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Meinung Fraglicher Zeitgeist

Die grüne Debatte um Pädophilie ist unumgänglich

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Volker Beck Volker Beck
Volker Beck, heute menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, schrieb 1988 ein „Plädoyer für eine realistische Neuorientierung der Sexualpolitik“
Quelle: picture alliance / dpa
Pädophilie ist ein Tabuthema – nur nicht für Teile der frühen Grünen. Darüber muss gesprochen werden. Leider ist Selbstkritik nicht in den Genen der Partei angelegt.

Haben die Grünen nun ein Problem mit ihrer Vergangenheit? Seit geraumer Zeit wird über Versuche aus den 80er-Jahren debattiert, in der grünen Partei die Forderung nach Straffreiheit für Pädophilie und Päderastie programmatisch zu verankern. Sie betrafen offenbar nur einen Landesverband, den besonders linken in Nordrhein-Westfalen. Und sie fanden wohl zu keinem Zeitpunkt Eingang in offizielle Programme.

Aber es gab solche Versuche, die Grünen für Pädophiles zu instrumentalisieren. Einiges weist darauf hin, dass im Inneren der Partei Einzelne und Gruppen oder Grüppchen bemüht waren, Pädophilie hoffähig zu machen. Jedenfalls gab es im bunten Reigen der Bundesarbeitsgemeinschaften auch eine, die sich diesen Namen gab: „Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle“. Sie wurde BAG SchwuP abgekürzt. Das ragte deutlich aus den damals üblichen, oft provokativen Wortspielereien heraus. SchwuP – das klingt nach schwuppdiwupp: mal eben so ein Tabu beiseiteräumen.

Haben die Grünen also ein Problem mit ihrer Vergangenheit? Natürlich haben sie es. Alle Vergangenheiten halten Dunkles bereit, das die Erinnerung gerne wegschließt. Bei den frühen Grünen handelt es sich manchmal um Dunkles, oft um Wirres und Törichtes.

Wie können halbwegs intelligente Menschen darauf kommen, das grundlegende Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern zu übersehen und zu glauben, kleinen Kindern sei eine selbstbestimmte sexuelle Entscheidung möglich?

Hauptsache Tabubruch

Ein Teil der damaligen Grünen war Mitte der 80er-Jahre noch von jenem Geist von 68 geprägt, der in jedem Tabu Repression sah und die Befreiung von allem und jedem für eine gute Sache hielt. Es stand die weit übers Ziel hinausschießende Idee von der sexuellen Befreiung dahinter, für die es ja auch gute Gründe gegeben hatte.

Hier aber war jedes Maß verloren. Auf eine Formel gebracht: Der Staat verbietet Sexualität mit Kindern – also sind wir dafür. Daher kam die gefährliche Toleranz gegenüber Pädophilie, wie auch gegenüber Kleinkriminalität, Drogen und Gewalt gegen den Staat.

Auch linke Toleranz konnte repressive Toleranz sein. Es kam bei den Grünen anfangs oft vor, dass sie in ihren Forderungen höchst widersprüchlich waren. Nur ein Beispiel: Sie forderten kleine Kreise sowie den Rückbau der Industriegesellschaft – und im gleichen Programm den entschlossenen Ausbau des Sozialstaats, der eine keineswegs rückgebaute Industriegesellschaft voraussetzt.

Sie haben diesen inneren Konflikt scheinhaft, bequem, man kann auch sagen: feige harmonisiert. Feige auch deswegen, weil sich die Mehrheit – die zu Teilen ja schon im wirklichen Leben angekommen war – nicht traute auszusprechen, was sie gleichwohl wusste: dass Tabus nötig sind.

Ausgeuferte Befreiungsidee

Die Schriftstellerin Sophie Dannenberg hat kürzlich beschrieben, dass es in den 70er-Jahren im Umfeld ihres Kinderladens Fälle von Kindesmissbrauch gegeben habe. Die Erwachsenen, die dieses Verbrechen begingen, taten das nicht, schreibt sie, weil sie pädophil waren: „Sie taten es, weil sie Sex mit Kindern für fortschrittlich hielten, weil sie dachten, dass Scham und Hemmung bourgeois seien.“

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Diese Umkehrung aller Werte, diese außer Rand und Band geratene Befreiungsidee fand auch bei den Grünen kurzzeitig eine Herberge. Dennoch: Der Mehrheit der Grünen war bei den Auftritten der Befürworter von Pädophilie nicht wohl, die Pädophilen wurden isoliert und später gewissermaßen ausgesondert.

Aber es bleibt die Tatsache, dass die Grünen hier nicht aufmerksam genug waren und nicht eine Spur jener Bürgerlichkeit an den Tag legten, als deren weihevolle Repräsentanten sie sich heute gerne sehen.

Die Grünen und Selbstkritik

Die Partei täte gut daran, sich zügig und rückhaltlos mit diesem Kapitel ihrer Frühgeschichte auseinanderzusetzen. Es geht ja nicht einfach nur um eine Dummheit, sondern darum, dass die Partei mit den Nachrichten über ihren Umgang mit dem Thema Pädophilie durchaus Pädophile ermuntert haben kann.

Diese Selbstkritik wird den Grünen schwerfallen, denn der kritische Umgang mit sich selbst ist in den Genen der Partei nicht enthalten. Weil sie – Rettung von Natur und Schöpfung – gleich mit gattungsgeschichtlichem Aplomb die politische Bühne betreten hat, imprägnierte sie sich relativ früh als eine Partei, die moralisch in einer kategorial anderen Liga zu spielen glaubte als alle anderen, denen der Verschrottungsbegriff „Altparteien“ reserviert war.

Von dieser Haltung können sie sich nur schwer lösen, sie ist ihnen – wie man jedem Augenaufschlag von Cem Özdemir anmerken kann – geradezu habituell geworden. Dass sie im Geistesgericht einmal auf dem Anklagebänkchen sitzen könnten, dagegen sträubt sich alles bei ihnen.

„Neuorientierung der Sexualpolitik“

1988 erschien ein von Joachim S. Hohmann unter dem Pseudonym Angelo Leopardi herausgegebener Sammelband mit dem Titel „Der pädosexuelle Komplex. Handbuch für Betroffene und ihre Gegner“.

Das Buch schließt mit einem Aufsatz von Volker Beck, heute menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag: „Das Strafrecht ändern? Plädoyer für eine realistische Neuorientierung der Sexualpolitik“. Darin geht es um die Frage, ob in Zeiten von Aids und Helmut Kohl eine neue Sexualpolitik überhaupt eine Chance habe.

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Beck setzt sich explizit kritisch mit dem grünen Lüdenscheider Papier auseinander, das die komplette Streichung des Sexualstrafrechts forderte. Was ihn allerdings traurig stimme, schreibt der Autor sodann, „ist die kritiklose Übernahme der kollektiven Vorurteile dieser Gesellschaft“. Von den Grünen sei, das klingt bedauernd, „keine Initiative im Bereich der Pädosexualität zu erwarten“.

Pädophilie, kein einmaliges Thema

Der Aufsatz endet mit diesen Worten: „Allein eine Mobilisierung der Schwulenbewegung für die rechtlich gesehen im Gegensatz zur Pädosexualität völlig unproblematische Gleichstellung von Homo- und Heterosexualität durch die Streichung des § 175 StGB und für die Rechte der Homosexuellen wird das Zementieren eines sexualrepressiven Klimas verhindern können – eine Voraussetzung, um eines Tages den Kampf für die zumindest teilweise Entkriminalisierung der Pädosexualität aufnehmen zu können.“

Das ist, genau gelesen, kein wirkliches Plädoyer für Pädophilie und Päderastie, aber weit davon entfernt ist es auch nicht. Es belegt, dass die SchwuP-Debatte von 1985 keineswegs ein einmaliges Ereignis war. Zumindest Teile der Grünen trieb das Thema Pädophilie um.

Nicht obwohl, sondern weil in vier Monaten die Bundestagswahl stattfindet, sollten die Grünen mit Elan die rückblickende Debatte darüber eröffnen. Und auch Volker Beck, der sonst gerne auf dem Moralthron sitzt, täte gut daran, sich unmissverständlich zu äußern. Und er sollte sein Glück zu schätzen wissen: Jeder Unionsabgeordnete, den man mit solchen Zitaten konfrontieren würde, wäre wohl politisch augenblicklich erledigt.

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