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SPIEGEL Gespräch »Immer noch Alarm am Rhein«

Sandoz-Vorstand Hans Winkler über die Verantwortung für die Rhein-Katastrophe *
aus DER SPIEGEL 47/1986

SPIEGEL: Herr Dr. Winkler, Sie wurden auf einer Protestversammlung in Basel verhöhnt und sogar von einem aufgebrachten jungen Mann bespuckt. Was ist da in Ihnen vorgegangen?

WINKLER: Die Situation ist eigentlich traurig.

SPIEGEL: Haben Sie Verständnis für den Ausbruch hilfloser Wut?

WINKLER: Ich habe das als Überschreitung einer gewissen Grenze empfunden. Das hatte mit einer Diskussion nichts mehr zu tun.

SPIEGEL: Wie verkraften Sie denn all diese Angriffe? Bis vor zwei Wochen waren Sie doch noch ein angesehener Manager in einem sehr angesehenen Unternehmen.

WINKLER: Wir bemühen uns, wirklich genaue Antworten zu geben. Eine solche Katastrophe kann man aber nur mit Vernunft bewältigen. Man braucht in erster Linie einen klaren Kopf.

Für mich persönlich gibt es so unglaublich viele Aufgaben. die zu lösen sind. Ich muß gleichzeitig informieren, die Räumung der Brandstätte überwachen und dafür sorgen, daß keine weiteren Schäden auftreten.

SPIEGEL: Kommen Sie denn gar nicht dazu, nachzudenken?

WINKLER: Nein. Ich lese nichts, ich sehe kein Fernsehen. Ich bin pausenlos beschäftigt. Morgens um halb acht gehe ich weg von zu Hause und komme abends um zehn wieder zurück. Dann esse ich etwas, oft zum ersten Mal an dem Tag. Ich glaube, es geht jetzt in erster Linie darum, alle Kräfte für die Sache einzusetzen, und erst in zweiter um mich selbst.

SPIEGEL: Wir haben den Eindruck, in dieser schweren Krise steht und fällt der Konzern mit Hans Winkler- praktisch nur Sie geben öffentliche Erklärungen ab. Dabei sind Sie doch nur eines von neun Vorstandsmitgliedern. Ist Sandoz auf eine solche Situation personell so schlecht vorbereitet, oder verstecken sich da einige Leute?

WINKLER: Ich muß einräumen, daß wir überfordert sind. Vor allem von dem ungeheuren Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit wurden wir überrumpelt.

SPIEGEL: Jetzt wirft Ihnen sogar die konservative Standesvertretung der Basler Journalisten, der »Presseverein«, vor, gezielt Informationsverhinderung« zu betreiben. Wie vereinbaren sich das mit Ihrem Versprechen am Tag nach dem Unglück, »sachlich und offen informieren« zu wollen?

WINKLER: Von allem Anfang an haben wir affentlich erklärt, und ich sagte es auch meinen Mitarbeitern: In einem solchen Fall gibt es nichts zu beschönigen oder zu verstecken.

SPIEGEL: An diese Einsicht haben Sie sich nur nicht gehalten: Am Tag nach der Brandkatastrophe behaupteten Sie noch, die auffallende Rotfärbung des Rheinwassers sei ungefährlich.

WINKLER: Ich glaube, hier besteht ein riesiges Mißverständnis. Durch den Brand gelangte eine Quecksilberverbindung ins Wasser, und diese ist mit einem Markierungs-Farbstoff gefärbt. Vom gleichen Farbstoff lagerten aber auch zwei Tonnen »pur« in der Halle. Was wir sagen wollten, war: Nicht alles, was rot ist, ist automatisch quecksilberhaltig.

SPIEGEL: Sie sagten, die rote Farbe sei ungefährlich, und man mußte glauben, es sei alles in Ordnung.

WINKLER: Ja, das ist eine unserer Schwierigkeiten: Wenn wir versuchen, etwas zu erklären, wird der Inhalt unserer Aussagen oft mißverstanden. Ich kann Ihnen versichern, daß wir heute über diesen roten Markierungs-Farbstoff außerordentlich froh sind, denn er zeigt uns jede Verschmutzung des Brandplatzes und des Wassers zuverlässig an.

SPIEGEL: Haben Sie sich denn schon die Frage gestellt, ob Sie diese Katastrophe überhaupt moralisch verantworten können?

WINKLER: Für mich hängt das Problem der Verantwortung eng mit der Frage nach dem Verschulden zusammen.

