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GESELLSCHAFT SEX Was für Zeiten

aus DER SPIEGEL 47/1968

Der Phallus von Kassel, 85 Meter, ragte in den Herbst -- 14 Meter höher als das Kasseler Herkules-Standbild, höher auch als die Martin- und die Lutherkirche. Er stand, von einer Windmaschine hochgehalten, für den Erregungszustand einer Hemisphäre.

Während das Wahrzeichen der »Documenta« zwischen den Kasseler Schloten schwankte, sahen die Bürger von Hammelburg den Schwedenfilm »Ich bin neugierig -- gelb« (fünf Beischlafszenen). In Bamberg und Böblingen, Rendsburg und Rüsselsheim lief das Filmwerk »Vögel sterben in Peru« (sieben Beischlafszenen, ein lesbischer Akt). Zum 5500. Male paarten sich Liebende auf blauem Laken in »Die vollkommene Ehe« nach van de Velde. Fünfzig Lichtburgen der Bundesrepublik spielten »Inga -- Ich habe Lust« (Defloration, Dauerbeischlaf, Gruppen-Koitus, Onanie).

An Lebenshilfe lag in Zeitungskiosken gestapelt: »Mit wieviel Männern -- darf ein Mädchen schlafen?« ("Es"); »Was Männer empfinden, wenn sie ihre Frau betrügen« ("Jasmin"); »Prostitution in St. Pauli« ("Quick"); »So lernen Männer besser lieben« ("Neue Revue").

Auf dem Titelblatt der satirischen Monatszeitschrift »Pardon« zeigte sich ihr Verleger Hans A. Nikel mit einer Nackten, die auf seinen Schultern ritt. In der »Zeit« fand sich die Forderung, auch Ehefrauen müßten fremdgehen dürfen.

Das Apo-Magazin »Konkret« füllte sein Titelblatt mit 120 Quadratzentimeter Mädchenfleisch ("Wie Mädchen wirklich lieben") und 15 Quadratzentimeter Dutschke. Und wenn es der richtige Kiosk war, wurde auch Neues aus Skandinavien geboten: »Loving Sweden 8-9-10 Special -- der stärkste Fickenmagazinen im Welt.«

Und während im Münchner »Theatron Eroticon« (Leitung: Arthur Maria Rabenalt) zur Eröffnung Oben-ohne-Einakter ("Am Bettrand«, »Die beiden Venuspferdchen") geprobt wurden; während eine Dienststelle des Bonner Gesundheitsministeriums den »Sexualpädagogischen Atlas« für Schulen vorbereitete; während ein dänisches Reisebus-Unternehmen Wochenendfahrten zur Ausstellung »Erotische Kunst« in Aarhus (Fahrpreis: 120 Mark) organisierte -- verschickte die Frankfurter Werbeagentur Young & Rubicam Plakate mit dem 18fach belichteten Photo einer Nackten: Beigabe zur traditionsreichen Whiskymarke »Haig«; wurde in der Kölner Ehrenstraße »Dr. Müllers Sex-Boutique« eröffnet ("Liebesspiele aus Europa, Asien und Tirol") und packte der Wiener Bestsellerverleger Fritz Molden zur Frankfurter Buchmesse das Neueste ein: »Die Exhibitionisten« von US-Autor Henry Sutton, die Geschichte einer Nymphomanin« geschrieben, wie das Ärzte-Magazin »Selecta« mutmaßte, »mit der Stoppuhr in der linken und dem Krafft-Ebing in der rechten Hand"*.

Kurzum, es war ein ganz normaler, sexdurchsonnter Septembertag des Jahres 1988.

Molden sah sich in harter Konkurrenz. Auf der diesjährigen Frankfurter Literatur-Kirmes zeigten vor: Rowohlt eine neue Taschenbuchserie »Sexologie«; der Scherz Verlag die neue Taschenbuchreihe »Sexlibris«; Kindler die Paperbackreihe »Sexualwissenschaft« ("Teuflische Wollust«, »Moderne Liebesspiele"). Der Merlin-Verlag legte sein erstes Sachbuch vor: »Gruppensex in Deutschland«.

Der Bonner »Verlag der Europäischen Bücherei Hieronimi« brachte die »Sittengeschichte der weiblichen Dessous« von Cecil Saint-Laurent: »Gebunden in Hellrosa, ganz überzogen

* Richard Freiherr Krafft-Ebing (1840 bis 1902): Verfasser eines Standardwerks über abnormes Sexualverhalten »Psychopsthia sexualis«.

mit echter schwarzer Wäschespitze aus Paris . schon von der Ausstattung her konkurrenzlos« (Verlagsprospekt).

Bei Rowohlt prangte derweil der gerade erschienene (vor zweieinhalb Jahren erhobene) Report über »Studenten-Sexualität« -- verfaßt von Professor Hans Giese, dem Grzimek der deutschen Sexologie. Gieses Empfehlung für die sexgerüttelte Nation: »Laßt im Schlafzimmer das Licht an und besprecht eure Probleme!«

»Es ist nackt geworden in der westlichen Welt«, die »Neue Revue« hat es enthüllt, und sie fragte: »Gehen deshalb die Lichter unserer Kultur aus?«

»Nackt muß es sein, wenn deutsche Männer schlafen«, donnerte »Bild« unlängst in Balkenlettern ("Immer mehr Männer tragen Adam"). »Nackter wird"s nicht!« hatte »Bild am Sonntag« schon 1965 prophezeit, zu Photos, die nun fast schon als Ansichtskarten vom Katholikentag verschickt werden könnten: Ursula Andress mit Bikini.

Ein bißchen Skandal machte noch vor zwei Jahren der Rixdorf-Graphiker All Schindehütte, als er in der Hamburger Buchhandlung von der Höh protesthalber die Hosen her unterließ. Als sich im letzten Jahr der Maler Fritz Hundertwasser auf einem Protest-Happening in München ganz entkleidete (und noch zwei nackte Mädchen sich hinzugesellten), als später Apo-Jünger und Protest-Sänger hosenlos posierten, machte es kaum mehr Aufsehen.

Inzwischen wurden, innerhalb eines Jahres, 427 000 farbige Nackt-Photos entwickelt, geknipst von bundesdeutschen Photo-Amateuren, wie jüngst der »Verband der Deutschen Photographischen Industrie« mitteilte. Die Zahl der Schwarz-Weiß-Photos zum gleichen Sujet ist nicht zu ermitteln.

Vier von zehn Feriengästen auf Sylt badeten dieses Jahr nackt, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Und als jüngst Fernseh-Regisseur Helli Pagel ("Vorsicht, Kamera!") einen neuen Gag erprobte: Ein unbekleidetes Mädchen tritt zu Wartenden an einer Fahrstuhltür, entsteigt einem Auto an einer Tankstelle ("Wo kann man sich hier die Hände waschen?") -- da zeigten sich die jeweils Umstehenden ganz gelassen. »Zweite Tür links«, sagte der Tankwart, die Herren am Fahrstuhl lüfteten den Hut.

»Ausziehen, ausziehen !« riefen kürzlich 2000 Zuschauer in einem Bierzelt in Innsbruck, als die Bewerberinnen bei einer Miß-Wahl bekleidet über den Laufsteg trippelten. Dem allgemeinen Wunsch wurde entsprochen. Das war auf einem Wohltätigkeitsfest des Roten Kreuzes.

»Brave nude world«, auf diese Formel brachte die amerikanische Show-Zeitschrift »Variety« das Bombengeschäft, das sich mit bloßgelegter Haut machen läßt -- schöne nackte Welt.

Was für Zeiten waren das -- 1932, als Hedi Lamarr noch Skandal machte, weil sie in dem Film »Ekstase« unbekleidet durchs Gebüsch huschte; 1943, als Jane Russell in »Geächtet« ein wenig Schenkel, etwas Bauch und ein bißchen Busenansatz zeigte (nach fünf Jahren Zensur-Verdikt und 103 Schnitten wurde es ein Riesenerfolg); 1951, als Hildegard Knef in dem Film »Die Sünderin« einem Maler (Gustav Fröhlich) kurzfristig enthüllt Modell stand und damit ein Stinkbombenattentat der Christlichen Arbeiterjugend zu Düsseldorf-Oberkasse] und überhaupt bundesweiten Protest hervorrief.

Nun, Ende der sechziger Jahre, sind die Damen und Herren des Films mitunter schon wieder bekleidet, wenn sie anfangen, wo einst (wie Tucholsky klagte) züchtig »abjeblendt« wurde. Film-Sex heißt nicht mehr »nacktes Weib«, sondern Vollzug von sexuellen Tätlichkeiten; und dabei nackt zu sein ist fast schon wieder démodé.

