Sport

Belarussische Sprinterin

„In Belarus habe ich keine Zukunft mehr“

Die belarussische Olympia-Sprinterin Kristina Timanowskaja übte Kritik am System Lukaschenko und löste damit einen Skandal aus. Im Interview spricht sie über die Diktatur in ihrer Heimat, den Krieg in der Ukraine und wie sie den Menschen dort hilft.
Floh nach Polen: Timanowskaja will ihre Meinung frei äußern können. AP

Frau Timanowskaja, Sie waren bei den Olympischen Spielen in Tokio Teil des belarussischen Teams. Gegen Ihren Willen sollten Sie bei der 4x400-Meter-Staffel antreten. Ihre öffentliche Kritik darüber reichte aus, um einen politischen Skandal in Ihrer Heimat auszulösen. Sie wurden bedroht und mussten schließlich mit ihrem Mann nach Polen fliehen.

Ich habe bei anderen belarussischen Athleten gesehen, was mir blühen würde, wenn ich zurückkehren würde. Zum Beispiel musste die Basketballspielerin und Olympionikin Yelena Leuchanka wegen der Teilnahme an einem Anti-Regierungs-Protest für zwei Wochen ins Gefängnis. Unseren Vorsitzenden im Leichtathletikverband hat man sogar in die Psychiatrie eingewiesen. Als das belarussische Fernsehen anfing, die Information zu verbreiten, dass man mich von den Spielen abgezogen habe, weil ich psychische Probleme habe, wusste ich, was mir bei einer Rückkehr drohen würde: erst Psychiatrie, dann Gefängnis. Mit solchen harten Bestrafungen will man andere Athleten abschrecken, in der Öffentlichkeit Kritik zu üben.

Ein diktatorisches System also, in dem freie Meinungsäußerung unmöglich ist?

Wir haben unsere eigene Meinung, aber freie Meinungsäußerung existiert nicht. Weder für Sportler noch für alle anderen. Man muss ständig aufpassen, was man sagt, denn für jedes Wort kann man zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden. Also schweigen die Menschen, harren aus und fürchten sich.

Warum entschlossen Sie sich für den gefährlicheren Weg?

Ich war schon vorher auf dem Radar. Ich habe über Instagram gepostet, dass die Belarussen sich nach mehr Freiheit, nach einem Wandel sehnen. Ich bekam daraufhin Anrufe, mein Cheftrainer bestellte mich zu einem Gespräch ein. Man drohte mir, mich aus der Nationalmannschaft zu werfen, mir meine Prämien vorzuenthalten, mich nicht mit nach Olympia mitzunehmen. Man sagte mir klar: „Wenn du schon keine Angst um dein Wohl hast, dann denk wenigstens an das deiner Familie. Du hast immerhin Eltern, einen Bruder, einen Ehemann. Denn für jede deiner Aussagen können auch sie alle bestraft werden.“ Die dachten wohl, dass wir alle dermaßen eingeschüchtert seien, dass wir uns nicht mehr äußern würden.

Sehen Sie da eine Parallele zum Nachbarland Russland?

Ich weiß nicht genau, wie es den Menschen in Russland gerade geht, aber ich habe gehört, dass dort genau dieselbe Propaganda genutzt wird wie auch in meiner Heimat und man der Bevölkerung Informationen in die Köpfe einhämmert, die keinen Bezug mehr zur Realität haben.

Der Krieg, den Russland nun in der Ukraine führt, betrifft auch Ihre Heimat. Sprechen Sie mit belarussischen Athleten oder Ihrer Familie darüber?

Zu meinen belarussischen Kolleginnen und Kollegen habe ich praktisch keinen Kontakt mehr. Die meisten haben mich sofort nach dem Zwischenfall damals geblockt, vielleicht, weil man es ihnen so befohlen hat, vielleicht aber auch aus Angst, dass man sie ebenfalls verfolgen würde. Nur mit einigen wenigen bin ich noch in Verbindung. Sie sind alle gegen den Krieg, aber haben Angst, sich öffentlich zu äußern. Man sagt ihnen, dass jede Demonstration oder öffentliche Aussage, zum Beispiel über Instagram, bestraft werden würde. In meiner Familie sind alle gegen den Krieg, und natürlich diskutieren wir auch darüber, aber meistens endet das im Streit. Deswegen versuchen wir, das Thema nun zu vermeiden.