SPIEGEL: Inwiefern?

WINKLER: Es ist einfacher, ein solches Unglück moralisch zu verkraften, wenn Sie überzeugt sind, nicht grob fahrlässig gehandelt zu haben.

SPIEGEL: Genau das wirft Ihnen aber die Regierung des Kantons Basel-Stadt nunmehr vor.

WINKLER: Davon habe ich noch nichts gehört.

SPIEGEL: Ähnliche Vorwürfe wurden in den letzten Tagen von allen Seiten erhoben. Der Kieler Toxikologe Professor Otmar Wassermann sagt, Sie hätten »kriminell gehandelt«, der deutsche

Umweltminister Walter Wallmann hält _(In der Basler Konzernzentrale mit ) _(Redakteuren Jürg Bürgi und Hans-Peter ) _(Martin. )

Ihnen »schwerwiegende Sicherheitsmängel« vor.

WINKLER: Ich habe Herrn Minister Wallmann bei der Konferenz der Rheinanliegerstaaten am vergangenen Mittwoch in Zürich getroffen. Er hat mir nichts davon gesagt.

SPIEGEL: Am letzten Montag hat er aber in Bonn festgestellt, Sandoz habe gegen Vorschriften verstoßen, die in der Schweiz gelten, und ganz offensichtlich »illegal gearbeitet«.

WINKLER: Das bestreite ich 100prozentig. Die Frage ist vielmehr, ob die bestehenden gesetzlichen Vorschriften in allen Teilen ausreichend waren. Das wird man jetzt untersuchen müssen. Aber den Vorwurf, daß wir illegal gearbeitet haben, muß ich in aller Form zurückweisen.

SPIEGEL: In der abgebrannten Halle lagerten Sie Lösungsmittel - obwohl Sie dafür keine Erlaubnis hatten, wie die staatliche Gebäudeversicherung erklärte.

WINKLER: Tatsache ist aber, daß die Gebäudeversicherung bereit ist, den Brandschaden ohne Vorbehalte anzuerkennen. Und was war denn vor dem Brand? Vier Tage vorher wurde die Halle von den Experten des Brandverhütungsdienstes inspiziert, und da hieß es, daß unsere Vorkehrungen genügen, wenn im Brandfall eine leistungsfähige Feuerwehr sofort eingreifen kann.

SPIEGEL: Sie haben also keinen Fehler gemacht?

WINKLER: Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube schon, daß sich die Situation jetzt, nach dem Großbrand, anders darstellt als davor. Daß wir über kein Auffangbecken für das Löschwasser verfügen, müßte korrigiert werden.

SPIEGEL: Das hätten Sie aber auch ohne Brandkatastrophe wissen können. In der Bundesrepublik gibt es solche Becken schon längst.

WINKLER: Wo denn?

SPIEGEL: Beispielsweise bei der Firma Boehringer in Ingelheim oder bei der BASF in Ludwigshafen.

WINKLER: Gut für sie.

SPIEGEL: Wir können kaum glauben, daß Ihnen das nicht bekannt war. Die Chemie-Firmen in Europa pflegen doch sehr enge Kontakte untereinander - gerade im Sicherheitsbereich...

WINKLER: ... ganz richtig...

SPIEGEL: ... und die Basler Chemie-Konzerne waren doch bisher besonders stolz darauf, daß sie freiwillig Vorsorgemaßnahmen trafen, die weit über die behördlichen Vorschriften hinausreichten. Warum gab es dann bisher keine ausreichenden Auffangbecken bei Sandoz?

WINKLER: Können Sie mir eine Schweizer Firma nennen, die ein solches Auffangbecken hat?

SPIEGEL: Aber das ist doch nicht der Maßstab: Sandoz ist ein Weltkonzern.

WINKLER: Schon, aber es gibt Prioritäten bei der Risikoabschätzung. Wir haben seit fast 30 Jahren keine Unfälle in diesem Ausmaß gehabt. Und das größte Risiko sahen wir bei der Produktion. Darauf haben wir uns konzentriert, dort haben wir unglaublich viel Arbeit und Geld investiert...

SPIEGEL: ... und ganz vergessen daß auch die Chemikalienlager gefährlich sind.

WINKLER: Nein die Probleme der Lagerung haben wir nicht völlig vernachlässigt, aber schauen Sie: Aus jedem Vorfall haben wir bis heute gelernt. Es sind ja schon einige Chemieunfälle passiert. Die hat man immer sehr sorgfältig analysiert und hat gesagt: Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden?

SPIEGEL: Was soll denn noch passieren, bis man so viel gelernt hat, daß nichts Schlimmes mehr geschieht. Muß es Tote geben?

WINKLER: Vergleichen Sie doch einmal die Unfallhäufigkeit in der chemischen Industrie vor 50, 30, 20 und 10 Jahren und heute...

SPIEGEL: ... sie ist massiv gestiegen.

WINKLER: Nein, sie ist gesunken!

SPIEGEL: Die Wahrheit ist, daß immer häufiger, immer mehr und immer Schwererwiegendes passiert.

WINKLER: Haben Sie dafür Zahlen?

SPIEGEL: Wir nennen Städtenamen: Seveso, Bhopal, Tschernobyl und Basel.

WINKLER: Ja, ja. Tschernobyl und Basel: Das ist aber schon ein bißchen ein Unterschied.

SPIEGEL: Und Seveso und Bhopal?

WINKLER: In Bhopal waren Löscheinrichtungen gar nicht vorhanden, Folgemaßnahmen wurden nicht ergriffen.

SPIEGEL: Können Sie denn Katastrophen wie die in Basel für die Zukunft ausschließen?

WINKLER: In dieser Größenordnung für die Schweiz wahrscheinlich ja. Aber

ganz ausschließen kann ich solche Unglücke nicht.

Im modernen Leben, in dieser Zivilisation gibt es ja sehr viele Risiken. Denken Sie nur an den Straßenverkehr. Dort, wo sich Unglücke immer wiederholen, gibt es - ich möchte das jetzt klar sagen - fast eine Gewöhnung. Daß es 1000 Tote im Verkehr gegeben hat, wird zur Kenntnis genommen, aber in der Chemie, wo solche Ereignisse sehr selten sind, werden die ganz anders beachtet.

SPIEGEL: Das kann man doch kaum vergleichen. Ihnen werden schließlich ganz konkrete Versäumnisse vorgeworfen.

WINKLER: Welche denn?

SPIEGEL: Der bundesdeutsche Verband der Chemischen Industrie hält Ihnen vor, keine Brandmelder, Sprinkleranlagen und Auffangbecken für das Löschwasser errichtet zu haben.

WINKLER: Brandmeldeanlagen sind Rauchmelder, die auf einen Schwelbrand ansprechen. Wegen der Zusammensetzung der Produkte in der betroffenen Halle war ein Schwelbrand sehr, sehr unwahrscheinlich. Rauchmelder wären also nicht sinnvoll gewesen.

SPIEGEL: Und Sprinkleranlagen?

WINKLER: In der abgebrannten Halle befand sich ein Blocklager, die Fässer waren also übereinander gestapelt. Da wären Sprinkleranlagen auch nicht die geeignetste Maßnahme gewesen.

SPIEGEL: Das heißt doch, das Risiko eines solchen Brandes ist nicht beherrschbar.

WINKLER: Nein, es gibt natürlich ganz andere Konsequenzen: Wir müssen kleinere Lager mit deutlich abgegrenzten Brandabschnitten bauen.

SPIEGEL: Haben Sie das vorher nicht gewußt?

WINKLER: Wir hatten unsere brennbaren Materialen alle in Eisenfässern gelagert. Wir müssen aber zugeben, daß wir bloß damit gerechnet haben, daß ein Brand nur ausbrechen würde, während im Lager gearbeitet wird. Und darauf haben wir uns eingestellt.

SPIEGEL: Sie haben sich verkalkuliert. Das Feuer ist an einem Samstag, kurz nach Mitternacht, entdeckt worden. Warum haben Sie eigentlich 1981 die Versicherungsgesellschaft für die Halle gewechselt? Haben Sie gescheut, 150000 Mark in eine Sprinkleranlage zu investieren, wie Ihnen das die Zürich-Versicherung vorgeschlagen hatte?

WINKLER; Wir haben uns für eine Versicherung beim Gerling-Konzern entschieden, weil der die bessere Offerte gemacht hat.

SPIEGEL: Ist Ihnen noch nie die Idee gekommen daß die Risiken der Großchemie so unübersehbar geworden sind, daß sie nicht mehr beherrscht werden können?

WINKLER: Wenn Sie die Sandoz mit Ihren deutschen Großunternehmen vergleichen: Da sind wir natürlich noch sehr viel kleiner, oder?

SPIEGEL: Herr Winkler, Sie weichen aus.