»Geschichten hinter Wänden«, inszeniert von dem Japaner Koji Wakamatsu und nach einjähriger Prüfung für Deutschland freigegeben, zeigt laut Protokoll der Freiwilligen Selbstkontrolle: »Koitus von Ehegatten, Ehebruch, Voyeur-Szenen« Defloration, Onanie« Vergewaltigung der eigenen Schwester und Sexual-Mord.« Nach ein paar Schnitten an »einigen Kulminationspunkten im Sexuellen« passierte das Filmwerk die Kontrolle.

Seit Ingmar Bergman mit »Schweigen« (1963) erstmals einen Koitus ins öffentliche Kino brachte, wurde solche Betätigung in ungezählten Varianten zum Bestandteil der zwei schönen Stunden: An der Reling eines Frachtschiffes (in »491"), unter knappen Leinentüchern (in »Blow up« und »Hunger nach Liebe"), auf einer dänischen Eisenbahn-Toilette ("Sie treffen sich, sie lieben sich ..."), im Geäst einer Eiche, im seichten See und auf der Balustrade vor dem königlichen Schloß in Stockholm ("Sie will"s wissen").

Zum Wissensstand des Kinogängers 1968 zählt längst auch Lesben-Liebe -- zu zweit ("Zwei Freundinnen«, »Lautlose Waffen") oder zu dritt, etwa In Robbe-Grillets jüngstem Film »Der Mann, der lügt": Drei verführerische Slawinnen küssen einander und fesseln einander, baden einander und spielen Hinrichtung mit dem Henkersbeil, alles aufs delikateste.

Masturbation gehört zum gängigen Film-Schaffen -- weiblich im Liegen, ("Inga -- Ich habe Lust"), männlich zu Mozartmusik ("Das Mädchen Nanami"), jungfräulich vorm Spiegel (Anne Heywood in »The Fox"). Und weite Bereiche des Absonderlichen sind gleichfalls der farbigen Breitwand schon erschlossen.

Brigitte Bardot ("Zwei Wochen im September") läßt sich von ihrem Partner fesseln und mit Milch begießen. Leder- und Gummifetischisten kommen auf ihre Kosten, die einen etwa beim Anblick von Jane Fonda in dem Comic-Strip-Film »Barbarella«, die anderen in dem Sex-Dokumentarfilm »Du« (beratende Mitwirkung: Professor Hans Giese).

Herb Sado-Masochistisches kommt vornehmlich aus Japan, mitunter auch aus heimischer Produktion. In West-Berlin drehte der aus Kuba zugereiste Regisseur Jess Franco das Greuelwerk »Nekronomicon« (Ko-Produzent: Adrian Hoven): Eine mit dem Satan verbundene Dame räkelt sich nackt, sticht Greisen Nadeln in die Augen oder senkt beim Liebesakt, ganz träumerisch, dem obenliegenden Herrn ein langes Messer in den Nacken.

So wäre denn, möchte der Biedermann wähnen, der »Sexualterror« (wie ihn der »Deutsche Jugendgesundheitsdienst im Grünen Kreuz« brandmarkte) vor allem auf Zelluloid verbreitet? Mitnichten.

»Ich habe alles geschrieben, was ich sagen wollte«, bekannte am Ende Henry Miller, 76, der Mann, der jahrzehntelang als Inbegriff gedruckter Unbotmäßigkeit in Sachen Sex galt und die meisten seiner Bücher fast zeitlebens auf dem Index der Zensoren fand: »Mir scheint, der Kampf für die freie Behandlung des Sexualproblems ist gewonnen.«

Die »New York Times« sah es mehr vom Standpunkt des Konsumenten: »Hard-core pornography«, knallharte Pornographie, werde »nun auch im Selbstbedienungsladen um die Ecke feilgeboten«.

Von »Fanny Hill«, der munteren Dirnenbeichte, über Sacher-Masochs Flagellanten-Epos »Venus im Pelz«, über de Sades gesammelte Werke bis hin zu den galanten Un-Sitten von Aretino und Restif de la Bretonne -- nahezu alle klassischen Erotica und Pornographica, die früher nur zu Liebhaberpreisen unterm Ladentisch gehandelt oder in den Giftschränken der Bibliotheken aufbewahrt wurden, sind nun wieder hervorgekramt und öffentlich verlegt worden.

Was sich an neueren Homosex-Darbietungen (von Genet bis zum »Tagebuch eines Päderasten« von Casimir Dukahz), an Sexual-Grotesken ("Candy«, »Ein Hundertdollar Mißverständnis") oder Züchtigungs-Orgien ("Die Geschichte der 0") irgend literarisch gab, passierte die Zensur, rettete notleidende Verlage vor dem Bankrott und erklomm nicht selten Spitzenplätze auf den Seller-Listen.

Was sich kaum noch literarisch gibt, desgleichen. Der Trivial-Roman, der noch vor einem Jahrzehnt etwa bei der Flaubert-Formel »Sie gab sich ihm hin« haltmachte, ist nun durchsetzt von einem Vokabular, wie man es vordem allenfalls an den Wänden öffentlicher Toiletten las: Harold Robbins' Bestseller »Die Unersättlichen« und »Die Playboys« ebenso wie Jacqueline Susanns »Tal der Puppen«.

Das gleiche gilt auch für John Updikes neuen Roman »Couples« ("Ehepaare"), in dem sich eine Gruppe amerikanischer Ehepaare kreuz und quer in buntem Wechselspiel Orgasmen zufügt. Den vorläufigen Weltrekord für freikäufliche Pornographie liefert Rütten & Loening In deutscher Obersetzung aus »Mein geheimes Leben«, verfaßt von einem viktorianischen Engländer unter dem Pseudonym »Walter«, laut »Times« das »gewiß längste und schmutzigste aller pornographischen Bücher« -- auf 2359 Seiten Geschlechtsakte mit insgesamt 1200 Partnern und Partnerinnen.

Papier, Papier, möchte sich Biedermann besänftigen. Doch wie die Druckpressen Bogen um Bogen Pornographisches zu Markte speien, so macht nun auch das Theater wieder Anstalten, den Sex leibhaftig vor Auge und Sinn zu stellen: gemäßigt noch (in Deutschland noch gemäßigter) in dem amerikanischen Beat- und Flower-Power-Singspiel »Haare« (30 Nackte auf der Bühne), freimütiger in dem Off-off-Broadway-Einakter »Futz«, dessen Darsteller auf der Bühne nahezu alle Leibesübungen imitieren, die je in Kamasutra oder van de Veide katalogisiert wurden. Am heftigsten wohl vorerst in dem Kammer-Spiel »The Beard« von Michael McClure, das in San Francisco uraufgeführt wurde und nun auch in München zu besichtigen war: eine Art Porno-Liturgie, darstellend die geschlechtliche Vereinigung von Billy The Kid (einem legendären Westernhelden) und dem einstigen Filmstar Jean Harlow. Die Streit-Zote -- die Originalfassung verwendet 52mal das Verbum »fuck« -- endet damit, daß Billy seinen Kopf zwischen Jeans entkleidete Schenkel senkt und ihre Scham küßt.

»Eine Sex-Welle geht durch die zivilisierten Länder«, befand der Münchner Oberhirte Kardinal Julius Döpfner, »wie sie so wohl noch nie erlebt wurde.« Wohin wird sie rollen?

Bricht, wie der US-Autor Vance Packard In seinem jüngsten Buch mutmaßt, »das sexuelle Chaos« an? Wird gar, wie ein Dr. med. Eugen Osterhaus in einem Leserbrief ans »Hamburger Abendblatt« klagte, der Mensch durch »Überbewertung des Sexuellen ... zu einem animalischen Wesen, zu einem Tier degradiert«?

»Die Versteifung kam nicht zustande«, durfte Sexual-Berater Oswalt Kolle in einer biederen deutschen Illustrierten über einen erektionsunwilligen Penis schreiben -- und durchbrach so Sprachschranken, die schon ein für allemal verfestigt schienen.

Die Schweizer Uhren-Firma Universal Genève warb mit zwei Photos eines nackten Paares, das sich liebte: »Vergeßt die Zeit, Universal Genève paßt auf.« Erstes Bild: der Mann oben, 2.02 Uhr; zweites Bild: das Mädchen oben, 2.18 Uhr. Tempora mutantur.

