zum Hauptinhalt
Die Zahl von blutigen Durchfallerkrankungen, die vom EHEC-Erreger ausgelöst werden, nimmt weiter zu.

© dpa

Gefährliche Mikroben: EHEC-Ausbruch gibt Rätsel auf - auch unheimliche

Der aktuelle EHEC-Ausbruch ist ungewöhnlich und beunruhigend. Bei vielen Erkrankten tritt eine sonst seltene Komplikation auf. Die Quelle der Infektionen ist weiter unklar. Wurden die Bakterien gar absichtlich ausgebracht?

Ehemalige Freunde sind die schlimmsten Feinde. Der harmlose Darmbewohner Escherichia coli (E. coli) zum Beispiel hilft normalerweise bei der Verdauung und wehrt sogar andere, schädliche Keime ab. Doch wehe, wenn die braven Kolibakterien plötzlich verrückt spielen, zum Beispiel durch eine Virusinfektion. Ja, auch Bakterien werden von speziellen Viren, den „Bakteriophagen“ befallen. Bakteriophagen können Gene gefährlicher Bakterien (die normalerweise nicht im Darm vorkommen) auf friedliche Darmbewohner übertragen.

Dann entstehen „EHEC“, Enterohämorrhagische E. coli. Weil sich EHEC benehmen wie normale Darmbakterien, werden sie vom Immunsystem nicht abgestoßen und können sich im Dickdarm ansiedeln. Das ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches. EHEC sind hierzulande, nach Salmonellen, die zweithäufigsten Durchfallerreger. Schafe, Ziegen und etwa die Hälfte der Rinder haben EHEC im Darm. Wenn sie von dort ins Fleisch, in Rohmilch oder auf biologisch gedüngtes Obst und Gemüse gelangen, kommt es alle Jahre wieder zu kleineren Durchfall-Epidemien. Kinder infizieren sich auch häufig durch direkten Kontakt mit Tieren, von anderen Kindern oder über verseuchte Planschbecken.

Der aktuelle EHEC-Ausbruch ist jedoch ungewöhnlich und beunruhigend. Bei einem Großteil der Erkrankten tritt eine sonst seltene Komplikation auf, das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS). Zudem sind die meisten HUS-Patienten Erwachsene.

Normalerweise bekommen Erwachsene von EHEC nur einen Durchfall, weil sie schon öfters Kontakt zu bakteriellen Giften hatten und ihr Immunsystem gelernt hat, das Shiga-Toxin abzufangen. Wenn jedoch bei jüngeren Kindern und alten Menschen die schützenden Antikörper fehlen, kann sich das von den EHEC-Bakterien im Darm produzierte Shiga-Toxin ins Blut ausbreiten. Das Toxin zerstört die roten Blutkörperchen (Hämolyse) und greift die empfindlichen Blutgefäße der Nieren an. Dadurch bleiben die normalerweise mit dem Urin ausgeschiedenen Abfallstoffe im Blut (Urämie), und der Körper beginnt, sich selbst zu vergiften. Schlimmstenfalls kommt es zum Nierenversagen und einem lebensgefährlichen Kreislaufschock.

Eigentlich ist das HUS eine seltene Komplikation, die höchstens bei fünf Prozent der Kinder mit schwerer EHEC-Infektion auftritt; bei gesunden Erwachsenen ist es eine Rarität. Die hohe Zahl von HUS-Fällen zeugt deshalb von einem besonders gefährlichen, ungewöhnlichen EHEC-Stamm, gegen den auch Erwachsene keine ausreichende Immunität haben. In solchen Fällen sollte die Infektionsquelle relativ leicht zu ermitteln sein, weil sich schwere Erkrankungen in einer Region und in kurzer Zeit häufen.

Doch beim aktuellen Ausbruch werden seit der zweiten Maiwoche ständig weitere Menschen angesteckt, ohne dass die Quelle zu finden ist. Eine mit Tierfäkalien verunreinigte Charge Milch, frisches Fleisch oder Gemüse wäre inzwischen längst verbraucht. An länger haltbare Produkte wie Tiefkühlkost oder einen bestimmten Obstsaft hätten sich die Patienten, die intensiv befragt wurden, erinnert. Auch das nahezu gleichzeitige Auftreten von über 400 Erkrankungen und Verdachtsfällen müsste eigentlich schnell zur Identifizierung der Infektionsquelle führen, weil dafür nur wenige Lebensmittel infrage kommen.

Der Fall zeigt, dass Infektionserreger und Lebensmitteltransporte schneller sind als die Gesundheitsbehörden. Bislang ist nicht einmal geklärt, ob alle Erkrankungen durch den gleichen EHEC-Stamm verursacht wurden und ob es sich um einen in Mitteleuropa einheimischen Subtyp des Bakteriums handelt. Bis dahin kann auch der sehr unwahrscheinliche, aber theoretisch denkbare worst case nicht ausgeschlossen werden, dass die Bakterien absichtlich ausgebracht wurden. In Sachen Lebensmittelsicherheit gibt es noch viel zu tun.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false