Lupe

Das ist ein, wenn nicht das große Symbolbild des deutschen Jugendstils, es ist ein Bild des Bejahens, des Genießens der inneren Freiheit inmitten der Natur. Hofmanns Bild steht für die Überwindung der deutschen Romantik, die das 19. Jahrhundert prägte, das Bild ist Ausdruck des dynamischen Geistes von Lebensreform und Jugendbewegung, der bald darauf das Kaiserreich eroberte. Früh inspirierte von Hofmann Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Thomas Mann mit seinen, wie Mann sie nannte, „arkadischen Schönheitsphantasien“. Er hat diese vielleicht nie so vollendet und rein ausgelebt wie hier.

 

„Der Frühlingssturm“ – im Epochenbild Ludwig von Hofmanns weht der frische Wind der Freiheit und der Sehnsucht

 

 

Aus dem Süden kommt das Licht. Das wusste ein junger Maler, 33 Jahre alt, als er, wie so viele deutsche Künstler vor ihm, 1894 nach Rom ging. In seinem Gepäck nach Rom vielleicht, jedenfalls dort dann wohl 1894/95 vollendet, hatte er ein Bild, das Aufbruch und Neuanfang verhiess – für den Künstler und für seine Epoche. Drei Gestalten schreiten gemeinsam an einer Küste über dem Meer entlang, kräftig und zugleich anmutig, durch Wind und Sonnenlicht: ein vollkommen nackter Jüngling in der Mitte, im Arm zwei Mädchen, die eine barbusig in blauem Rock und mit siegesgöttinnenhaft hinterherwehendem grünen Tuch, die andere in rotem Rock und einem Hemdchen in Orange. Die Nacktheit leuchtet hier ebenso wie die farbigen Gewänder, in fröhlicher Konkurrenz untereinander; man spürt die Luft, die durch die Haare der drei wirbelt, und hört das Meer ein paar Schritte entfernt, die Wolken am Himmel scheinen sich an der ganzen Szene zu erfreuen. „Frühlingssturm“ nannte Hofmann sein Bild, das zu einem Hauptwerk des deutschen Jugendstils werden sollte, und tatsächlich weht hier ein frischer Wind: voller Sehnsucht, Freiheit, Selbstbewusstsein und spielerischer Zuversicht. Der dynamische Geist von Jugendbewegung und Lebensreform, der ein paar Jahre später das Kaiserreich eroberte, nimmt hier bereits Gestalt an. Auf diesem Bild sah der deutsche Bürger plötzlich erwachende, spielerische Körperlichkeit und Nacktheit - in freier Natur und nicht wie üblich im Boudoir. Und er fand südliche Luft und Wärme – und neu abgemischt die knalligen Gewänderfarben der Nazarener mit den mediterranen Licht-, Erd- und Meerestönen von Hackert bis Blechen.

 

Ludwig von Hofmann traf den Nerv seiner Zeit. Denn die saturierte wilhelminische Welt sehnte sich immer stärker auch nach dem Anderen, jenseits von prosperierender Industrialisierung im Machtstaat, jenseits von Eisenwalzwerk und Salon. Im „Frühlingssturm“ konnte Hofmann da wie niemand sonst die Herzen Gleichgesinnter erobern: die der grossen Dichter und Autoren seiner Zeit. Er brachte die Wortkünstler dazu, in Bildern zu empfinden und regte deren visuelle Phantasie an wie kein anderer zeitgenössischer Maler. Im April 1898 besuchte ihn Stefan George mehrfach in seinem römischen Atelier. Hofmann las seit zwei Jahren Georges „Blätter für die Kunst“, und der Dichter widmete dem Maler, höchst aussergewöhnlich für diesen von der Idee des Auserwählten Besessenen, zwei Gedichte aus seinem Zyklus „Teppich des Lebens“: „Feld vor Rom“ und „Südliche Bucht“. George und Hofmann haben offenbar gemeinsam Ausflüge in die Campagna unternommen, vielleicht auch weiter nach Süden. „Auf wehem grün der welligen ebene fliegend / Frascati bleicher an den berg sich schmiegend...“ heisst es im ersten Gedicht; während im zweiten ein antiker Morgen am Mittelmeer gefeiert wird: „An grünen Klippen laden selige Gärten / Wo blumen sich mit blauen wogen mengen“. Solche Motive entsprachen der Bilderwelt Hofmanns, der viele nackte, junge Menschen sich in farbenprächtigen, lichdurchfluteten, oft antikisierenden südlichen Gefilden in der Natur tummeln liess. Für George gehörte Ludwig von Hofmann zum Kreis, zumindest zeitweise.

 

Allerdings waren die Kreise Hofmanns weiter. Rainer Maria Rilke und er verbanden Illustration und Gedichte in einem Zyklus inklusive „Schwanenweiher“ und „Küssendem Paar“, erschienen 1898 in der Kunstzeitschrift PAN. Hugo von Hofmannsthal schreibt 1905 seinen „Prolog zu Ludwig von Hofmanns Tänzen“, wiederum antike Szenerien und anmutige Figuren, dahinter oft jene „Konturen der Inseln, die leierförmigen südlichen Buchten auftauchen im Duft des Morgens“, die der Dichter beschreibt, als er beim Maler seine imaginäre, utopische Antike findet. Die Antike lässt Hofmann nicht los; 1907 unternimmt er mit Gerhart Hauptmann eine Reise durch Griechenland. Hauptmann war es auch, der zwanzig Jahre später die künstlerisch vielleicht folgenreichste Spur Hofmanns im Werk eines grossen Schriftstellers entdeckte. „Das ist ja L. v. H. ganzes Werk“, notierte der Dramatiker bei der Lektüre an den Rand von Thomas Manns „Zauberberg“. Im berühmten „Schnee“-Kapitel imaginiert Hans Castorp in seinem Traum auf mehreren Seiten reihenweise Szenen von Hofmanns Bildern und Zeichnungen, ohne dass Mann natürlich die Inspiration für diesen Traum offenbaren würde. Der Schriftsteller kannte das Werk Hofmanns ausgezeichnet und hatte noch mal in Monographien über ihn nachgeblättert. „Wie hübsch, gesund, klug und glücklich sie sind!“, staunt Castorp über jene nackten, jungen Menschen, die ihm in seiner utopischsüdlichen Vision mitten im Schnee erscheinen.

 

Thomas Mann und Ludwig von Hofmann: das ist eine besondere Künstlerbeziehung, obwohl sie sich wahrscheinlich nie persönlich begegnet sind. Denn Hofmanns Gemälde „Die Quelle“ mit seinen nackten Jünglingen hing bis zum Tod des Autors in dessen Arbeitszimmer, über alle Lebensstationen inklusive kalifornischem Exil hinweg. Anfang Juli 1914 hatte er es vom Künstler zu einem Freundschaftspreis erworben, nachdem er es in der Münchner Galerie Caspari gesehen hatte. „Ich liebe die hohe, neue, festliche Menschlichkeit Ihrer Kunst von Jugend auf, ich fand und liebte sie in jeder Leinwand, in jedem Blatt und Blättchen, das mir von Ihnen zu Gesichte kam“, hatte er den Maler danach umgarnt, mit Erfolg. Auf die freien, ungezwungenen Körper dieses Bildes schaute Mann fortan tagtäglich.

 

Seit 1916 lehrte Hofmann in Dresden an der Akademie, nach seiner Emeritierung 1928 lebte er in Pillnitz bis zu seinem Tod im August 1945. Allmächlich war er in die zweite Reihe gerückt, denn seine „arkadische Schönheitsphantasie“ (Thomas Mann) passte nicht mehr in das neue Zeitalter von Schützengraben und Weltbürgerkrieg, das im August 1914 angebrochen war. Hofmann malte eben auch die Utopie seiner Generation: er war wie Hauptmann und George, Richard Strauss, Harry Graf Kessler, Max Weber oder Werner Sombart in den 1860er Jahren geboren; die späteren Jahrgänge um 1890 – Benn, Benjamin, Heidegger – erlebten härtere Prägungen. „Ich fühle mich der Natur gegenüber demütig, will sie nicht vergewaltigen“: so lautete das Motto Ludwig von Hofmanns. Und der „Frühlingssturm“? 1898 wurde es in Berlin gezeigt, die Nationalgalerie erwägte einen Ankauf, schliesslich erwarb es Rudolf Mosse für seine bedeutende Kunstsammlung, die sich im Mosse-Palais am Leipziger Platz befand; dort hing es im Musikzimmer. 1933 geriet das Bild in den Sturm einer Epoche, in der von seinem einstigen utopischen Glanz nichts mehr übrig blieb: Im Mai 1934, da waren die Besitzer längst in die Schweiz geflohen, wurde es vom Berliner Auktionshaus Rudolph Lepke für 2.242,50 Reichsmark zwangsversteigert; der Katalog schwärmte von dieser „Fanfare des Jugend- und Liebesglücks“. 1941 erwarb dessen Heimatsstadt Darmstadt das Gemälde, wo es auf der Mathildenhöhe als Hauptwerk des deutschen Jugendstils hing, bis es jetzt an die Erben der rechtmässigen Eigentümer zurückging. Sie sind weit geschritten, der Jüngling und die beiden Mädchen aus der Familie von Hofmanns „Sonnen- und Meereskindern“ (Thomas Mann), und wir können vielleicht jetzt neu auf jene Aufbruchstimmung um 1900 zurückschauen, mit dem Wissen, was danach kam.

 

Alexander Cammann

 

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