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Ex-»Bild«-Chefredakteur Warum Julian Reichelt gehen musste

Nach einem überstandenen Compliance-Verfahren galt »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt als rehabilitiert. Erkenntnisse aus monatelangen Recherchen sorgten für seinen Abgang. Die Geschichte des Jahres.

Julian Reichelt: Selbst für »Bild«-Verhältnisse war er ein besonderer Fall

Julian Reichelt: Selbst für »Bild«-Verhältnisse war er ein besonderer Fall

Foto: Marco Urban

Es waren Nachrichten, wie Verliebte sie schreiben. Nur, dass der Mann, der sie verschickte, nicht der Freund der Adressatin war, sondern der Chefredakteur von »Bild«, Julian Reichelt. Und die Frau, die sie erhielt, eine Berufseinsteigerin. Die Nachrichten kamen überwiegend nachts, zum Teil aber auch aus Redaktionskonferenzen, mit intimem Inhalt. »Noch wach?«, stand da, oder »Ich will deinen Körper spüren«. So jedenfalls wird die Frau es später zu Protokoll geben.

Dass Reichelts Umgang mit jungen Kolleginnen mindestens fragwürdig ist, wurde im März dieses Jahres öffentlich. Damals war bekannt geworden, dass der Axel Springer Verlag, in dem »Bild« erscheint, ein internes Untersuchungsverfahren gegen Reichelt angestrengt hatte. Der SPIEGEL berichtete als Erster darüber.

An diesem Montag hat der Verlag mit einem halben Jahr Verspätung Konsequenzen gezogen. Axel Springer hat »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden, wie das Unternehmen in einer Pressemitteilung schreibt. »Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen«, so das Unternehmen. Auch der SPIEGEL hatte den Verlag heute mit neuen Erkenntnissen konfrontiert. Nun habe der Vorstand erfahren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 »Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.«

Nach SPIEGEL-Informationen soll es tatsächlich eine weitere sexuelle Beziehung zwischen Reichelt und einer ihm unterstellten Mitarbeiterin gegeben haben. Bei Springer heißt es, es habe klare Hinweise und Beweise gegeben, dass Reichelt bereits in dem Verfahren die Unwahrheit über die Beziehung gesagt habe. Später habe er sie auch nicht beendet. Damit sei einer weiteren Zusammenarbeit das Vertrauen entzogen worden.

Reichelt wurde dem Vernehmen nach direkt vom Vorstand konfrontiert und von seinen Aufgaben entbunden. In den weiteren Wochen werde nun eine arbeitsrechtliche Lösung gefunden. Er selbst wollte sich auf Anfrage nicht zu den neuen Anschuldigungen äußern.

Massive Vorwürfe im Frühjahr

Tatsächlich waren die Vorwürfe gegen Reichelt bereits im Frühjahr massiv gewesen: Machtmissbrauch, Vermischung von beruflichen und privaten Beziehungen zu Mitarbeiterinnen, die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen. Doch nach einer knapp zweiwöchigen Freistellung kehrte der »Bild«-Boss zunächst auf seinen Posten zurück, zur Verwunderung vieler in der Redaktion, teils auch zu ihrem Entsetzen. Die einzigen sichtbaren Veränderungen: Reichelt verlor seinen Posten als Geschäftsführer. Und ihm wurde eine Co-Chefredakteurin an die Seite gestellt.

In einem Statement zu Reichelts Rückkehr suggerierte Springer damals: alles halb so wild. Es habe »keine Anhaltspunkte für sexuelle Belästigung oder Nötigung« gegeben. Die in der Untersuchung festgestellten »Fehler in der Amts- und Personalführung – die nicht strafrechtlicher Natur sind« hätten es nicht gerechtfertigt, ihn als Chefredakteur abzuberufen. Reichelt selbst bestritt die Vorwürfe, es habe keine beruflichen Entscheidungen von ihm gegeben, die von privaten Beziehungen geprägt oder sonst beeinflusst gewesen seien, sämtliche Personalentscheidungen seien aufgrund sachlicher Gründe und seiner persönlichen Einschätzung der fachlichen Qualifikation der jeweiligen Personen entsprechend getroffen worden. Nach Abschluss des Verfahrens ließ er sich mit ein paar Worten der Reue zitieren: »Was ich mir vor allem vorwerfe, ist, dass ich Menschen, für die ich verantwortlich bin, verletzt habe.« Seither galt der Fall als erledigt, Reichelt als rehabilitiert. Springer schreibt heute: »Statt einer Kündigung gab es eine zweite Chance.«

Dass die Sache so schnell zu den Akten gelegt wurde, schien zu bestätigen, was einige im Verlag befürchtet hatten: Ein ernsthaftes Interesse, Reichelt in die Schranken zu weisen, habe es lange nicht gegeben. Dabei hatten Springer-Chef Mathias Döpfner und Vorstandsmitglied Jan Bayer, nachdem das Verfahren öffentlich bekannt worden war, den Mitarbeitern in einem Schreiben versichert, man tue alles, um gründlich aufzuklären.

