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Hass im Netz : Ich bin der Troll

Sein größter Wunsch ist ein richtiger Shitstorm: Frührentner Uwe Ostertag schreibt täglich rund 200 Kommentare ins Netz. Bild: Jana Felgenhauer

Die ersten Nachrichtenportale im Internet schließen ihre Leserkommentare, weil ihnen die Häme und der Hass dort auf die Nerven gehen. Wer sind die Leute, die das Internet vollschimpfen? Besuch bei einem Leserkommentierer, bei Uwe Ostertag.

          5 Min.

          Krawall stiften, das dauert zwei Minuten. Uwe Ostertag scrollt durch Google News. Eine Meldung zum Jugenddrogenbericht. Ostertag überfliegt den Vorspann, den Text liest er nicht. „Das ist doch immer das Gleiche“, sagt er und springt in den Kommentarbereich. Mit den Zeigefingern haut er einen Satz in die Laptoptastatur. Er löscht ein paar Wörter, ergänzt, löscht: „Gebt den Hartz-IV-Empfängern weniger Geld, dann hat sich auch das Drogenproblem bei Jugendlichen gelöst.“ Uwe Ostertag fährt sich mit der Zunge über die Lippen, er drückt Enter.

          Timo Steppat

          Redakteur in der Politik.

          Es ist ein Kommentar von vielleicht 200, die er heute schreibt. Uwe Ostertag hat immer eine Meinung, zu allen Themen - außer Sport. Er kommentiert überall im Netz, von morgens bis in die Nacht hinein, sieben Tage die Woche. Ostertag sagt: „Provozieren, das ist wie ein Orgasmus.“ In seinen grauen Augenhöhlen funkelt es hellblau, sein Gesicht verzieht sich zum Lächeln. „Wenn sich jetzt jemand aufregt, dann ist das mein Ejakulat.“ Jede Nachricht wird kommentiert. Wer sich in die Halbwelt endloser Diskussionsstränge begibt, wird wie von einem Strudel aufgesogen. Hunderte schalten sich täglich in die Debatten bei „Spiegel Online“, „FAZ.net“ oder „Süddeutsche.de“ ein. Die meisten diskutieren über das Thema des Textes, manche liefern zusätzliche Informationen, korrigieren den Autor. Uwe Ostertag hingegen polemisiert, er provoziert. „Ich bin der Troll“, sagt er. Troll, so nennt man in der Netzsprache Menschen, die an Diskussion nicht interessiert sind, die Streit wollen.

          Uwe Ostertag, 55, sitzt in seinem Wohnzimmer im fränkischen Ochsenfurt. Die Krücken sind an die Wand gelehnt. Die Hüfte ist künstlich, das Kreuz gebrochen. Mühsam ist er über alte Decken in die Sofaecke gerutscht. Früher war er Grenzoffizier in der DDR, später Schlosser. Seit 1999 ist er Frührentner. „Ich bin ein Krüppel“, sagt er. Seine Frau hat ihn vor zehn Jahren verlassen, der gemeinsame Sohn ist bei ihm geblieben.

          Vorwurf der Volksverhetzung

          Ostertag stellt den Laptop auf seinen Schoß und wischt mit der Hand den Staub vom Bildschirm. Auf der schwarzen Schrankwand gegenüber steht ein Adventskranz, die Kerzen nicht angezündet, daneben ein kleiner Plastikweihnachtsbaum und ein Schild: „Frohe Weihnachten!“ Es ist Hochsommer. Jeden Morgen um halb acht, wenn sein 18-jähriger Sohn zur Schule gegangen ist, setzt sich Ostertag auf das Sofa. Er klappt den Laptop auf und liest, was in der Welt passiert. Dann beginnt das, was er seine Arbeit nennt.

          2001 kauft sich Ostertag seinen ersten Computer, kurz darauf meldet er sich in den Foren und Kommentarbereichen an. Er durchkämmt das Internet. Er liest Blogs und Nachrichtenseiten, Hintergründe und Archive, Meinungen und Essays. „Damals habe ich angefangen zu denken.“ Während er das sagt, hacken seine Zeigefinger den nächsten Kommentar ins Netz. In Berlin haben Asylsuchende eine Schule besetzt, sie sind im Hungerstreik. Ostertag schreibt: „Die Flüchtlinge in Kreuzberg drohen mit Selbstmord. Ich betone: sie DROHEN. Um es zu tätigen sind sie zu feige.“ Am Anfang, sagt Ostertag, habe er noch schmalzig, liebevoll, philosophisch geschrieben. „Das hat aber niemanden interessiert.“ Seine Beiträge veränderten sich, sie wurden aggressiver. „Indem ich alles überspitze, in alle Richtungen, will ich die Leute aufwecken“, sagt er.

          Im Februar 2011 hält ein Polizeiwagen in der kleinen Wohnsiedlung in Ochsenfurt. Es klopft an Ostertags Tür, sein Sohn ist vor ein paar Minuten zur Schule gegangen. Ein Durchsuchungsbefehl, zwei Beamte und ein Gerichtsvollzieher betreten die Zweizimmerwohnung. Sie packen den Computer ein, Ostertags wertvollsten Besitz. Er ist ein Beweisstück. Gegen Uwe Ostertag liegt eine Anzeige vor. Der Vorwurf, den die Staatsanwaltschaft Würzburg gegen ihn erhebt: Volksverhetzung. „Da war ich schon richtig baff“, sagt Ostertag. Mit einem Kommentar über körperlich Behinderte war er zu weit gegangen: „Aus einer Apfelkiste sortiert man auch die schlechten aus und wirft sie weg.“

          Screenshots sind Trophäen

          Ostertags Krücken retten ihn. Er spricht von einer „Selbstpersiflage“, da er doch selbst schwerbehindert sei. Die Staatsanwaltschaft lässt ihm das durchgehen. Kein Verfahren, keine Strafe. „Seitdem bin ich ein Staatsfeind“, sagt er und grinst. Die Anzeige hat ihn nicht gebremst. „Ich habe gemerkt, dass ich noch viel weiter gehen kann“, sagt er. „Ich habe nichts zu verlieren, mir kann keiner was.“ Die Provokationen werden schärfer, die Beleidigungen entgleisen: Der Bundespräsident sei ein kriegstreiberisches Arschloch, die katholische Kirche eine „Kinderficksekte“, die Bundesregierung korrupt, Veganer faschistisch. Jeden Tag spuckt Uwe Ostertag seinen Hass ins Netz. Er kämpft gegen alles und nichts. Sein größter Wunsch: „So ein richtiger Shitstorm.“ Ostertag will das, wovor sich andere fürchten. Er will Streit. Er will Prügel.

          „90 Prozent der Bevölkerung denkt nicht. Die leben ihr Leben und interessieren sich nicht dafür, wieso es ihnen so scheiße geht“, sagt er ohne vom Bildschirm aufzublicken. Ostertag ist unzufrieden mit der Regierung, mit der Gesellschaft. „Jede Meinung ist heute gleich politisch unkorrekt“, sagt er und zieht hastig an seiner Zigarette. Die unzähligen Kommentare sind seine Form des Protests. Das Netz belohnt Provokation. Bei Twitter folgen Ostertag über 2300 Menschen. Seine Trophäen sammelt er in einem Ordner auf seinem Laptop, viele Screenshots, fein säuberlich archiviert.

          Je beißender die Kritik, desto mehr Beifall bekommt er. „Hier, vor zwei Tagen“, er zeigt auf den Bildschirm, „da haben 1500 Leute meinen Kommentar bei ,Süddeutsche.de‘ positiv bewertet.“ Immer wieder öffnet er neue Fenster. „Das sind die Beweise.“ Beweise dafür, dass viele denken wie er. Mal sind es 500 positive Bewertungen, mal 2000. Ostertag liest eine Nachricht vor, die er von einem Follower bei Twitter bekommen hat: „Uwe, lass dir nicht das Maul verbieten. