Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 06.09.2023 – 3 K 988/21
Titel:

Ablehnung des Antrags auf abweichende Steuerfestsetzung

Normenketten:
AO § 5, § 163
EStG § 33
EStDV § 64 Abs. 1 Nr. 2 e
FGO § 52a, § 52d, § 74, § 100 Abs. 1 S. 1, § 102, § 135 Abs. 1
Leitsatz:
Es werden solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zweck der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl (vgl. BFH-Urteil vom 23.03.2023 VI R 39/20, BFH/NV 2023, 1003, BeckRS 2010, 24004100).  (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abweichende Steuerfestsetzung, Billigkeitsmaßnahme, Billigkeitsgründe, Billigkeitsentscheidung, betriebsnahe Veranlagung, Behinderung, außergewöhnliche Belastungen, Mehrbedarf, Steuerfestsetzung, Steuerfestsetzungsverfahren, Einkommensteuerbescheid, Einkommen, Erkrankung, Ermessensentscheidung, Sachliche Unbilligkeit, Steuerpflichtiger, zumutbare Belastung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31647

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

1
Streitig ist die Ablehnung des Antrags auf abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO zur Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen.
2
Mit Einreichung der Einkommensteuererklärung machten die Kläger für das Jahr 2018 außergewöhnlichen Belastungen i.H.v. 47.404 € geltend. Zur Erläuterung führten sie aus, dass insgesamt Aufwendungen für den altersbedingten Hausumbau in Höhe von 142.097 € entstanden seien. Nach Abzug von 30% für „gehobenen Standard“ sowie eines KFW-Zuschusses werde ein Betrag von 94.807,79 €, der auf zwei Jahre zu verteilen sei, geltend gemacht.
3
Die Kläger legten den Bescheid des Zentrums Familie und Soziales U. Versorgungsamt vom 29.10.2019 vor, in dem beim Kläger ab dem 23.09.2019 ein Grad der Behinderung von 60 und das Merkzeichen G festgestellt wird.
4
Weiter legten sie eine ärztliche Bescheinigung des Dr. med. A vom 25.06.2019 vor, in der ärztlicherseits bestätigt wird, dass bei der Klägerin und dem Kläger „aus multiplen internistischen und orthopädischen Gründen ein altersgerechter bzw. behindertengerechter Umbau der Wohnung aus medizinischer Sicht dringend anzuraten ist.“
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Während des Veranlagungsverfahrens führte das Finanzamt bei den Klägern in der Zeit vom 04.02.2020 bis 23.02.2020 eine sogenannte betriebsnahe Veranlagung durch, die mit Bericht vom 24.03.2020 abgeschlossen wurde.
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Die betriebsnahe Veranlagung kam zu dem Ergebnis, dass die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen nicht gegeben sei und die Kosten daher nicht berücksichtigt werden könnten. Der medizinische Dienst sei zwar vor Ort gewesen, habe aber keine Bescheinigung über das Erfordernis der durchgeführten Maßnahmen ausgestellt, da die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten sei, dass die durchgeführten Maßnahmen als zwingend erforderlich erschienen hätten. Der Kläger sei im Jahr 2020 noch nicht auf Rollstuhl oder Rollator angewiesen. Bei der anzunehmenden Verschlechterung des Krankheitsbildes könne dies in 2 bis 3 Jahren der Fall sein.
7
Das Finanzamt erließ den Einkommensteuerbescheid 2018 vom 06.04 2020 ohne Berücksichtigung der geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen.