Öffentlich geäußert hat sich bislang keine der Frauen, die gegen Reichelt aussagten – auch aus Angst vor seiner Rache. Noch während des Verfahrens hatte der an seine Mannschaft geschrieben, er werde sich »gegen die wehren, die mich vernichten wollen, weil ihnen ›Bild‹ und alles wofür wir stehen, nicht gefällt.« Gegen den SPIEGEL ging Reichelt bereits vor: Einen Text über die Untersuchung gegen ihn und seine möglichen Verfehlungen versuchte er gerichtlich zu verbieten und erwirkte eine Unterlassung, weil ihn die an die Springer-Kommunikation verschickten Fragen angeblich nicht erreicht hätten. Der Artikel blieb mit einem Nachtrag online.

Von »Fehlern« und »Verletzungen«

Auch auf Anfragen zu diesem Bericht verwiesen Anwälte Reichelts und des Verlages noch darauf, die Vorwürfe seien unwahr, weder von gravierendem Gewicht noch strafrechtlich relevant, sie seien allesamt durch externe Dritte geprüft, das Compliance-Verfahren nach wenigen Wochen eingestellt worden, weil sich keine Belege für ein strafbares Verhalten gefunden hätten; Reichelt sei keine öffentliche Person, sodass Beziehungen aus seinem Privatleben nicht von öffentlichem Interesse seien. Zudem seien die Vorgänge schon eine geraume Zeit her, es fehle deshalb an »aktuellem Informationswert«.

Der ist nun offensichtlich gegeben: Nach Reichelts Abgang hat Axel Springer Johannes Boie, derzeit Chefredakteur »Welt am Sonntag«, zum neuen »Bild«-Chef bestellt. Reichelts Co-Chefin Alexandra Würzbach bleibt.

Nach Springers denkwürdiger Pressemitteilung im Frühjahr hatte die Öffentlichkeit noch gerätselt, was denn wohl mit »Fehlern« und »Verletzungen« gemeint gewesen sei. Dass es angeblich keine Anhaltspunkte für einen Machtmissbrauch gab, wie Springer damals sagte, lässt sich nach eingehender Recherche indes kaum mehr halten. Ein SPIEGEL-Team sprach in den vergangenen Monaten mit einem halben Dutzend Frauen, die im Zuge des Compliance-Verfahrens befragt worden waren, sowie mit Vertrauten dieser Frauen, sichtete Hunderte Nachrichten auf Handys, Messengerdiensten und E-Mails und wertete Dokumente aus, um die Schilderungen zu überprüfen.

Am Sonntag hatte schon die »New York Times«  über den Fall Reichelt berichtet. Bei Axel Springer gebe es »Vorwürfe über Sex, Lügen und eine geheime Zahlung«, schrieb Redakteur Ben Smith und nannte mehrere Fälle aus dem Compliance-Verfahren, die auch dem SPIEGEL bekannt sind. Ein Rechercheteam des deutschen Ippen-Verlags hatte sich in den vergangenen Monaten ebenfalls mit den Vorwürfen gegen Reichelt auseinandergesetzt. Eine Veröffentlichung des Texts stand in den vergangenen Tagen kurz bevor, wurde jedoch von Verleger Dirk Ippen kurzfristig verhindert – die Begründung: Man wolle den Anschein vermeiden, einem Wettbewerber auf dem Zeitungsmarkt zu schaden. Teile dieser Recherchen finden deshalb nun Eingang in diesen SPIEGEL-Bericht.

Frauen seien nach »Fuckability« beurteilt worden

Die Recherchen zeichnen das Bild eines Chefredakteurs, der mit Mitarbeiterinnen, die eigentlich unter seinem Schutz stehen, mitunter so umging, dass man sie eher vor ihm schützen müsste. Es geht um das Machtgefälle zwischen jungen Frauen und Deutschlands lange Zeit mächtigstem Boulevardjournalisten, um Sex, der zwar einvernehmlich war, aber augenscheinlich mit beruflichen Vor- und Nachteilen verbunden, um drängende Nachrichten mitten in der Nacht. Und um einen Umgang mit Frauen, der sich auch kaum dadurch entschuldigen ließ, dass der Sexismus in der Berichterstattung der »Bild« traditionell auch in der Redaktion gepflegt wurde.