Der Minirocksaum steigt und steigt. Schon droht, wie Fritz Wirth in der »Welt« notierte, »ein mathematisches Lehrgebäude zusammenzustürzen«, daß nämlich »sich zwei Parallelen erst im Unendlichen treffen«.

Keine Studenten-, kaum eine Schülerzeitung, in der nicht Descartes paraphrasiert würde: »Coito, ergo sum«, -- durch akribisch zusammengestellte Listen von Beischlaf-Synonymen ("Bügeln, geigen, hobeln"), durch vulgarisierende Verballhornung nationaler Sinnsprüche ("Bummsen tut not -- Gorch Fuck") oder durch hochschulpolitische Verwendung zotigen Vokabulars ("Zieht die Magnifizenzen an ihren ideologischen Schwänzen"), so als sei die ersehnte Revolution die Verlängerung des Koitus mit anderen Mitteln.

13jährige Schüler veranstalten Sexual-Umfragen in den eigenen Reihen. Und die Baden-Badener Schülerzeitung »ca ira« forderte die Pennäler auf: »Räumen Sie Reck und Schwebebalken, Kisten und Kasten ... aus der Turnhalle, und lassen Sie als einziges zurück Decken und Matten, auf die Sie sich paarweise ausstrecken, à faire l'amour, um Liebe zu machen ...

An Warnern und Mahnern, Wehklagen und Kassandra-Rufen fehlt es nicht, Sex sei zu einem »merkwürdig freudlosen nationalen Zwang« entartet, wähnt die amerikanische Sozialkritikerin Betty Friedan. Zum »Genuß ohne Reue« sieht der deutsche Soziologe Helmut Scheisky die einstigen Höhen des Erotischen verflachen.

»Die sogenannte Emanzipation der Triebe, die Beseitigung der Tabus«, schrieb Dr. Werner Ross vom Münchner Goethe-Institut im »Berliner Ärzteblatt«, sei »auf dem besten Wege, den Menschen noch grauenhafter zu verzwicken und verzerren, als es die puritanischste Askese je vermocht hat«. Bischof Liljes »Sonntagsblatt« berichtete von einem jungen Mädchen, »das seine Sex-Rolle tapfer und klaglos spielte ... aber im stillen Kämmerchen ... ein intimes Tagebuch« führte, mit Liebesgedichten »in der romantischen Art ihrer Großmütter«.

Und Malcolm Muggeridge, Schriftsteller in England und Ur-Feind der sexuellen Emanzipation, beschwor vollends den Untergang des Abendlandes: »Es ist das unübersehbare Zeichen der Dekadenz in unserer Gesellschaft, Im selben Maße, wie unsere Lebenskraft verebbt, greifen die Menschen nach der hektischen Erregung ... Während Niedergang und Fall des Römischen Reiches wurden Werke von Sappho, Catull und Ovid gefeiert. Es gibt da eine Analogie zu unserer Zeit.«

»The permissive society"« die Gesellschaft des Gewährenlassens -- mit dieser Formel haben amerikanische Soziologen den geradezu hektisch anmutenden Abbruch überkommener Sexual-Tabus umschrieben. Umstritten bleibt vorerst, wohin diese Entwicklung treiben mag und weicher Stellenwert ihr beizumessen ist.

Es sei nur ein Randphänomen, ein Kräuseln und Schäumen an der Oberfläche, und am Kern abendländischer Sittennormen ändere sich beinahe nichts, meinen die einen (so etwa der Frankfurter Soziologe Professor Ludwig von Friedeburg).

Es sei nur ein Pendelausschlag wieder einmal -- hin zur Libertinage, zum Laxen, Dionysischen, glauben andere (so beispielsweise Rudolf Walter Leonhardt in der »Zeit"); ein Rückschlag zu neuer Prüderie werde unausbleiblich folgen.

Aber die meisten Beobachter der Szenerie, Soziologen und Psychologen namentlich, befreunden sich nun doch mit der These, daß die permissive society im Begriff sei, eine Grenze zu überschreiten, jenseits derer sie sich in einem neuen Aggregatzustand wiederfände.

»Das bißchen Promiskuität und obszönes Vokabular« seien es gewiß nicht, verwahrte sich die amerikanische Anthropologin Margaret Mead, was sie meine, wenn sie eine »gewaltige Revolution in der Welt des Sex« prophezeie.

Freizeitgesellschaft, wachsender Wohlstand, Schwinden der religiösen Bindungen, Emanzipation der Frau und die Unmöglichkeit, den Menschen wie bisher unwissend und damit unmündig zu halten -- das sind nur einige der gesellschaftlichen Faktoren, die einem Rückfall in Prüderie und Puritanismus entgegenstehen werden.

In der Tat scheint, was obenhin als »Sex-Welle« beklatscht oder beklagt wird, In Wahrheit nur überschießende Begleitreaktion, nur lärmende Kulisse jenes viel tiefergreifenden Umbruchs. Marshall McLuhan, Amerikas Pop- & Media-Philosoph, nannte es »das Todesrasseln eines Zeitalters«.

Daß »die Unterdrückung der Sexualität«, die das zu Ende gehende Zeitalter weithin kennzeichnet, »als ein Instrument der Unterdrückung überhaupt« gedient habe -- so der Heidelberger Philosophie-Doktor Arno Plack in seiner brillanten Analyse* -, werden die Gesellschaftskritiker allenthalben gewahr. Und fast von einem Jahr aufs andere wird nun fraglicher, ob dieser Mechanismus der Machtausübung auf die Dauer wird in Gang gehalten werden können.

Quer durch die Gesellschaft Ist der moralische Konsensus in Auflösung

* Arno Plack: »Die Gesellschaft und das Böse -- eine Kritik der herrschenden Moral«. Paul List Verlag, München; 432 Seiten; 23 Mark.

begriffen -- betreffe er nun die amerikanische Politik in Vietnam, die Pillen-Enzyklika des Papstes oder die Sozialstrukturen in kapitalistischen wie kommunistischen Nationen.

Und kaum sonst wird der Schwund an Glaubwürdigkeit, den die Normengeber hinnehmen mußten, so deutlich wie auf dem Feld der Sexualität.

Zu 400 Mark Geldstrafe wurde im Juli dieses Jahres ein Münchner Architekt verurteilt, weil er unbekleidet am eigenen Küchenherd gestanden und sich dabei dem Späherblick einer Nachbarin ausgesetzt hatte -- in einer Zeit, in der das Deutsche Fernsehen Nacktszenen mit dem holländischen Mannequin Phil Bloom ("Report« München) und eine Nackt-Party der amerikanischen »Liga für sexuelle Freiheit« ("Report« Baden-Baden) zeigte.

Zu einer Zeit, da das Massenblatt »BamS« schon bei seinen Lesern herumfragte: »Wie ist Ihre Einstellung zum Petting...?« und: »Finden Ihre Liebesbegegnungen im Gartenhaus« im Keller, im Wald oder auf dem Dachboden statt? Oder im Auto?« -- konnte in der Begründung eines Bochumer Amtsgerichtsurteils (wegen Ladendiebstahls) noch die Meinung vertreten werden: Wer einen »unmoralischen Lebenswandel« führe, etwa wie im Fall der Angeklagten zweimal geschieden sei oder ein Verhältnis mit einem geschiedenen Mann unterhalte, dem sei »auch ein Diebstahl zuzutrauen«.

Zur selben Zeit, da jeder Jugendliche im Poster-Shop um die Ecke die phallischen Eskapaden eines Beardsley im Format 60 mal 130 oder Ansteck-Buttons mit der Aufschrift »Fuck for peace« erwerben kann -- sah sich ein Staatsanwalt genötigt, auf dem Hamburger Künstlerfest »Li-La-Le« ein Plakat entfernen zu lassen, das ein Paar »in perverser Umarmung« zeigte (einer der 8000 Festbesucher hatte sich in seinem sittlichen Empfinden verletzt gefühlt).

Ausgehend von der seit wenigstens einem Halbjahrhundert als unhaltbar erwiesenen Vorstellung, Menschen könnten ihr sexuelles Tun und Lassen wie mit einem Wasserhahn regulieren bedrohen deutsche Strafgesetze immer noch

* eine Mutter, die ihrem erwachsenen Sohn in der elterlichen Wohnung den Beischlaf mit seiner Freundin oder Verlobten gestattet, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren (nicht strafwürdig ist die Vermietung von Zimmern an Prostituierte in einem Dirnenwohnheim);

* den Schulrektor, der mit der Englisch-Lehrerin, und überhaupt jeden Beamten, der mit einer ihm Untergebenen »unter Ausnutzung seiner Amtsstellung« ein Verhältnis hat, mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren (in der freien Wirtschaft darf der Chef mit der Sekretärin tun, was beiden beliebt, sofern sie über 21 ist);

* jeden Ehebrecher -- auf Antrag -- mit bis zu sechs Monaten Gefängnis, aber erst, wenn die Ehe wegen des Ehebruchs geschieden ist (ein Paragraph, der dem Schutz der Ehe dienen soll, aber erst wirksam wird, wenn der Bruch einer Ehe besiegelt ist);

* Homosexuelle mit Gefängnis bis zu fünf Jahren -- obwohl durch Kinsey und alle späteren Untersuchungen zum Sexualverhalten erwiesen ist, daß jeder zwanzigste Mann zeitlebens überwiegend, jeder dritte irgendwann in seinem Leben gleichgeschlechtliche Kontakte hat.

In welch groteskem Mißverhältnis zum tatsächlichen Sexualverhalten solch viktorianische Rechtsnormen stehen, ist der Mehrheit der deutschen Richter längst bewußt.« Bei konsequenter Anwendung des Kuppelei-Paragraphen«, meinte beispielsweise der Hannoveraner Amtsgerichtsrat Jan-Wolfgang Berlit, »müßten wir anstelle des sozialen Wohnungsbaus Gefängnisse einrichten.«

Richter Berlit lehnte es ab, mit einschlägigen Urteilen den »Prügelknaben für überholte Gesetze« zu spielen. Und massiven Unmut formulierte unlängst auch die Standesorganisation der westdeutschen Richter: Urteile im Sexual-Straf recht, verkündete der Deutsche Richterbund in einer Denkschrift, »werden als Unrecht empfunden und sind es auch«.

Die Wende im deutschen Sexual-Strafrecht, heißt es, stehe nun bevor -- ein halbes Jahrhundert nachdem die Zeit dafür reif war.

Ende letzten Monats einigte sich der »Sonderausschuß Strafrechtsreform« des Bundestages auf den Vorschlag, den Ehebruch-Paragraphen aus dem deutschen Strafrecht zu streichen. Aber schon regt sich der Verdacht, daß die Reform anderer längst antiquierter Sexual-Rechtsnormen nun doch wieder hinausgeschoben werden soll: Auf Wunsch der CDU wurde beispielsweise der Kuppelei-Paragraph vorerst von der Beratung im Sonderausschuß ausgeklammert.

Im Ausschuß sitzen noch dieselben Reformer, die vor vier Jahren vorschlugen, die meisten Sexualverfehlungen unverändert, Ehebruch künftig gar doppelt so hoch und zusätzlich noch »unzüchtige Schaustellungen« unter Strafe zu stellen -- Striptease-Verbot in einer Zeit, da einschlägige Nachtlokale schon über Besucherschwund klagen und die Entkleidungs-Künstlerinnen zu immer drastischeren Darbietungen (Hamburg-St. Pauli: Masturbation mit brennender Kerze auf offener Bühne) übergehen, um mit dem Nackt-Angebot auf Kinoleinwänden noch konkurrieren zu können,

Kein Zweifel: Hinter jedem Kolle-Leitfaden, jedem »Twen«-Reißer, jeder »13jährige feierten Sex-Orgien im Bretterschuppen«-Schlagzeile in »Bilds« erogenen Zonen schlägt noch die doppelzüngige Moral durch, auf die das christliche Abendland sich soviel zugute hält.

200 000 Prostituierte, 600 000 dem Alkohol Verfallene und ein Heer von Neurotikern sind die »Rechenfehler« (Philosoph Plack) Opfer und Produkte jener rigoristischen Moral, die den Sex als bloße Funktion der Fortpflanzung begriff und die das unheilvolle Schisma zwischen Leib und Seele konstruierte.

Diese Moral mit ihrem unterschwelligen Haß gegen das Leben, ihrem Abscheu gegen alles Sexuelle in die Welt gesetzt, immer wieder verfeinert und immer von neuem gegen vitale Bedürfnisse durchgesetzt zu haben, geht weithin auf das Konto der christlichen Kirche.

»Auschwitz und ... Hiroshima und seine Todesengel«, konstatierte der österreichische Kultur-Philosoph Friedrich Heer, »beruhen auf einem halbtausendjährigen erlauchten theologischen Traditionen ...« -- als krebsartige Krankheitsauswüchse« wie Heer meinte, einer verwesenden Weltreligion, die das Bewußtsein ihrer Gläubigen mit »Himmel« und »Hölle«, mit Ängsten und »Teufeln« neurotisierte. Moralkritiker Plack sieht die Kausalkette ähnlich: »Sexualverdrängung -- vitaler Unmut -- Freiwerden von Aggressivität -- Unterdrückung auch dieser -- Anstauung der Aggressivität -- Explosion in Krieg.«

Zumindest für das erste Glied in dieser Kette können sich Kritiker wie Heer und Plack auf namhafte Kronzeugen berufen: auf den Apostel Paulus, der verkündete, daß sich das »Verlangen des Fleisches gegen den Geist richtet«, und: »Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre«; auf den heiligen Augustinus, der sich keinen rechten Christen vorstellen mochte, der »nicht lieber, wenn er könnte, ohne Begierde Kinder erzeugte«; den heiligen Hieronymus, für den sich, was den Beischlaf angeht, der Mensch »in nichts von den Schweinen und unvernünftigen Tieren« unterschied; und auf Thomas von Aquin, dem rundweg »jede Lust schlecht« vorkam.

»Männer wie Paulus, Augustinus, Chrysostomos, Hieronymus«, notierte die Hamburger Ehe-Kritikerin Leona Siebenschön, »haben den Prozeß der weltweiten, Jahrtausende währenden Geschlechtsneurose entfacht und vollendet, weil sie selbst neurotisch waren, besessen von Geschlechtsangst und pathologischer Selbstgeißelungssucht.«

Der Geist dieser Heiligen ist 1968 gegenwärtig, nicht nur in der Enzyklika »Humanae vitae« Pauls VI. Hinter der Fassade sogenannter Aufgeschlossenheit -- Beat in der Kirche, Sexual-Erziehung im Religionsunterricht -- triumphiert noch die christliche Schizophrenie, die mit dem Dogma von der »Erbsünde« in die Welt kam: Sex zwischen Sakrament und Sünde; reine, vom Fleischlichen gereinigte Liebe, die von Gott -- Geschlechtslust, die des Satans ist.

»Wir brauchen keinen Spezial-Pastor für den Unterleib«, maßregelten evangelische Kirchenmänner den Pinneberger Pastor Bodo Thiel (der moderne Eheberatung versucht hatte): »Wer Sorgen hat, soll in die Kirche gehen und beten.«

»Wahre Liebe« kontra »sinnliche Scheinfreude«, »nette«, »unverdorbene«, »reine« Mädchen und solche, die (durch vorehelichen Geschlechtsverkehr) »beschämt«, »entehrt«, »gedemütigt« werden -- so lautet noch immer, trotz des modernen Layouts, das einschlägige Vokabular in den katholischen »Kleinschriften«, Erbauungsfibeln, die in Auflagen bis zu 90 000 Exemplaren an Jung-Gläubige verteilt werden*.

Einen der eindrucksvollsten Belege für die katastrophalen Wirkungen, die christliche Sexual-Moral hervorgerufen hat, lieferte vor vier Jahren der Berliner Mediziner, Psychotherapeut und Selbstmord-Forscher Klaus Thomas, als er Erfahrungen aus seiner Beratungsstelle für Lebensmüde mitteilte: 40 Prozent der Verzweifelten, die bei ihm Rat suchten -- die meisten davon waren selbst Seelsorger oder stammten aus Pastorenfamilien -, litten an »ekklesiogenen« (durch kirchliche Einflüsse verursachten) Neurosen (SPIEGEL 21/1964).

Schwerste seelische Konflikte, namentlich im Zusammenhang mit sexuellen Perversionen, erwiesen sich als Folge einer »leibesfeindlichen Erziehung ... die besonders in den Fragen der Geschlechtlichkeit von dem Grundsatz des »Tabuisierens« ausgeht, das heißt von dem gleichzeitigen Verschweigen, Verbieten und Bedrohen« (Thomas).

Was der Berliner Seelenarzt an psychisch Schwerkranken in besonderer Eindringlichkeit hat aufzeigen können, ist jener überaus wirksame Mechanismus von Triebbeschränkung und Triebunterdrückung, mit dem die christliche Kirche Jahrhunderte hindurch über den Menschen herrschte -- und der auch noch in der glaubensfernen bürgerlichen Gesellschaft wirksam ist.

