asyldebatte achten? In Magdeburg wurden danach Asylbewerber überfallen.

Wünsch: Nein, man muss den Staatsanwaltschaften überlassen, was aus ermittlungstaktischen Gründen sinnvoll ist. Für Hetze im Netz und für Übergriffe kann man ihr nicht die Verantwortung zuschieben. Und ob es zwischen den Vorfällen einen direkten Zusammenhang gibt, wie das hier konstatiert wird, das müssen die Ermittlungen erst zeigen.

Aber Sie nehmen damit doch wie in Magdeburg rechtsradikale Bürgerwehren in Kauf, wenn die Justiz ins Kraut schießenden Gerüchten nicht entgegen tritt.

Wünsch: Nochmals: Die Justiz muss ermitteln. Und sie hat Anklage zu erheben, wenn das abgeschlossen ist. Sie ist nicht dafür verantwortlich, hahnebüchene Behauptungen aus dem Internet zu kommentieren. ?Was in diesen Tagen in den sozialen Medien bewusst an Unwahrheiten verbreitet wird und wie begierig das offenbar zum Teil geglaubt werden will, das ist für mich unerträglich. Dem mit klaren Worten entgegenzutreten ist wichtig. Das ist gemeinsame Aufgabe von Politik, von Gesellschaft, von Medien. Bei der Staatsanwaltschaft können sie die alleinige Verantwortung nicht abladen.

Zum Beispiel Afghanen kommen aus einem Land, in dem es seit gut vier Jahrzehnten keinen funktionierenden Staat und schon gar nicht unserer Prägung gibt. Kann man die einfach selbst herausfinden lassen, wie sie sich hier verhalten sollen?

Wünsch: Was Recht und Gesetz angeht, kann man Niemanden etwas herausfinden lassen. Diese Regeln gelten für alle gleich. Die körperliche Unversehrtheit ist ein universelles Recht. Daneben ist richtig: Wir müssen Abertausenden unser Rechtssystem und unser politisches System erklären. Erklären, auf welchem Wesen unser Zusammenleben fußt. Viele haben bisher Staat auch nur als Repressionsapparat erfahren. Wir müssen den Menschen erklären, wie das bei uns funktioniert. Da müssen wir mehr tun. Die Integrationskurse dürfen nicht erst beginnen, wenn nach sechs Monaten oder länger ein positiver Asyl-Bescheid in Aussicht ist, sondern viel früher. Wir müssen unsere Werte konsequent und schnell vermitteln. Da finden in der Frühphase viele Initiativen durch Freiwillige vor Ort statt, die Werte auch vorleben. Da muss aber mehr passieren.

Sachsen-Anhalt hat in diesem Jahr bisher mehr als 21.000 Flüchtlinge aufgenommen, etwa die Größenordnung einer Kleinstadt. Kommen dabei ungewöhnlich viele Kriminelle ins Land?

Wünsch: Nein. Statistisch gesehen gibt es keinen Hinweis darauf, dass es unter Flüchtlingen mehr Kriminalität gibt als sonst in unserem Land. Das ist ein Vorurteil, das befeuert wird durch unwahre Geschichten, dass irgendwo etwa ein Supermarkt ausgeräumt worden sei oder dass sie ungestraft klauen dürften.

Ist es dann nicht umso wichtiger, dass eine Staatsanwaltschaft Gerüchte wie in Magdeburg widerlegt?

Wünsch: Ich verstehe Ihren Ansatz. Aber es ist nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft, Gerüchte zu widerlegen. Es ist ihre Aufgabe, Straftaten aufzuklären. Sie muss entscheiden dürfen, wann sie was offenlegt, damit dies gelingen kann. Deshalb kann und darf eine Staatsanwaltschaft frei agieren, auch in diesem Fall.

Soweit die Theorie. In der Praxis gründen sich Bürgerwehren - weil Leute das Gefühl haben, der Staat könne nicht für Schutz sorgen.

Wünsch: Die Gewaltenteilung und unser Staat funktionieren sehr gut - das macht Deutschland ja so attraktiv, und sonst würden nicht so viele Flüchtlinge versuchen, zu uns zu kommen. Unabhängig davon müssen wir uns darum kümmern, wenn es ein Unsicherheitsgefühl gibt und versuchen zu klären, warum das so ist und wie man Ängsten entgegentreten kann. Es ist gut, wenn Bürger für ihre Gesellschaft aktiv werden wollen. Aber Bürgerwehren sind ein falscher Weg. Das Gewaltmonopol hat der Staat. (mz)



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