Es ist nicht so, dass es bei Bild keine mächtigen Frauen gibt. Die Kultur war gleichwohl immer männlich geprägt: »It's a man's world«, sagte eine langjährige Führungskraft. Frauen würden bei »Bild« vor allem nach ihrer »Fuckability« beurteilt – sowohl in der Berichterstattung, aber auch intern. Teilweise säßen Frauen »als Dekoration« in den Konferenzen, sagt ein anderer.

Doch selbst für »Bild«-Verhältnisse war Reichelt ein besonderer Fall. Sein Vorgehen hatte, so scheint es, System. Jungen Frauen in seiner Redaktion näherte er sich demnach häufig nach demselben Muster: Er lobte sie für ihre Arbeit, vertraute ihnen verantwortungsvolle Aufgaben an oder hievte sie in Positionen, für die sie – teils auch nach ihrem eigenen Ermessen – nicht geeignet waren. Reichelt war für den weiblichen Nachwuchs Förderer und Verführer zugleich.

Mitarbeiter beschrieben Reichelt als machtbesessen. Als jemanden, der einen aggressiven Ton anschlug, Menschen demütigte, der überall Verräter und Konkurrenten sah. Frauen, die sich auf ihn einließen, erlebten ihn auch anders. Als einen Menschen, der süßliche Nachrichten schrieb, der sich nahbar zeigte, verletzlich, der auch weinen konnte. Und der ihnen schnell das Gefühl gab, ein wichtiger Teil seines Lebens zu sein. »Er bringt einen dazu, innerhalb kürzester Zeit über brennende Brücken zu laufen«, sagt eine Person aus seinem beruflichen Umfeld.

Bei »Bild« hatte man sich irgendwann an Reichelts Verhalten gewöhnt. So berichten es mehrere ehemalige Mitarbeiterinnen. Es sei vorgekommen, dass neue Volontärinnen, bevor sie den Konferenzraum betraten, angekündigt wurden mit: »Vorsicht, das ist eine von Julian.«

Mit Komplimenten gelockt

Eine der Frauen, die gegen Reichelt aussagten, ist Constanze Müller (Name geändert). Im März wurde sie von der Wirtschaftskanzlei Freshfields, die Springer mit der Aufklärung beauftragt hatte, zu den Vorwürfen befragt. Ob Reichelt Jobs davon abhängig mache, dass man mit ihm schlafe, wollte die Untersuchungsleiterin wissen, so steht es in einem Protokoll des Gesprächs, das dem SPIEGEL über Dritte zukam. Die Frau antwortete demnach: Dafür sei sie ja wohl das beste Beispiel.

Auch Müller war von Reichelt mit Komplimenten gelockt worden, 2016 war das, sie war Volontärin, er Digitalchef von »Bild«. Er lobte ihre Intelligenz, ihr Aussehen, ihre Arbeit, schließlich verfingen die Schmeicheleien, sie schliefen miteinander. Wie zahlreiche andere Frauen hielt Müller Reichelt für vertrauenswürdig und charmant, verknallte sich. Das geht aus dem Protokoll hervor.

Dass das Verhältnis für ihn problematisch werden könnte, soll Reichelt damals schon gewusst haben: Reichelt, gab Müller bei Freshfields an, habe sie damals aufgefordert, ihren kompletten Nachrichtenverlauf zu löschen – wenn jemand rauskriege, was zwischen ihnen laufe, hätten sie »ganz großen Ärger«. Doch Nachrichten, die das sexuelle Verhältnis belegen, existierten durchaus noch. Müller selbst will sich auf Anfrage nicht äußern.

Dass Reichelt sexuelle Verhältnisse mit Frauen hatte, die in der Hierarchie unter ihm standen, war in der Redaktion bekannt.

2018 übernahm sie eine prestigeträchtige Aufgabe bei »Bild«, offenbar auf Reichelts Wunsch. Ihrer Aussage zufolge hatte sie Zweifel, ob sie das überhaupt könne, zumal sie damals noch als Volontärin arbeitete. Reichelt schlug auch die Warnung von Müllers direkten Vorgesetzten und Kollegen, die ihr die Aufgabe ebenfalls nicht zutrauten, offenbar aus. »Das ist ein Wahnsinn gewesen, sie war noch gar nicht so weit«, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin.

Mehrfach traf Reichelt Müller laut den Unterlagen damals in Hotels, meistens in der Nähe des Springer-Gebäudes, zum Sex.

Müller litt unter der Situation. Der Druck des Jobs sei enorm gewesen und sie mit ihren Kräften am Ende. Hinter ihrem Rücken sei getuschelt worden, dass sie nur wegen ihrer Beziehung zum Chef an die Position gekommen sei, sie habe sich gemobbt gefühlt. Schließlich sei Müller zur psychiatrischen Behandlung in eine Klinik gegangen und für mehrere Wochen krankgeschrieben worden. Ehemalige »Bild«-Leute sagen, sie hätten über Monate beobachtet, wie schlecht es der Frau ging, wie sie immer häufiger krank wurde. Auch den Klinikaufenthalt bestätigen sie. Sie sei mit der Position offensichtlich überfordert gewesen, das hätten sie auch Reichelt gesagt.

Reichelt schwärmte von intimen Kontakten

Dass Reichelt sexuelle Verhältnisse mit Frauen hatte, die in der Hierarchie unter ihm standen, war in der Redaktion bekannt, die Affären reichten teils zurück bis ins Jahr 2014. Mehrere Frauen beschreiben, dass sich Reichelt bereits zu Beginn ihrer Ausbildungszeit bei Springer als eine Art »Mentor« etabliert, sie regelmäßig kontaktiert und ihnen Komplimente zu ihrer Arbeit gemacht habe. »Er sagte, ich sei das begabteste Nachwuchstalent, das es je gab«, erinnert sich eine von ihnen.

Besonders im Politik- und Showressort habe Reichelt »gewildert«, heißt es aus Redaktionskreisen. Darunter seien immer wieder Berufsanfängerinnen gewesen. Wenn eine neue Praktikantin auf dem roten Sofa im Newsroom, wo eine Zeit lang die Blattkritiken abgehalten wurden, besonders witzig und eloquent aufgetreten sei, habe man »die Uhr danach stellen können«, dass Reichelt ihr kurz darauf »nachstellte«, sagt eine ehemalige Springer-Führungsperson.

Wie viele Frauen in seinem Leben Platz fanden, wollte Reichelt nicht immer für sich behalten. In Nachrichten, die der SPIEGEL einsehen konnte, schwärmte er von intimen Kontakten: mit einer Frau, die er in sein unmittelbares berufliches Umfeld holte, mit einer Politikerin, mit einer Volontärin, mit einer weiteren Frau, die später an der hauseigenen Journalistenschule, der Axel Springer Akademie, ihre Ausbildung begann. Reichelts Anwalt schreibt dazu, die Nachrichten seien privat und vertraulich, man dürfe nichts daraus veröffentlichen.

»Mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeits-Staat«

Es gibt Zweifel daran, ob Springer im Frühjahr überhaupt an einer ernsthaften Aufklärung des Falls interessiert war. Mehrere Frauen berichten davon, dass sie den Ermittlungen grundsätzlich misstrauten. Dafür gab es offenbar gute Gründe: Constanze Müller habe während der Ermittlungen plötzlich ungebetene Ratschläge aus Berlin erhalten, wie intern bei Springer bekannt wurde. Ein Vertrauter Reichelts hinterließ über Dritte bei ihr telefonisch den Hinweis: Wenn sich eine Anwältin bei ihr melde, solle sie besser nichts sagen. Der Vorgang wurde sowohl der Compliance-Abteilung als auch dem Vorstand gemeldet.

In einem Schriftsatz, der den SPIEGEL im Zuge der juristischen Auseinandersetzungen mit Julian Reichelt erreichte, liefert sein Anwalt gleich mehrere gute Gründe, warum ein solcher Anruf nicht als Einschüchterung zu verstehen sei – falls er überhaupt stattgefunden habe. Vielleicht habe der Mann die Zeugin ja gar nicht einschüchtern, sondern sie vor »Traumatisierung« und »Anfeindungen« schützen wollen? Springer versprach in der Angelegenheit eine weitere Untersuchung. Von einem Ergebnis ist bis heute nichts bekannt. Auf eine Anfrage hierzu äußerte sich der Verlag nicht.