Als sie die sexuelle Sinnenlust zur Sünde deklassierte, als sie -- wie dann später auch der Staat -- menschliche Sexualität in die Zwangsanstalt der monogamen Ehe kanalisierte und die Lust auch dort noch mit dem mahnenden Kruzifix über dem Ehebett vergällte, schuf sie das permanent schlechte Gewissen: Der Christenmensch soll leiden unter der Lust, derer er nun einmal nicht entraten kann. »Die vitalen Antriebe«, so formulierte

* Christa Rohde-Dachser: »Die Sexualerziehung Jugendlicher in katholischen Kleinschriften. Dissertation München 1967.

es Moralkritiker Plack, »sind gleichsam die Ohren, an denen ein repressives Ethos den Menschen zieht.«

Mag sein, daß im Anfang der christlichen Tradition die Verteufelung des Orgasmus noch mit der Sorge zu tun hatte, der Augenblick der Lust könne von der Beschäftigung mit Gott ablenken. (Kinsey fand heraus, daß ein Pistolenschuß im gleichen Raum, in dem zwei Liebende den Orgasmus erleben, sie nicht ablenkt.)

Aber es steht außer Zweifel, daß im weiteren Verlauf kirchlicher Machtentfaltung die sexuelle Zwangmoral zum wirkmächtigsten Hebel dieser Macht wurde: »Der Mensch, der mit Selbstvorwürfen sich peinigt«, notierte Plack, »ist beherrschbar geworden.« (Eine treffende Randbemerkung Placks lautet: »Die Losung des 11 Evangelischen Kirchentages in Dortmund 1963, »Mit Konflikten leben -- das ist eine Losung im Klima der Macht.") Inzwischen räumen selbst manche Kirchenmänner ein: »Die Kirche«, so der protestantische Theologe Dr. Joachim Scharfenberg, »hat diese sexuelle Not seit Jahrhunderten systematisch ausgebeutet im Sinn klerikaler Machtansprüche.«

Weltliche Machthaber erwiesen sich als gelehrige Schüler. Eine der ersten Maßnahmen der griechischen Militär-Junta nach dem Putsch von 1967 war ein Verbot des Minirocks. Ganz ähnlich schwenkte auch der Sowjet-Staat Anfang der zwanziger Jahre nach einer kurzen Phase sexueller Liberalisierung wieder auf strenge Zucht und Sitte ein -- unter dem Etikett der »sozialistischen Moral«.

Kein totalitärer Staat, ob unter Stalin, Hitler oder Pattakos, kann es sich leisten, dem Trend zur Individualisierung und Privatisierung nachzugeben, den eine Befreiung der Sexualität mit sich brächte.

Das erfuhr auch der Wiener Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der als einer der ersten in den zwanziger Jahren die Zusammenhänge zwischen repressiver Sexualmoral und gesellschaftlicher Unfreiheit des Menschen analysiert bat. Reich. dessen Werke der deutschen Öffentlichkeit bisher kaum bekannt sind, hatte eine Bewegung für »Sexualökonomie und -politik« ("Sexpol") begründet, die sich als Gruppe innerhalb der kommunistischen Arbeiterbewegung verstand.

Aber die Partei schmähte den Sex-Kämpfer, der die Ideen von Freud und Marx hatte verknüpfen wollen, als »konterrevolutionären Trotzkisten«. Reich wurde aus der KP ausgeschlossen -- und mußte wenig später vor den Nazis aus Berlin weichen. Er emigrierte und begriff die Welt nicht mehr: »Von den Kommunisten ebenso verboten wie von den Faschisten.«

Reich hatte ein Gutteil der gesellschaftlichen Implikationen aufgezeigt, die von der repressiven Sex-Moral hervorgebracht werden. Sie hat weithin produziert, was Strafgesetzbücher und kirchliche Sittenwächter dann wieder aufs heftigste verfolgt, bestraft und auszutreiben versucht haben: abnormes Sexualverhalten. »Eine jede Moral«, formulierte Plack, »hat am Ende nur die Perversen, die für sie charakteristisch sind.« Und er verweist, beispielshalber, auf Voyeurismus und Exhibitionismus, die als Ersatzbefriedigung in jenen Kulturen nicht vorkommen, bei denen Nacktheit nicht als ein Delikt gilt.

Die christliche Moral erzeugte jenes soziale Klima zwischen den Geschlechtern, in dem die Frau zur Gebärmaschine degradiert wurde, zur Kreatur zweiter Klasse, der beispielsweise Sinnenlust von Natur aus versagt bleiben müsse (wie noch um die Jahrhundertwende Mediziner allen Ernstes behaupteten).

Die christliche Moral installierte die Einehe als »Vertrag zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« (Kant): Dieser totale sexuelle Besitzanspruch über den Partner und der heuchlerische Treuebegriff, der daraus folgte, wurden im 20. Jahrhundert zum erstrangigen Krisenfaktor für die Institution Ehe. »Ein Ehemann«, formulierte Leona Siebenschön, »darf Trinker oder kriminell sein, darf die Familie tyrannisieren oder seine Frau prügeln -sie nimmt es hin; aber wenn er fremdgeht, flüchtet sie zur Mutter und verlangt die Scheidung.«

Und die verquere, leibfeindliche Christenmoral hat jenen Wald von Sexual-Tabus aufwuchern lassen, die nun den Menschen von Geburt an daran hindern, seine Sexualität zu entdecken und frei zu entfalten. Er muß sich gefallen lassen, daß ihm das Sich-Schämen eingebleut und das Masturbieren vermiest wird, daß man ihm vielfältige Schuldgefühle und Erwartungsängste einpflanzt (und damit vielleicht Impotenz oder Frigidität). Die gesellschaftsfähige Umgangssprache -- so weit geht die Tabuierung -- stellt ihm kein zutreffendes Verbum zur Verfügung, den Wunsch nach geschlechtlicher Vereinigung auszudrücken.

»Welches Unrecht hat der Geschlechtsakt dem Menschen getan«, fragte der französische Essayist Montaigne im 16. Jahrhundert, »daß er nur mit Scham davon zu sprechen wagt und ihn aus vielen ernsten und kultivierten Unterhaltungen ausschließt? Sollen wir unverfroren sagen: Töte. plündere, übe Verrat, aber das -- nur flüstern dürfen?«

In der Tat: Töten, plündern, Verrat üben -- all das ist die herrschende Moral bereit zu tolerieren. Dieselben Sittenwächter, die sich über Pornographie entrüsten, dulden die ungehinderte Verbreitung detaillierter Schilderungen von Mord und Grausamkeiten*. Sprach Prälat Anton Maier, Erzbischöfliches Ordinariat zu München-Freising: »Der Geist der Liebe wird nicht in den mörderischen Partisanenkämpfen in Süd-Vietnam vertrieben, sondern hier, jetzt bei uns -- etwa beim Badehosenkrieg' von Loope mit allen seinen Begleiterscheinungen.« (Es ging um die Frage, ob Schüler sittlich gefährdet würden, wenn sie gemeinschaftlich nackt duschen.)

»Die Exkulpierung der Grausamkeit«, schrieb Plack, »ist ein durchaus integraler Bestandteil des herrschenden Ethos.« Und die meisten Psychologen glauben heute, daß Grausamkeit und überschießende Aggressionen zwangsläufige Folge dieses herrschenden Ethos sind: »Die furchtbarsten gegenseitigen Verfolgungen in der Menschheitsgeschichte«, meint etwa Alexander Mitscherlich, seien Entladungen, bei denen die »zur Unterdrückung verurteilten Triebimpulse doch noch zum Zug kommen«.

Philosoph Herbert Marcuse sprach von einer »explosionsartigen« Freisetzung von Libido, nicht nur in Kriegen, sondern auch etwa bei »Aufseher-

* Im Jahre 1907 beispielsweise indizierte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften insgesamt; 704 Bücher, Zeitschriften und »andere Objekte« wegen sittlich gefährdenden Inhalts, davon aber nur drei Bücher wegen »verrohend wirkenden, zu Gewalttätigkeiten, Verbrechen oder Rassenhaß anreizenden« Inhalts.

horden in Gefängnissen und Konzentrationslagern«. Und wieder Plack: »Der Trieb wird ja nicht einfach in ein keusches Nichts hinein verdrängt und aufgelöst, sondern quillt, deformiert, in anderer Weise wieder hervor. Die Lust am Töten kann die sexuelle Befriedigung ersetzen.«

Daß solche triebpsychologischen Zusammenhänge nun allmählich aufgedeckt werden, daß sich die Möglichkeit eröffnet, den geheimen Wirkmechanismus zwischen Triebunterdrückung und Machtausübung zu durchschauen, ist ein Ereignis, das der französische Philosoph Professor Paul Ricoeur als »einzigartig in der bisherigen Menschheitsgeschichte« wertete*: Sexualität, Jahrtausende hindurch von Religion und Moral mit dem Schleier des Geheimnisvollen verhüllt und in Tabu-Zonen verbannt, wurde im 20. Jahrhundert zum Gegenstand der Wissenschaft.