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Es führte in den Erläuterungen zur Festsetzung aus:
„Im Rahmen der außergewöhnlichen Belastungen wurden Umbaumaßnahmen i.H.v. 94.807,79 € verteilt auf 2 Jahre beantragt. Da der Nachweis der Zwangsläufigkeit (z.B. Gutachten des Medizinischen Dienstes) nicht vorgelegt werden konnte, sind die Kosten nicht zu berücksichtigen, siehe R 33.4 zu § 33 EStG. Der Festsetzung/Feststellung liegen die Ergebnisse der bei Ihnen durchgeführten betriebsnahen Veranlagung zugrunde.“
9
Mit dem Einspruch trug der frühere steuerliche Vertreter der Kläger vor:
„Der Medizinische Dienst war vor Ort. Dabei wurden die getätigten Maßnahmen begutachtet und als vorbildlich für dieses Krankheitsbild an sich bewertet. Jedoch sei die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten, dass die Maßnahmen auch zu diesem Zeitpunkt (2018) als zwingend notwendig erscheinen.“
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Das Einspruchsverfahren verlief erfolglos.
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Die Prozessbevollmächtigten haben Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 2018 vom 06.04 2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.01.2021 erhoben und u.a. beantragt, krankheitsbedingte Umbaukosten von insgesamt 94.807,79 € als außergewöhnliche Belastung zur Hälfte 2018 und zur Hälfte 2019 und hilfsweise alle in 2018 abzuziehen.
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Die Klage wird beim Finanzgericht Nürnberg unter dem Aktenzeichen 3 K 218/21 geführt. Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 14.05.2021 ausgesetzt, da die Entscheidung über den Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung für 2018 nach § 163 Abs. 1 AO für das anhängige Verfahren vorgreiflich sei. Nach der Rechtsprechung des BFH ist diese Billigkeitsentscheidung als Grundlagenbescheid für das Steuerfestsetzungsverfahren anzusehen.
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Mit Schreiben vom 12.03.2021 haben die Kläger einen Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO für das Kalenderjahr 2018 gestellt.
14
Es wurde vorgetragen, dass bei der Diagnose COPD und dem aktuellen Schweregrad III nahezu sicher sei, dass die noch fehlende graduelle Verschlechterung auf absehbare Zeit früher oder später eintreten werde. Die steuerliche Berücksichtigung der Umbaukosten könne nicht an einer Formalie scheitern, wenn der Steuerpflichtige aufgrund vernünftiger Überlegungen Aufwendungen vorziehe, die zu einem späteren Zeitpunkt ohnehin abzugsfähig wären.
15
Das Finanzamt lehnte mit Bescheid vom 15.04.2021 den Antrag aufgrund fehlender sachlicher Unbilligkeit ab.
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Den Einspruch der Kläger wies das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom 07.07.2021 als unbegründet zurück.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt:
17
Zweck des § 163 AO sei es, sachliche und persönliche Besonderheiten des Einzelfalls, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt habe, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrages insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen (Hinweis auf: BFH-Beschluss vom 21.09.2005 X B 100/05, BFH/NV 2005, 2160). Darüber hinaus könne die Steuerfestsetzung sachlich unbillig sein, wenn sie den Geboten der Gleichheit und des Vertrauensschutzes, den Grundsätzen von Treu und Glauben oder dem Erfordernis der Zumutbarkeit widersprechen. Eine niedrigere Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen setze voraus, dass die Einziehung der Steuer im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Besteuerung, nicht zu rechtfertigen sei. Bei der Prüfung der Billigkeitsgründe dürfe sich die Finanzverwaltung nicht mit Erwägungen allgemeiner Art begnügen. Vielmehr seien die konkreten Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Die Aussicht auf die künftige Erzielung von Einkünften oder die Erlangung von Vermögenswerten sei bei der Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme zu berücksichtigen.
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Da die Wertungen des Gesetzgebers bereits bei der Auslegung des gesetzlichen Steuertatbestandes und bei der Frage der Tatbestandsmäßigkeit der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen seien, kämen als sachliche Gründe nur solche Umstände in Betracht, die bei der Steuerfestsetzung durch Auslegung des Steuertatbestandes nach dem objektiven Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigt worden seien. Solche Umstände könnten sachliche Billigkeitsgründe sein, wenn sie sich als Verstöße gegen fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien darstellen würden oder wenn sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Interessenabwägung die Einziehung der Steuer als unbillig erscheinen ließen. Die Erhebung eines Einkommensteueranspruchs könne sachlich unbillig sein, wenn das Zusammenwirken verschiedener Regelungen zu einer hohen Steuerschuld führe, obgleich dem kein Zuwachs an Leistungsfähigkeit zugrunde liege. Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewusst in Kauf genommen habe, rechtfertigten keinen Billigkeitserlass aus sachlichen Gründen.