Sie tauschen sich auch mit ukrainischen Athleten aus. Wie begegnet man Ihnen?

Viele Ukrainer verstehen, dass dies kein belarussischer Krieg ist und dass Belarussen, die das Land verlassen haben, Lukaschenko nicht gewählt haben und in einem freien Land leben wollten, wo man Menschen nicht einfach so ins Gefängnis steckt. Aber natürlich gibt es auch Ukrainer, die das nicht verstehen, die denken, dass alle Belarussen für Lukaschenko und den Krieg sind. Zu den ukrainischen Athleten aber habe ich kein schlechtes Verhältnis. Im Gegenteil: Wir sprechen miteinander, und sie sind dankbar für meine Unterstützung, wenn ich Geld sende oder Unterkünfte organisiere. Ich habe viele Kontakte in den sozialen Netzwerken, die schreiben mir zum Beispiel, wenn sie noch freie Wohnflächen haben, um Flüchtlinge aufzunehmen, und ich poste das dann ebenfalls und erreiche damit viele Menschen. Ich habe eine Bekleidungsmarke, und der Erlös soll den leidenden Kindern dort helfen. Ich meine, ich kann nicht einfach ein Gewehr in die Hand nehmen und dort kämpfen. Ich versuche da zu helfen, wo ich kann.

Sie helfen, weil Sie mit der Ukraine eine besondere Verbindung haben.

Ja, ich habe viele Verwandte dort, und kürzlich mussten welche aus Kiew fliehen. Wir haben sie dabei unterstützt, und nun auch diejenigen in Odessa. Ich weiß, was dort vorgeht und wie schwer es die Menschen vor Ort gerade haben. Und ich weiß, dass ich tief in mir diese ukrainischen Wurzeln habe, und schon deswegen kann ich meine Augen nicht vor dem verschließen, was da gerade passiert.

Es muss für Sie niederschmetternd sein, dass nun ein tiefer Graben zwischen der Ukraine und Belarus, das Russland im Krieg unterstützt, existiert?

Ich selbst müsste ja nach alldem, was mit mir passiert ist, meine Heimat hassen, aber so ist es nicht. Ich liebe Belarus, ich liebe die Menschen dort. Aber ich weiß auch, unter welchen Umständen sie leben und welches System da gerade vorherrscht. Ich weiß, wenn ich dorthin zurückkehren würde, würde man mich sofort verhaften. Für mich ist die Situation außerdem schwierig, weil meine Eltern schwer krank sind und ich derzeit nicht weiß, wie ich ihnen helfen kann. Mein Vater kann nicht mehr arbeiten, und wegen der Sanktionen kann ich ihm kein Geld überweisen. Es ist nicht einfach gerade.

Die Sanktionen haben auch die belarussischen Athleten hart getroffen.

Die Sportler leiden, sie können nicht mehr antreten. Sie hatten natürlich jetzt die Chance, unter der neutralen Flagge anzutreten, aber darauf hat man sich nicht eingelassen. Warum sie das nicht gemacht haben, weiß ich nicht. Ich will nicht spekulieren. Einige Athleten, mit denen ich gesprochen habe, darunter auch solche, die sogar an Olympia teilgenommen haben, überlegen nun, ihre Karriere zu beenden, auszuwandern, und es dann vielleicht im Ausland mit einer Sportkarriere zu versuchen.

Das versuchen Sie nun auch?

Ich werde für Polen antreten. Wenn man aber die Nation wechselt, ist eine dreijährige „Quarantäne“ vorgesehen. Ich will nun einen Antrag stellen, dass man in meinem Fall wegen der besonderen Umstände diese Zeit verkürzt. Den Wechsel habe ich ja nicht aus freien Stücken vollzogen. In Belarus habe ich keine Zukunft mehr.

Das Gespräch führte Alexander Davydov.

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