Mit derselben Entschlossenheit, mit der sie einst Galileis neues Weltbild niederzutrotzen trachtete, hat die Kirche diesen Umschwung zu verhindern gesucht -- am Ende vergebens, wie im Fall Galilei. Wenn dieses Jahrhundert eine sexuelle Revolution hervorbringt, dann begann sie damit: daß Sexualität aus der suspekten Unordnung der Nacht auf die Tagesordnung wissenschaftlicher Forschung gesetzt wurde.

Auf Sigmund Freud, den Galilei des Bewußtseins, den Newton des Trieblebens, mußte eine Gesellschaft, der sexueller Verzicht als hoher sittlicher Wert galt, zwangsläufig reagieren, als sehe sie ein Universum einstürzen, als drohe ein Wert-Kosmos zu Fall zu kommen.

Freuds Theorie vom Unbewußten, jenen dunklen Tiefenschichten des Höhlenkönigreiches Ich, von denen aus verdrängte Triebregungen unkontrollierbar in das Tagesbewußtsein hineinregieren, widerlegte im Kern das Menschenbild, das christliche Moral postuliert hatte: daß der Mensch kraft

* Paul Ricoeur: »Sexualität, wunder -- Abwege -- Rätsel«. Fischer Bücherei; Band 811; 268 Selten; 3,80 Mark.

asketischer Selbstbezwingung imstande sei, über seine Triebe jederzeit zu triumphieren und sich dem Ideal des keuschen, tugendhaften Musterknaben entgegenzuläutern.

Der Wiener Psychiater ging von Erfahrungen aus, die er an seelisch Kranken, in ihrer Sexualsphäre Gestörten gewonnen hatte; das war abscheuerregend genug. Als er dann noch aufdeckte, daß die frühe Kindheit die entscheidende Phase sexueller Prägung sei, trug ihm das den blanken Haß einer Kulturgesellschaft ein, die sich von ihren Dichtern und Märchenerzählern das Trugbild vom guten, reinen, engelsgleichen Kind tief ins Gemüt hatte senken lassen.

Mit dem Vorwurf des Pansexualismus, der Unterstellung, er wolle den Menschen zur ausschließlich triebregulierten Sexual-Bestie »verkürzen«, wurde Freuds unerhörte Provokation beantwortet, wurde der Begründer der Psychoanalyse weithin (an deutschen Psychiatrie-Lehrstühlen bis heute) zum Opfer des von ihm selber aufgedeckten Mechanismus: der Verdrängung.

Die Hexenjagd brach von neuem los, als vier Jahrzehnte später wieder einer auszog, Sexual-Tabus zu brechen: Alfred C. Kinsey, Direktor des Instituts für Sexualforschung an der Indiana University. » Afterwissenschaft«, »schamlos«, »Gottesleugnung«, in diesem Wortfeld etwa bewegten sich die geisteswissenschaftlich orientierten Rezensenten, als Kinsey seine statistischen Berichte über das Sexualverhalten von rund 20 000 Amerikanern vorlegte, die er in 15jähriger Arbeit kompiliert hatte. Die beiden Untersuchungen, 1948 und 1953 erschienen, gelten bis heute als Standardwerk sexualwissenschaftlicher Feldforschung.

»Der Kinsey-Report«, befand der Berliner Psychologie-Professor Wolfgang Hochheimer, »hat für die Sexualität geleistet, was Columbus für die Geographie tat.« Mehr noch: Im selben Maße, wie er die fast unermeßlich weiten Grenzen sexueller Variationsbreite aufzeigte, erschütterte Kinsey auch das Wirkgefüge überkommener Moral.

Die fast totale Unkenntnis über die wahre Bandbreite sexuellen Verhaltens war im Sinne repressiver Moral erwünscht gewesen. Sie bewirkte bei jedem einzelnen quälende Ungewißheit: Wie immer und wie oft er seinen Trieben nachgab -- vielleicht hatte er doch die Grenze zum »Anomalen«, »Perversen«, »Sündhaften« schon überschritten. Erst recht, was die Onanie anlangte, schienen ihm Schuldgefühle unentrinnbar gewiß.

Und nun kam Kinsey und demonstrierte: 30 bis 75 Prozent der Befragten (je nach Bevölkerungsgruppe) taten, was bis dahin als abnorm oder pervers gegolten hatte -- sie verkehrten oral (60 Prozent) und a tergo (zehn Prozent »häufig"), viele hatten homosexuelle Erfahrungen (mehr als 30 Prozent); fast jeder zehnte Mann« jede 30. Frau hatten mit Tieren sexuellen Kontakt gehabt.

Die Häufigkeit sexueller Triebbefriedigung reicht, laut Kinsey, von ein- bis zweimal im Jahr bis zu 21mal und öfter je Woche. Und 92 Prozent aller Männer, 62 Prozent der Frauen befriedigen sich, zumindest in einer Phase ihres Lebens, durch Masturbation. Bis zu 42 Prozent der Männer (Altersgruppe 21 bis 25 Jahre) und 36 Prozent der Frauen (Altersgruppe 35 bis 40 Jahre) masturbierten nebenher auch während der Ehe.

Das heilige Strafgericht, das onanierenden Firmungen und Konfirmanden die schrecklichsten Heimsuchungen -- von bleibender Impotenz bis zu Verblödung und Rückenmarksschwindsucht -- angedroht hatte, erwies sich als Erfindung der Zölibatäre. »Mit Sicherheit«, so konnte Kinsey konstatieren (und alle späteren Untersuchungen haben es bestätigt), »verursacht Selbstbefriedigung keine physischen oder seelischen Schäden.« (Wohl aber fand er »enorme Schädigungen« durch Schuldgefühle oder den Versuch, sich der Onanie zu enthalten. Und es zeigte sich, daß beispielsweise Frauen, die vorher nicht masturbiert hatten, in den ersten Ehejahren größere Schwierigkeiten hatten, zum Orgasmus zu gelangen.)

»Kinsey mußte noch gegen seine Zeit arbeiten. Wir arbeiteten mit der Zeit, die öffentliche Meinung hat sich gewandelt« -- der Mann, der dies sagte, gilt als der dritte in der Reihe der bedeutenden Sexualforscher: Wilhelm H. Masters, Gynäkologe in St. Louis (US-Staat Missouri). Als 1966 das Hauptwerk von Masters und seiner Kollegin Virginia E. Johnson herauskam (Titel: »Human Sexual Response"*), schrieb ein Wissenschaftsredakteur der US-Illustrierten »Life« dennoch: »Ich wette, die amerikanischen Leser werden schockiert sein.«

Sie zeigten sich weniger schockiert als interessiert. Innerhalb weniger Wochen erreichte das in trocken-wissenschaftlichem Stil abgefaßte Buch Spitzenplätze auf den Bestsellerlisten. Masters hatte erstmals eine Terra incognita durchforscht, vor der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Physiologen = etwa in der Gegend der Gallenwege -- haltgemacht hatten.

Die Forschungsmethoden, die im Masters-Labor angewandt wurden, waren gewiß nicht ohne Schock-Appeal. Wann immer sich ein oder zwei der insgesamt 694 freiwilligen Testpersonen auf dem Test-Bett ergingen, waren Meßband und Farbkamera, Herz- und Hirnstrom-, Puls- und Atemfrequenzmeßgeräte zugegen, mitunter auch ein glasklarer Kunststoff-Penis mit eingebauter Lichtquelle und Mini-Kamera. Die Forscher protokollierten insgesamt 10 000 Geschlechtsakte (jüngste Probandin: 18 Jahre, ältester Teilnehmer: 89 Jahre).

Irrtümer richtigstellen konnte Masters beispielsweise für den weiblichen Orgasmus, so als er feststellte, daß vaginale und klitorale Reizungen zum gleichen Ziel führen -- die Sensationen sind die gleichen. Und bestätigen konnte er die Feststellung, die Kinseys Untersuchungen schon nahegelegt hatten: Das Abnehmen sexueller Potenz mit zunehmendem Alter ist keineswegs so zwangsläufig, wie man bis dahin angenommen hatte.