19
Ziel des § 33 EStG sei es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entzögen. Nach § 33 EStG seien Aufwendungen abzugsfähig, die einem Steuerpflichtigen zwangsläufig krankheits- oder behinderungsbedingt entstehen. Diese Aufwendungen müssten objektiv und eindeutig abgrenzbar sein.
20
Im vorliegenden Fall sei dies nicht möglich. Der medizinische Dienst sei nicht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Baumaßnahmen zum damaligen Zeitpunkt schon als zwingend nötig einzustufen gewesen wären. Damit liege das gesetzliche Merkmal der Zwangsläufigkeit offensichtlich nicht vor.
21
Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Gesetzgeber den vorliegenden Fall einer fortschreitenden Erkrankung bei Erlass der Regelung nicht gesehen habe und ihn sonst im Sinne des Klägers geregelt hätte.
22
§ 33 EStG sei eine Ausnahmevorschrift zur allgemeinen Regel, dass private Aufwendungen steuerlich nicht zu berücksichtigen seien. Bei Anerkennung der Umbaukosten im Wege einer abweichenden Steuerfestsetzung nach § 163 AO würde im vorliegenden Fall das vom Gesetzgeber eng gefasste Merkmal der Zwangsläufigkeit zugunsten von „sinnvollen“ statt „zwangsläufigen“ Aufwendungen ausgehebelt werden. Im Übrigen hätten die Baumaßnahmen zu einer Wertsteigerung der Immobilie geführt.
23
Daher sei es sachlich nicht unbillig, die geltend gemachten Aufwendungen nach § 33 EStG nicht zum Abzug zuzulassen. Eine abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO könne nicht erfolgen.
24
Die Prozessbevollmächtigten haben für die Kläger Klage erhoben.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen:
25
Der Kläger leide an einer COPD Schweregrad III (von IV). Dabei handele es sich um eine chronische Zerstörung der inneren Oberfläche der Lunge, also der Lungenbläschen, die das Ausatmen erschwere und sich auch im Falle einer Therapie nicht wieder zurückbilde. Weil dadurch der Atemfluss gestört sei, nehme der Sauerstoffgehalt im Blut ab – anfangs nur unter Belastung, später dauerhaft. Typische Symptome seien Atemnot, Erschöpfung und in fortgeschrittenen Stadien Gewichtsabnahme. Damit einher gehe natürlich eine fortschreitende Verringerung der Beweglichkeit und der Fähigkeit des Klägers, sich selbst zu versorgen. Die Erkrankung des Klägers sei erstmals im Jahr 2016 bei einer jährlichen Routineuntersuchung vom behandelnden Arzt Dr. A diagnostiziert worden. Damals seien erste Atembeschwerden aufgetreten, die sich allmählich verschlimmerten. Von der ersten Feststellung bis zum heutigen Tag habe sich sein Zustand kontinuierlich verschlechtert. Laut der Untersuchung des Pneumologen Dr. B vom August 2020 stehe der Kläger knapp vor der Notwendigkeit einer dauernden Sauerstoffversorgung. Der Arzt habe dringend zur Anpassung der Wohnung an die Behinderung geraten.
26
Es sei bereits in 2018 mit hinreichender Sicherheit abzusehen gewesen, dass die Krankheit in nicht allzu weit entfernter Zukunft den Kläger soweit geschwächt haben werde, dass er wegen stark eingeschränkter Beweglichkeit eine behindertengerechte Umgebung benötige. Darüber hinaus sei nicht auszuschließen gewesen, dass es aufgrund der weiteren Krankheiten des Klägers (Herzklappenstenose, Aneurysma, Schwerhörigkeit etc.) unerwartet zu Verschlechterungen kommen könne. Dem zugegeben frühen Rat der Mediziner folgend, hätten die Kläger die erforderlichen Umbaumaßnahmen so frühzeitig durchführen lassen, dass sie den damit einhergehenden Belastungen physisch und psychisch noch gewachsen seien. Gerade diese Situation des schleichenden, aber sich unumkehrbar verschlechternden Gesundheitszustands sei kein typischer Fall. Hierfür habe der Gesetzgeber verständlicherweise keine Regelung getroffen.