»Ein Arbeits- und Berufsalltag ohne die Vermischung von Beruflichem und Privatem ist kaum vorstellbar.«

Nachdem Reichelt aus seiner knapp zweiwöchigen Pause zurückgekehrt war, wandte sich Springer-CEO Mathias Döpfner Ende März vier Tage später in einer Videokonferenz an die Belegschaft, wie »Medieninsider« zuerst berichtet hatte . Dem Verleger gelang dabei die rhetorische Volte, einerseits »ganz klar« zu sagen, dass er in einer Hierarchiebeziehung private Beziehungen »nicht vorbildlich, nicht akzeptabel« finde – und sich trotzdem schützend vor Reichelt zu stellen. Dessen Arbeit sei erfolgreich, seine publizistische Leistung »richtig und extrem wichtig für dieses Land«, schwärmte Döpfner.

Journalisten als »Propaganda-Assistenten«

Was er darunter verstand, zeigt eine private Nachricht, die Döpfner laut Dritten noch während des Untersuchungsverfahrens an den Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre verschickte. An jenem Tag hatte Reichelt einen Kommentar verfasst, in dem er die Coronamaßnahmen als Beleg für einen willkürlichen Staat bezeichnete. Reichelt, schrieb Döpfner, sei »halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR Obrigkeits-Staat aufbegehrt.« Die meisten anderen Journalisten, schrieb Döpfner, seien zu Propaganda-Assistenten geworden. Stuckrad-Barre soll die Freundschaft zu Döpfner wegen des Umgangs mit dem Fall Reichelt beendet haben, heißt es.

Nun konnte selbst Döpfner seinen Chefredakteur nicht mehr halten. Die Vorwürfe wogen zu schwer.

Wohl in jedem anderen Verlag wären Affären des Chefredakteurs mit jungen Mitarbeiterinnen und nächtliche SMS-Avancen schon viel früher ein Grund zum sofortigen Rauswurf gewesen. Bei Springer dagegen wurden die Liebesbeziehungen mit Auszubildenden offenbar lange nicht als Machtmissbrauch betrachtet, sondern als Privatangelegenheit des Chefs.

Reichelts Anwalt jedenfalls hatte sich früh eine besonders kreative Verteidigung gegen die Vorwürfe zurechtgelegt. Er erklärte manche von ihnen schlicht zur Normalität. In einem der Schriftsätze, mit denen Reichelt die Berichterstattung des SPIEGEL vom vergangenen März angriff, schrieb er: »Ein Arbeits- und Berufsalltag ohne die Vermischung von Beruflichem und Privatem ist kaum vorstellbar.« Dass aus beruflichen Beziehungen auch private werden und umgekehrt, sei deshalb nicht nur keine Ausnahme – sondern vielleicht sogar »die Regel.«

Anmerkung der Redaktion: Wir haben im Beitrag den Satz entfernt, Constanze Müller habe Reichelt in einem Fall zum Sex getroffen, weil »er in Nachrichten darauf gedrungen habe, sie ihn nicht habe verärgern wollen und sich beruflich von ihm abhängig fühlte.« Müller hatte dies nicht nur in dem Compliance-Verfahren ausgesagt, sondern später auch in einem Prozess in den USA vorgetragen. Dabei handelte es sich um die Schilderung eines nächtlichen Treffens in Wien. Julian Reichelts Anwalt hat zu dem Fall inzwischen einen Chatverlauf vorgelegt, der Zweifel an der Schilderung des Abends durch Constanze Müller begründet. Danach ging in der Nacht eine starke Initiative von Müller selbst aus. Vor der Veröffentlichung unseres Beitrags hatte Julian Reichelt die Möglichkeit bekommen, zu den Vorwürfen – auch zur Nacht in Wien – Stellung zu nehmen, seine damals nur allgemein gehaltene Stellungnahme ist im Text wiedergegeben. Den Chatverlauf legte er dabei nicht vor. Laut seines Anwalts konnte Reichelt den Vorgang bis zur Sachverhaltsdarstellung in der US-Klage nicht zuordnen. Constanze Müller und ihre Anwälte waren auf Anfrage nicht zu erreichen, um zu den von Reichelt vorgelegten Chats Stellung zu nehmen. Darüber hinaus haben wir zu Beginn des Texts klargestellt, dass die dortigen Aussagen von Constanze Müller aus dem Compliance-Verfahren stammen. Zudem legt der Anwalt Julian Reichelts Wert auf die Feststellung, dass Constanze Müller die Verwendung des Protokolls Ihrer Aussagen im Compliance-Verfahren nicht autorisiert habe. Dass sie sich wie protokolliert geäußert habe, wird nicht bestritten.