Als Hauptgrund für vorzeitig nachlassende sexuelle Aktivität ermittelte Masters: Langeweile in einer viele Jahre währenden Beziehung mit immer demselben Partner; überwiegende Inanspruchnahme durch berufliche Karriere; übermäßiges Essen und Alkoholtrinken; Furcht vor dem Versagen. Schließlich auch die (meist unbegründete) Angst vor möglicher Überanstrengung -- wie es der amerikanische Psychiater Dr. Ralph R. Greenson formulierte: »Der Mann um 45 .

spielt 36 Löcher beim Golf und danach womöglich noch Karten, aber der Geschlechtsverkehr ist ihm meistens zu anstrengend.«

* Wilhiam H. Masters/Vlrginia E. Johnson: »Die sexuelle Reaktion«. Akademische Verlagsanstalt, Frankfurt; 320 Seiten; 49 Mark.

Daß Übung auch auf diesem Feld den Meister macht, gilt nunmehr als gesicherte Erkenntnis der modernen Sexual-Forschung: Je höher die Frequenz der Triebbefriedigung (einschließlich Masturbation) in jüngeren Jahren, um so länger kann sexuelle Aktivität, wenn man in Übung bleibt, im Alter aufrechterhalten werden.

Kolle und seine Kollegen werden dafür sorgen, daß die Ergebnisse der Arbeiten von Masters und Kinsey unter die Leute kommen, auch wenn die erst zum Brotmesser greifen müssen, um an das Wissen etwa in den zugeklebten Sex-Seiten von »Jasmin« und »Eltern« zu gelangen.

»Der Mann lernt seine Frau behandeln wie ein Auto«, meuterte »Newsweek«, »sie merkt genau: Jetzt schaltet er von Seite 15 auf Seite 34 des Handbuchs um.« »Kochbuch-Mentalität« beklagte auch der Frankfurter Psychiatrie-Professor Hans-Joachim Bochnik. Und »Bild« sprach wieder einmal »aus, was viele denken": »Wir haben etwas dagegen, zu Ingenieuren der Erotik zu werden.« Kurzum: »Wir haben genug vom Sex!«

Das glauben offenbar nicht viele, am Ende auch »Bild« nicht. »Der Mons veneris«, schrieb der Hamburger Journalist Rolv Heuer (ausgerechnet in dem Sexpolit-Magazin »Konkret") »wurde zum Feldherrnhügel der Auflagen-Generale.« Immer unverhüllter wählen auch die Werbe-Strategen die Erhebungen und Rundungen weiblicher Physis, phallische Symbole oder gleich direkt die Ahnung vom Orgasmus um ihre Botschaft an den Mann und die Frau zu bringen -- gleichgültig, ob sie nun Whisky, Uhren, Teppiche, TV-Geräte, Benzin, Zigaretten oder schalldämmende Wände anpreisen oder ob lyrischen (Renate Rasp auf der Frankfurter Buchmesse) und musikalischen (Oben-ohne-Cellistin Charlott Moorman) Darbietungen zum Erfolg verholfen werden soll.

Und während die Flut des veröffentlichten Sex noch immer anschwillt« untersuchen Soziologen und Psychologen -- teils wiederum im Auftrag der werbenden Wirtschaft -- die Frage, ob sich im Volk der Whisky-Trinker, Zigaretten-Raucher und Benzin-Bürger das tatsächliche Sexualverhalten schon geändert habe oder im Begriff sei, sich zu ändern.

Als die Pille kam, sahen nicht wenige »die letzten Bremsen gegen den modernen Sexualisierungs-Trend« fallen oder gar die »Zersetzung der sittlichen und moralischen Substanz unseres Volkes« kommen (so die von einigen hundert deutschen Medizinern 1964 unterzeichnete »Ulmer Denkschrift").

Und offenbar glauben die meisten repräsentativen Querschnitts-Deutschen (64 Prozent der Frauen, 58 Prozent der Männer) immer noch, »daß die Pille die Moral verschlechtere und weibliche Wesen leichtsinnig mache« (Allensbach-Umfrage im August dieses Jahres). Sie beten nach, was die Moralhüter ihnen vorgebetet haben. Bis heute gibt es keine wissenschaftliche Untersuchung, die gewandeltes oder sich wandelndes Sexualverhalten in großer statistischer Breite erfaßt hätte wie etwa seinerzeit der Kinsey-Report.

Auch ohne Statistik läßt sich feststellen, daß In bestimmten Bereichen der Gesellschaft der Spielraum sexuellen Verhaltens größer geworden ist. Eine Gesellschaft, in der (durch die Pille) die Angst vor ungewollter Empfängnis weithin entfällt, in der sich immerhin schon mittels Kleinanzelgen Gruppensex-Kontakte zwischen Ehepaaren anbahnen lassen, eine Gesellschaft mit Camping, Auto und alljährlicher Urlaubsreise eröffnet jedenfalls ungezwungenere Möglichkeiten der Begegnung.« Wir werden mit einem Grad von Freiheit leben müssen«, formulierte der amerikanische Jesuitenpater Walter J. Ong, »viel größer, als wir ihn je in der Vergangenheit gekannt haben.«

In welchem Maße von diesem höheren Freiheitsgrad Gebrauch gemacht wird, wäre freilich die entscheidende Frage. Und nahezu alle Untersuchungen, die dazu -- wenn auch nur an jeweils relativ kleinen Gruppen -- während der letzten Jahre angestellt wurden, widersprechen den pessimistischen Prognosen mancher Kulturkritiker.

So fand etwa Professor Paul H. Gebhard, Nachfolger Kinseys am Institut für Sexualforschung der Indiana University: »Das Alter des ersten Geschlechtsverkehrs hat sich nicht nennenswert verschoben«; es liegt in Amerika nach wie vor zwischen 16 und 18 Jahren. Und der Hamburger Pädagoge Otto Brüggemann zerstörte einen Alptraum deutscher Eltern: Eine Umfrage an Schulen ergab »für Sex-Partys unter Schülern kaum Anzeichen«.

Für Deutschlands Studenten (3666 Befragte) fand Giese, daß unter den Zwanzigjährigen erst zwei Fünftel der männlichen und ein Drittel der weiblichen Befragten koitale Erfahrungen hatten. Er konstatierte überdies ein »ausgesprochen Partner-zentriertes« und erstaunlich mäßiges (Durchschnitt: viermal im Monat) Sexualverhalten der Studenten (SPIEGEL 35/1968). Giese: »Die Jugend ist in ihrer Einstellung zum Sex bemerkenswert stabil,«

Alle Befunde dieser Art widersprechen entschieden der These, der allgegenwärtige Sex-Rummel sei Vorstufe zu sexuellem Chaos -- oder Anzeichen einer wirklichen Befreiung aus den Fesseln überkommener Sexualmoral.

Vielmehr erweist sich die gedruckte, gefilmte, öffentlich zur Schau gestellte, genüßlich konsumierte, die halbe Welt überschwemmende Sex-Flut in Wahrheit als gigantische Maulhurerei, als eine von Sex-Träumen schillernde Seifenblasenwolke -- erzeugt noch unter dem Druck abendländischer Triebverdrängung.

Die Sex-Besessenheit »ist ein Symptom des Mangels« an wahrer Triebbefriedigung, urteilte Moralkritiker Plack. »Voyeuristische und exhibitionistische Pseudohypersexualität« diagnostizierte Professor Horst E. Richter, Direktor der Psychosomatischen Klinik der Universität Gießen: »Nicht Vorspiel, sondern definitiver Ersatz für verfehlte genitale Partnerbeziehung.«

Der englische Erfolgsfilm »Blow up«, meint Richter, veranschauliche solches Verhalten: »Der Photograph erobert alle Frauen -- mit der Kamera; sie erstarren wie hypnotisiert (die Mannequins), zucken wie im Orgasmus (Gräfin Lehndorff), aber mit keiner kann er wirklich etwas anfangen. Die strampelnde, hektische Faschings-Autogesellschaft am Anfang und Ende sowie das Tennisspiel ohne Ball demonstrieren die völlige Kontaktlosigkeit in dieser voyeuristisch-exhibitionistischen Welt.«

In gleichem Sinne formulierte Publizist Kurt Marti in der Schweizer »Weltwoche": »Schau-Sex gehört in das Kapitel der ... Selbstentfremdung des Menschen, in dem die Entfremdung des Sex zur bezahlten Manipulation mit Warencharakter nur ein Unterabschnitt ist.«

Die Gießener Seelenforscher (und nicht nur sie) sehen freilich noch andere bedenkliche Erscheinungen im Gefolge von Schau-Lust und Aufklärungswut: daß nämlich -- anstelle der religiösen Moral -- neue Zwänge, neue einengende Normen sich herausbilden könnten.