WINKLER: Nein, nein. Wenn die Leute in Deutschland die Verantwortung übernehmen können, da müssen Sie uns das auch zugestehen.

SPIEGEL: Aber Sie könnten doch auch sagen: Das übersteigt das verantwortbare Maß.

WINKLER: Nein, das sage ich nicht. Ich glaube, wir haben gelernt, daß normalerweise ein Großkonzern mehr Mittel hat, wichtige Sicherheitsmaßnahmen zu treffen als eine kleine Firma.

SPIEGEL: Aber es kommt in großen Firmen auch zu größeren Unfällen.

WINKLER: Ja natürlich.

SPIEGEL: Und die Informationen über die jüngste Katastrophe sind weiterhin unvollständig. Wissen Sie inzwischen wenigstens, wieviel Quecksilber beim Brand tatsächlich in den Rhein gelangt ist?

WINKLER: Wir können weder bestätigen noch dementieren, daß es nur 200 Kilogramm waren, wie das vom Gewässerschutzamt geschätzt wurde.

SPIEGEL: Kann man jetzt wenigstens ausschließen, daß als Folge des Unfalls noch weitere Giftmengen ins Rheinwasser gelangen?

WINKLER: Leider nein. Bei unserem Werk haben sich auf einer Länge von mehreren 100 Metern Agrochemikalien im Flußbett abgebgelagert. Sie werden nun erst langsam weggeschwemmt.

SPIEGEL: Wenn sich bei Hochwasser die Strömung verstärkt, muß da mit einer neuen Giftwelle gerechnet werden?

WINKLER: Ja. Wir setzen jedoch alles daran, diese Ablagerung innerhalb von wenigen Tagen zu beseitigen. Wegen dieses Depots besteht aber immer noch Alarm am Rhein.

SPIEGEL: Und wie steht es um die verbleibenden Gefahren für die Gesundheit der Basler?

WINKLER: Bei einer unvollständigen Verbrennung der Chemikalien könnten auch unbekannte Produkte entstanden sein. Von einer möglichen Langzeitgefährdung solcher Stoffe wissen wir aber noch nichts.

SPIEGEL: Sind Sie jetzt bereit offenzulegen, was Sie wirklich produzieren und wo Sie es in welchen Mengen lagern?

WINKLER: Das ist nicht üblich. Daß wir das als einzige Firma tun, kommt nicht in Frage.

SPIEGEL: Sie haben einen umfassenden Schadenersatz für Betroffene zugesagt, wie wollen Sie aber den Schaden am Ökosystem des Rheins wiedergutmachen?

WINKLER: Das wird in der Internationalen Rheinschutz-Kommission untersucht werden.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß Sie das überhaupt bezahlen werden können?

WINKLER: Ja.

SPIEGEL: Auch wenn das eine Milliarde Franken kostet?

WINKLER: Da möchte ich Sie an unseren Jahresbericht erinnern, wo wir mehr als eine Milliarde Franken als Reserven ausweisen - außerhalb jeder Versicherung.

SPIEGEL: Macht es Ihnen zu schaffen, daß die Aktienkurse von Sandoz in den letzten Tagen so dramatisch gefallen sind?

WINKLER: Ich würde sagen, daß das wohl eine vorübergehende Situation ist.

SPIEGEL: Sind die Aktionäre nicht beunruhigt und fordern nach der Katastrophe personelle Konsequenzen im Management, insbesondere den Rücktritt des Konzernpräsidenten Marc Moret?

WINKLER: Das wird wohl davon abhängen, was schließlich als Ursache des Unglücks ermittelt wird. Aber jemand der solche Chemie-Aktien hat, muß mit derartigen Vorkommnissen rechnen.

SPIEGEL: Herr Winkler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. *KASTEN

Hans Winkler *

ist Mitglied der Konzernleitung von Sandoz. Seit der Brandkatastrophe leitet er den Krisenstab des Unternehmens. Der 59jährige promovierte Chemiker und Leiter des Bereichs »Technik und Sicherheit«, seit 1958 bei Sandoz, kennt sich nahezu in allen Bereichen des Konzerns aus: auf dem Pharmasektor, in der Agro-Produktion und in der Farbenabteilung. Er leitet neben dem Bereich Technik die Division Biochemie und ist nicht nur für die Bewältigung der, ökologischen Katastrophenfolgen, sondern auch für die Information der Öffentlichkeit verantwortlich.

In der Basler Konzernzentrale mit Redakteuren Jürg Bürgi undHans-Peter Martin.

J. Bürgi, H.-P. Martin
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