27
Die Baumaßnahmen würden den Rahmen von Umbauten zur Herstellung eines altersgerechten Wohnumfelds deutlich übersteigen. Sie seien vielmehr spezifisch darauf ausgerichtet, die Wohnung auf eine künftige Nutzung vorzubereiten, wenn der Kläger sich vorwiegend im Rollstuhl fortbewegen müsse. Im Einzelnen seien Türen rollstuhlgerecht verbreitert (Haustür, Badezimmertür, Zugang zur Küche), Türschwellen beseitigt (an Haustür und Badezimmertür sowie der Tür vom Wohnzimmer zur Terrasse), das Badezimmer rollstuhlgeeignet umgebaut worden (Badewanne entfernt und gegen eine befahrbare Dusche ausgetauscht). Um Platz für einen Rollstuhl zu schaffen, sei eine Badezimmerwand versetzt worden. Die Küche sei umgebaut worden, um eine Durchgangsbreite von 1,20 m zu schaffen. Dazu sei auch eine Wand der Küche entfernt und die Küchenmöbel anders angeordnet worden, weshalb die Anschlüsse zu verlegen waren. Um eine Rollstuhlnutzung des Esszimmers zu gewährleisten, sei ein zuvor im Raum stehender offener Kamin beseitigt worden. Zudem sei eine kleine Treppe zum Schlafzimmer verlängert und dadurch abgeflacht worden. Darüber hinaus habe natürlich fast jede dieser Maßnahmen Folgearbeiten ausgelöst (neue Fliesen im Bad, neuer Bodenbelag durch Wandabbrüche und Schwellenbeseitigungen etc.).
28
Die zum Abzug beantragten Baukosten seien zur Aussonderung von Mehraufwand, der auch anderen, gesunden Steuerpflichtigen entstanden wäre, bereits um 30% gekürzt worden. Zum Abzug werde also nur der Teil der Umbaukosten beantragt, der krankheitsbedingt angefallen sei.
29
Anlass für den Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung sei der Umstand gewesen, dass ein formaler Nachweis nach § 64 EStDV im Zeitpunkt der Baumaßnahmen nicht vorgelegt werden konnte und der Abzug auf zwei Jahre verteilt werden solle. Baumaßnahmen würden jedoch nicht unter medizinische Hilfsmittel i.S.d. § 64 Abs. 1 Nr. 2 e EStDV fallen und seien somit nicht von der Vorschrift umfasst. Damit gelte für Baumaßnahmen nicht das Erfordernis eines amtsärztlichen Gutachtens oder einer Bescheinigung des MDK vor Beginn der Maßnahme. Wenn die frühzeitige amtsärztliche Begutachtung aber ohnehin nur wenig aussagekräftig sein könne, wäre es unbillig, wenn am Fehlen des Gutachtens die steuerliche Abzugsfähigkeit scheitern solle.
30
Der Klägervertreter und die Kläger beantragen, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 15.04.2021 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 07.07.2021 das Finanzamt zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 2018 vom 06.04.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.01.2021 dahin zu ändern, dass krankheitsbedingte Umbaukosten von insgesamt 94.807,79 € als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sind.
31
Die Verteilung der Aufwendungen auf die Jahre 2018 und 2019 wird nicht mehr beantragt.
32
Der Vertreter des beklagten Finanzamtes beantragt, die Klage abzuweisen.
33
Zur Begründung wird auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung verwiesen und ergänzend ausgeführt, dass die Ablehnung nicht wegen der fehlenden Bescheinigung erfolgt sei, sondern deshalb, weil es sich auch bei freier Beweiswürdigung aller Umstände im Wesentlichen um einen altersbedingten Umbau und nicht um abgrenzbaren behinderungsbedingten Mehrbedarf handele.
34
Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die Niederschrift, die Schriftsätze der Beteiligten mit Anlagen sowie auf die vom Finanzamt vorgelegten Einkommensteuerakten, die BNV Akte sowie die Rechtsbehelfsakten der Kläger verwiesen.

Entscheidungsgründe

35
Die Klage hat keinen Erfolg.
36
Der Ablehnungsbescheid des Finanzamts vom 15.04.2021 sowie die hierzu ergangenen Einspruchsentscheidungen vom 07.07.2021 sind nicht rechtswidrig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.
37
Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, dass einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einer späteren Zeit und, soweit sie die Steuer mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden (§ 163 Abs. 1 Satz 2 AO).
38
1. Die Entscheidung über einen Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen hat Vorrang gegenüber der Festsetzung der Steuer.
39
Die Festsetzung der Steuer richtet sich nach den jeweiligen Vorschriften des materiellen Steuergesetzes, hier des Einkommensteuergesetzes. Für die abweichende Festsetzung bzw. den Erlass der Steuer ist dagegen von Bedeutung, ob Billigkeitsgründe sachlicher oder persönlicher Art gegeben sind. Verfahrensrechtlich wird die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO, in einem gesonderten Verwaltungs- und ggf. auch Rechtsbehelfsverfahren getroffen. Sie ist sodann ein für die Festsetzung einer Steuer bindender Verwaltungsakt und damit Grundlagenbescheid für die Steuerfestsetzung i.S. des § 171 Abs. 10 AO, die folglich nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO anzupassen ist (BFH-Urteil vom 21.07.2016 X R 11/14, BStBl. II 2017, 22 m.w.N., Rn. 16; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 163 Tz. 21b und § 74 FGO Tz. 10).
40
Das die Steuerfestsetzung betreffende Verfahren kann deshalb gemäß § 74 FGO ausgesetzt werden, um die Entscheidung der Finanzverwaltung über den Erlass einer Billigkeitsmaßnahme herbeizuführen. Ob dies geschieht, steht im Ermessen des Gerichts, bei dem das auszusetzende Verfahren anhängig ist (BFH-Urteil vom 10.09.2015 V R 17/14, BFH/NV 2016, 80; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 163 AO Tz. 30).
41
2. Die Entscheidung über einen Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO), bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden. Die Unbilligkeit kann sich aus persönlichen oder sachlichen Gründen ergeben (BFH-Beschluss vom 12.07.2017 VI R 36/15, BStBl. II 2017, 979, Rn. 12 m.w.N.; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 163 Tz. 7ff).
42
3. Eine Ermessensentscheidung (§ 5 AO) unterliegt nach § 102 FGO grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung. Das Gericht darf die angegriffene Ermessensentscheidung nur auf Ermessensfehler, nämlich Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung und Ermessensfehlgebrauch prüfen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 18.02.2016 V R 62/14, BStBl. II 2016, 589, m.w.N.). Das Gericht darf selbst keine Billigkeitsentscheidung treffen. Im Fall einer Ermessensreduzierung auf Null darf es die Finanzbehörde aber zum Erlass einer entsprechenden Billigkeitsentscheidung verpflichten (vgl. Baum in: AO – eKommentar, § 163 AO, Rn. 52). Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Frage des Vorliegens einer sachlichen oder persönlichen Unbilligkeit eine Frage des Tatbestandes ist und daher der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 Tz. 98; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 163 AO Tz. 10a; Oellerich in: Gosch, AO/FGO, Stand Mai 2023, § 163 AO, Rn. 225).
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4. Dass ein Fall der persönlichen Unbilligkeit vorliegt, wurde von den Klägern weder geltend gemacht noch ist dies sonst ersichtlich. Es liegt im Streitfall jedoch auch keine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen vor.