»,Do you feel better now?' als hygienisches Wohlbefindens-Ziel des Koitus«, mit dieser Formel umschrieb Richter, was sich als neue »Gesundheitsmoral« etablieren könnte. Sexualität würde eingeengt zum bloß diätetischen Problem, zum Sexualkult ohne Gefühlsbindung -- »etwa auf einer Ebene mit Kariesbekämpfung und Herzinfarkt-Prophylaxe

Das freilich wäre nur eine scheinbare Befreiung der Sexualität, nur eine neue Form der sexuellen Abwehr; »ein allerdings grandioser Verleugnungstrick«, wie Richter formulierte: Sexualität würde gleichsam als rein physiologischer Vorgang aus der Gesamtpersönlichkeit, aus der Einheit von Leib und Seele abgespalten -- und wäre damit wieder Opfer einer neuen Form der Verdrängung, die wiederum zu Neurosen führen könnte.

Eng verknüpft mit einer solchen »hygienischen Auffassung von Sexualität« (Richter) ist die Neigung, hochgeschraubte -- auch wieder zwanghafte -- Normen sexueller Leistungsfähigkeit zu setzen. Selbstwertgefühl und Prestige-Streben werden gekoppelt an die Zahl der Eroberungen und Orgasmen. »Zwang zur Potenz und zum Orgasmus«, gleichsam als persönlichen Erfolgsnachweis in einer »sexuellen Leistungsgesellschaft«, hatte schon Soziologe Helmut Schelsky beklagt.

Nun, da in den Illustrierten Woche um Woche auch die Perfektion der Liebestechnik öffentlich gepredigt wird, erhält ein solches »leistungssportliches Sex-Ideal« (Richter) noch einen zusätzlichen Schwierigkeitsgrad. So klagte ein »Bild«-Leser: »Hilfe, zwischen meiner Frau und mir schläft Herr Kolle!«

Dennoch könnte die Entwicklung, die dazu geführt hat, daß Sexualität nun offener diskutiert und freimütiger dargestellt wird, durchaus der Beginn jener »sexuellen Revolution« sein, wie sie die amerikanische Anthropologin Margaret Mead ausrief: Die Tabus zerbröckeln -- der Sexualität wird der Rang zuerkannt, der ihrer Bedeutung im menschlichen Leben entspricht.

Damit eröffnet sich auch die Chance, daß der alteingespielte Wechselmechanismus zwischen Herrschaft und Triebunterdrückung funktionsuntüchtig wird. Er wurde in ersten Akten des Ungehorsams schon in Frage gestellt

so beispielsweise auf dem letzten Katholikentag zu Köln.

Mehr als tausend Studenten und Studentinnen folgten am Donnerstag vorletzter Woche einem Aufruf des Asta an der Heidelberger Universität, über die »Möglichkeiten sexueller Befreiung« zu diskutieren. Daß Studenten und Schüler den Ruf »Brecht die bürgerlichen Sexual-Tabus« zum Politikum erhoben und fast obenan auf das Programm ihrer Kulturrevolution geschrieben haben, beweist zumindest, daß sie spüren, in welchem fatalen Zustand von Verdrückung und Verdrängung sich diese Generation noch befindet,

Nicht wenige Gesellschaftskritiker meinen inzwischen, daß der Zusammenbruch alter Sittennormen keineswegs auch moralischen Verfall bedeuten müsse; vielmehr könnten sich durchaus neue Wertvorstellungen entwickeln.

»Eine neue Moral muß gefunden werden«, formulierte der amerikanische Historiker und Publizist Max Lerner, »und ich glaube, die Jugend ist dabei, sie zu finden.« Wie, wenn die Generation der Jungen tatsächlich den alten Aberglauben hinwegfegte, dem noch Soziologen-Päpste wie Schelsky und Gehlen huldigten: daß sexuelle Triebunterdrückung, Keuschheit und Askese ein notwendiger Motor kulturellen Fortschritts seien?

»Die sich wandelnde Umwelt des Menschen in ihren technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verlangt nach einer sich wandelnden Sittlichkeit"« befand auch Paul Matussek, Professor an der Münchner Max-Planck-Forschungsstelle für Psychiatrie. Und auch er glaubt -- »neben überholten Moralvorstellungen und protestartigen Desorientierungen« -- Ansätze zu einer »Höherentwicklung des Sittlichen« beobachten zu können: eine Gesellschaft, in der ein »Ich-Gewissen« mehr und mehr das unpersönliche »Man-Gewissen« ("Das tut man nicht!") verdrängt.

Das Sittliche. meint Matussek. sei »stiller« geworden. An die Stelle hochtönender ethischer Vokabeln wie »Nächstenliebe« und »ewige Treue« sei, wie sich bei vielen Befragungen von Jugendlichen gezeigt habe, ein sprachliches Understatement getreten. Unter einem so unauffälligen Begriff wie »anständig« wurden »von den Befragten hohe Tugenden verstanden«. Und bei jungen Eheleuten fand sich die Tendenz, »weniger biologische und soziologische Interessengemeinschaft« als vielmehr eine »personale Liebesgemeinschaft im weitesten Sinn des Worts« anzustreben, in der »Partner und Kinder um ihrer selbst willen akzeptiert und geliebt werden«.

Solche Wertvorstellungen sind, wie etwa die Psychoanalytiker der Gießener Universität immer wieder bei psychotherapeutischen Beratungen bemerken, längst noch nicht Verhaltensnorm; aber sie tauchen zunehmend -- anstelle von »Leistungs« -- oder Gesundheits« -Sexualität -- als Verhaltensideal bei Jugendlichen auf.

Enke, männlicher Hauptdarsteller in dem Film »Zur Sache, Schätzchen«, schien diese neue Einstellung zum Sex und ein sich wandelndes Männlichkeits-Ideal auszudrücken, als er frei heraus von seinem Bedürfnis sprach, »sich anzukuscheln« und öfters mal »abzuschlaffen« -- eine Abkehr vom Idol des gebieterischen, knallharten Supermannes, der selber kaum Gefühlsregungen zeigt.

Ähnliche Wandlungen des Manns-Bilds glaubt Marshall McLuhan etwa in der amerikanischen Hippie-Bewegung zu erkennen. Wenn sich die männliche Hippie-Jugend nach Mädchen-Art kleidet, meint McLuhan, will sie damit sagen: »Wir scheuen uns nicht länger zu zeigen, daß wir sind, was ihr vielleicht »weibisch« nennt. Wir sind bereit zu offenbaren, daß wir Gefühle, Schwächen, Zärtlichkeit haben -- daß wir Menschen sind.«

»Die blitzartige Verbreitung der Vokabel »abschlaffen« unter den westdeutschen Jugendlichen«, meinte der Gießener Professor Richter, signalisiere möglicherweise -- als ein Anzeichen neben anderen -- den neuen Trend: »Humanisierung der Partnerbeziehung, Ideale von Offenheit, Toleranz und wechselseitiger Einfühlung bei eher skeptischer Reserve gegenüber einengenden Verpflichtungen.

Ob solche eher optimistischen Prognosen sich bewahrheiten oder ob nur neue Zwänge, andere Tabus, an die Stelle überkommener Verhaltensschranken treten werden, vermag gegenwärtig niemand abzusehen. Vorerst beherrscht das frustrierende Wechselbad von Sex-Angebot und Sex-Verbot noch fast alle Schichten der Gesellschaft.

Mag sein, die Generationen um die Jahrtausendwende finden bestätigt. was die Pessimisten fürchten: daß Sexualität, weil allseits verfügbar, zum belanglosen Konsumgut abgewertet ist; mag sein, daß Leistungs-Sex gleichsam zur neuen olympischen Disziplin erhoben wird oder daß Sexualität, wie Paul Ricoeur meinte, »mit ihrem geheimen Charakter auch ihren innigen Charakter verloren« hat.

Zu erwarten ist, daß die entsagungsvolle Liebe, die ein romantisches Mittelalter erfand, daß jenes frustrierende »Japsen, ohne zu wagen« (so Kulturkritiker Wayland Young) auf der Strecke bleibt.

Aber es mag auch sein, daß vor allem die Lust am verbotenen, sündhaften Sex sich verflüchtigt, daß jener Prozeß rückgängig gemacht wird, den Nietzsche mit der Formel umschrieb: »Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum Laster.«

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