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Deutschland „Grünen-Konvent“ in Berlin

Nur Sekunden nach Habeck tritt Baerbock klagend auf die Bühne

Habeck lässt die Kanzlerin hinter sich

Robert Habeck ist der beliebteste Politiker Deutschlands. Damit lässt er Angela Merkel hinter sich, die bisher ganz oben in der Gunst der Befragten im Politbarometer stand. Eine neue Umfrage zeigt zudem: Jeder Vierte würde Habeck gern als Kanzler sehen.

Quelle: WELT / Sebastian Struwe

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Die Grünen wollen sich in Berlin ein neues Grundsatzprogramm geben. Allzu optimistisch dürfen sie dabei natürlich nicht rüberkommen. Der Grundkonsens: Grenzen seien allenfalls noch für eine Übergangszeit moralisch vertretbar.

Ein wenig verschult wirkt es. Aber vielleicht lässt sich Basisdemokratie nicht anders organisieren. „Ihr nehmt“, erklärt Moderatorin Sanna Schondelmayer den vielleicht 500 anwesenden Grünen-Mitgliedern und deutet auf Stapel von DIN-A-4-Pappen, „eine davon, darauf schreibt ihr ‚Ich heiße‘ und ‚Mein Anliegen ist‘ und damit geht ihr da hinten an die ‚Anliegen-Bank‘“.

Es ist Samstagmorgen, im Berliner Veranstaltungsareal „Arena“ in Treptow haben sich Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen versammelt, ergänzt um Vorständler und Abgeordnete, um das neue Grundsatzprogramm zu diskutieren, das im Herbst 2020 fertig sein soll. Am Vortag hatten die Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck einen „Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm“ in dem Kreis andiskutiert. Arbeitstitel: „Veränderung in Zuversicht.“

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Dabei stand der Optimismus keineswegs an der Wiege der Grünen, die sich vor 40 Jahren, im März 1979, als „sonstige politische Vereinigung“ zur Europawahl in jenem Jahr gründeten. Angst vor Atomkraft, Umweltzerstörung und Nachrüstung bestimmten damals die Agenda der Grünen, einem Bündnis von zunächst eher konservativen Ökologen und linksmittigen Sozialisten, in dem binnen weniger Monate radikale Ideologen aus K-Gruppen das Kommando übernahmen.

Später kamen die Realos an die Macht, die Grünen regierten in den Ländern mit, ab 1998 mit der SPD auch im Bund, und nach der Bundestagswahl 2017 sah es zunächst nach einer Jamaika-Koalition mit Union und FDP aus. Lukas Beckmann, Mitbegründer der Grünen vor 40 Jahren, sagte am Freitag, die Grünen müssten jetzt „auch das Kanzleramt anstreben“.

Die heutigen Grünen sehen sich laut Bundesgeschäftsführer Michael Kellner als „Bündnispartei“. Das sei das „Gegenteil von Volkspartei oder Beliebigkeitspartei“. Robert Habeck, laut ZDF-Politbarometer inzwischen Deutschlands wichtigster Politiker, hatte bereits am Freitag die Parole ausgegeben, man vertrete „bestimmt nicht nur apokalyptische Aussichten“ nach dem Muster: „Mit wem reitest du in den Untergang?“ Die Grünen setzten vielmehr auf Vertrauen und Zuversicht: „Wer will schon bei einer Nörgeltruppe mitmachen?“

Diese positive Grundierung in der Parteiarbeit der Grünen durchzuhalten, ist indes mehr als kompliziert. Wenige Sekunden nach Habeck klagte seine Mitvorsitzende Baerbock auf der Bühne: „Auf der anderen Seite zerrinnt uns unsere Erde jeden Tag aufs Neue.“ Unter den Füßen gebe es „60 Zentimeter Humus, wo das Leben tobt und krabbelt und kribbelt, und wir machen’s tot, betonieren es zu“.

Nein, so ganz optimistisch können die Grünen mit ihren ständigen Warnungen vor Artensterben, Klimakatastrophe, Feinstaubintoxikation und Neofaschismen kaum rüberkommen. Und die meisten der an diesem Samstag anwesenden Grünen und rund 100 sympathisierenden Interessenten (jeder konnte sich anmelden) haben mutmaßlich weder das ihnen am Vortag zugegangene 74-seitige Papier bereits gründlich studiert noch Habecks Appell zur Zuversicht verinnerlicht.

Dementsprechend bunt sind die 120 Ideen, die auf der als „Anliegen-Bank“ apostrophierten Stellwand Platz finden, jeweils eingeteilt in 40 Besprechungsgruppen zu drei vorgegebenen Uhrzeiten. Manches klingt optimistisch, vieles skeptisch, einiges eher düster.

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Und dann sind da die ganz grundsätzlichen Themen, die eher nach einem eigenen Kongress samt Sachverständigenkommission verlangen. Über eine „solidarische, soziale und gerechte Gesellschaft“ will Gunda W. diskutieren, mitsamt dem in Klammern hinzugefügten Hinweis „Sozialsysteme ändern“. Ekkehards Stichwort „Klimawandel/Energiewende“ klingt eher wie das Déjà-vu ewiger Debatten.

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Andrea N. hofft auf engagierte Kommunalpolitiker. „Gesucht: 5 klimaneutrale dt. Großstädte bis 2038. Wer ist dabei?“, steht auf ihrem Bogen. Friedel proklamiert mit Blick auf den Zwischenbericht: „Das Prinzip der Gewaltlosigkeit muss stärker betont werden.“ Wolfgang R. plädiert für eine „Außenpolitik der Regionen“, Ingrid S. für eine „Abschaffung jeglicher Prostitution“, Karsten K. für das „bedingungslose Grundeinkommen“.

 Durch eine „Europäische Sozialunion“ will Miro „Armut in Osteuropa“ bekämpfen. Margaux geht es um „gender-, sozial-, diversitätsgerechte Perspektiven“ im künftigen, dem vierten Grundsatzprogramm nach den Papieren aus den Jahren 1980, 1993 und 2002.

Es gibt auch Strittiges. „Nationale Grenzen bedingungslos öffnen?“, lässt Ben in Gruppe 25 diskutieren, mit Fragezeichen. Luca fordert „Internationale Institutionen zur Technikkontrolle“. Veteran Lukas Beckmann steuert das appellative Stichwort bei: „Eigentum verpflichtet echt jetzt“.

Dann geht er nochmals an die Stellwand und ergänzt mit dem dicken Marker: „Wie konkretisieren? Wie kommunizieren?“ Benjamin D. will im Workshop 10 sinnieren über die auf demokratischem Weg schwer realisierbare Hashtag-Forderung „#WehretDenAnfängen: Keine Rechtsradikalen in keinem Parlament“.

In den Gesprächsgruppen, manche in Skatrunden-Größe, andere bis zu zwei Dutzend Teilnehmer stark, wird ernsthaft diskutiert, auf unterschiedlichem Niveau. Für Bens Frage nach der bedingungslosen Öffnung nationaler Grenzen interessieren sich, bei leichter Fluktuation, sieben bis acht Männer und anfänglich eine, später zwei Frauen.

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Der gesinnungsethische Grundkonsens lautet, dass Grenzen allenfalls noch für eine Übergangszeit moralisch vertretbar seien und möglichst bald aufgelöst gehörten. Er definiere sich nicht als Deutscher, sondern als Weltbürger, sagt einer, und als norddeutscher Großstädter habe er mehr gemein mit einem Ägypter aus Kairo als einem Bayern von der Alm.

Eine Frau neckt daraufhin den neben ihr sitzenden Kosmopoliten, den sie wegen seines Dialekts für einen Bayern hält. „Bayer?!“, empört sich der. „Ich bin Schwabe!“ Die Runde lacht, ein Witz. Aber eine kulturelle Identität, die in diesem Kreis recht konsensual in Abrede gestellt wird, blitzte für einen logischen Moment auf.

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