44
a) Bei der Entscheidung über eine sachliche Billigkeitsmaßnahme ist auf den Einzelfall abzustellen. Sie ist atypischen Ausnahmefällen vorbehalten. Billigkeitsmaßnahmen dienen der Anpassung des steuerrechtlichen Ergebnisses an die Besonderheiten des Einzelfalls, um Rechtsfolgen auszugleichen, die das Ziel der typisierenden gesetzlichen Vorschrift verfehlen und deshalb ungerecht erscheinen. Sie gleichen Härten aus, die der steuerrechtlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers nicht entsprechen und damit zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393). Sachlich unbillig ist die Erhebung einer Steuer vor allem dann, wenn sie im Einzelfall nach dem Zweck des zugrundeliegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (BFH-Urteile vom 21.10.1987 X R 29/81, BFH/NV 1988, 546; vom 21.01.1992 VIII R 51/88, BStBl. II 1993, 3). Unbeachtet bleiben müssen hingegen grundsätzlich solche Erwägungen, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt. Auch dürfen Billigkeitsmaßnahmen nicht dazu führen, die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes zu unterlaufen (BFH-Beschluss vom 12.07.2017 VI R 36/15, BStBl. II 2017, 979, Rn. 15 m.w.N.). Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt keine Billigkeitsmaßnahme (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 163 AO Tz. 7ff).
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b) Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag nach § 33 Abs. 1 EStG die Einkommensteuer dadurch ermäßigt, dass der Teil der Aufwendungen, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung (Absatz 3) übersteigt, vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird. Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen.
46
c) Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Entlastungsbeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich der außergewöhnlichen Belastungen ausgeschlossen sind daher die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (z.B. BFH-Urteil vom 26.06.2014 VI R 51/13, BStBl. II 2015, 9), sowie private Aufwendungen, die über die Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein hinausgehen. Deshalb stellen die §§ 33, 33a und 33b EStG auch nur außergewöhnliche – insbesondere existentiell notwendige oder der Sicherung der Existenz dienende – atypische Aufwendungen steuerfrei (BFH-Urteil vom 26.10.2022 VI R 25/20, BStBl. II 2023, 372, Rn. 14).
47
d) Diese Voraussetzung ist nur erfüllt, wenn die aufgeführten Gründe der Zwangsläufigkeit von außen auf die Entschließung des Steuerpflichtigen in einer Weise einwirken, dass er ihnen nicht ausweichen kann (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 26.10.2022 VI R 25/20, BStBl. II 2023, 372 m.w.N.), der Steuerpflichtige also keine tatsächliche Entschließungsfreiheit hat, bestimmte Aufwendungen vorzunehmen oder zu unterlassen. Eine tatsächliche Zwangslage – die im Streitfall allein in Betracht kommt – kann nur durch ein unausweichliches Ereignis tatsächlicher Art begründet werden, nicht jedoch durch eine maßgeblich vom menschlichen Willen beeinflusste Situation (BFH-Urteil vom 26.10.2022 VI R 25/20, BStBl. II 2023, 372, Rn. 15).
48
e) In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass Krankheitskosten ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zweck der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl (BFH-Urteil vom 23.03.2023 VI R 39/20, BFH/NV 2023, 1003, Rn. 12). Als außergewöhnliche Belastungen hat der Bundesfinanzhof weiter Aufwendungen anerkannt, die geleistet werden, um den existenznotwendigen Wohnbedarf zu befriedigen (BFH-Urteil vom 21.04.2010 VI R 62/08, BStBl. II 2010, 965, m.w.N.), existenznotwendige Gegenstände wieder zu beschaffen (z.B. BFH-Urteil vom 29.03.2012 VI R 21/11 BStBl. II 2012, 574, m.w.N.) oder gesundheitsgefährdende Gegenstände des existenznotwendigen Bedarfs auszutauschen (z.B. BFH-Urteil vom 29.03.2012 VI R 70/10, BStBl. II 2012, 572, m.w.N.) bzw. von diesen ausgehende Gesundheitsgefahren zu beseitigen (BFH-Urteil vom 29.03.2012 VI R 47/10, BStBl. II 2012, 570, m.w.N.). Demgegenüber hat der Bundesfinanzhof Aufwendungen für die Anschaffung eines größeren Grundstücks zum Bau eines behindertengerechten Bungalows (BFH-Urteil in BStBl. II 2014, 931), für den behinderungsbedingten Umbau einer Motoryacht (BFH-Beschluss in BStBl. II 2015, 775) und für eine behindertengerechte Gartenumgestaltung (BFH-Urteil vom 26.10.2022 VI R 25/20, BStBl. II 2023, 372) nicht als zwangsläufigen Mehraufwand für den existenznotwendigen Wohn- bzw. Grundbedarf anerkannt, da diese Aufwendungen in erster Linie Folge eines freien Konsumverhaltens waren.
49
Solange § 33 EStG hinsichtlich des Merkmals der Zwangsläufigkeit nicht zwischen behinderten und nicht behinderten Steuerpflichtigen differenziert, besteht kein Anlass zu einer unterschiedlichen Auslegung des Begriffs der Zwangsläufigkeit betreffend diese beiden Gruppen von Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 26.10.2022 VI R 25/20, BStBl. II 2023, 372, Rn. 19).
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5. Nach diesen Rechtsgrundsätzen ist die angefochtene Entscheidung nicht zu beanstanden. Das Finanzamt hat mit seiner ablehnenden Entscheidung über eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen die gesetzlichen Grenzen des Ermessens weder überschritten noch hat es von dem ihm eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Es hat auch nicht angenommen, ihm stehe eine Ermessensbefugnis nicht zu. Vielmehr hat das Finanzamt ungeachtet der Vorgabe in R 33.4 der Einkommensteuer-Richtlinien 2012 mit der Einspruchsentscheidung eine eigenständige Ermessensentscheidung getroffen und sich mit den einschlägigen Rechtsgrundlagen auseinandergesetzt.
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Auch hat das Finanzamt nach der Überzeugung des Gerichts zutreffend entschieden, dass keine sachlichen oder persönlichen Billigkeitsgründe vorliegen, die zu einer abweichenden Steuerfestsetzung führen können. Die Umbaumaßnahmen waren im Streitjahr durchaus sinnvoll, aber noch nicht erforderlich, um den existenznotwendigen Wohnbedarf zu befriedigen. Die Steuerpflichtigen waren frei in ihrer Entscheidung, einen altersgerechten bzw. behindertengerechten Umbau des Wohnhauses im Streitjahr oder erst später vorzunehmen. Ein unausweichliches Ereignis tatsächlicher Art und eine damit ausgelöste Zwangslage hierzu bestand im Streitjahr nach Auffassung des Senats nicht. Das von der Klägerseite angeführte Argument des „vorausschauenden Handelns“ im Hinblick auf eine erwartbare gesundheitliche Entwicklung widerspricht der vom Gesetz geforderten Zwangsläufigkeit.
52
An Anhaltspunkten für das Vorliegen von atypischen Besonderheiten, die ausnahmsweise eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen rechtfertigen könnten, fehlt es im Streitfall. Der Senat verkennt hierbei nicht, dass den Kläger eine sehr schwere Erkrankung getroffen hat, die zu einer stetigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes führt und die bis zum Tag der mündlichen Verhandlung auch weiter fortgeschritten ist. Es bestehen jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber das Problem des sich stetig verschlechternden Gesundheitszustandes nicht gesehen hat. Eine mit steigenden Lebensalter eintretende Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist gerade bei älteren Menschen und damit auch bei dem im Klagejahr über 70-jährigen Kläger nicht ungewöhnlich, auch wenn es diesen besonders schwer trifft. Schließlich ist der § 33 EStG eine Ausnahmevorschrift zur allgemeinen Regel, dass private Aufwendungen steuerlich nicht zu berücksichtigen sind. Auch dies spricht gegen eine Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Vorschrift über den Wortlaut hinaus.
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6. Einen Antrag auf Verteilung der Aufwendungen auf zwei Jahre hat die Klägerseite zuletzt nicht mehr geltend gemacht, sodass das Gericht hierüber nicht zu entscheiden hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.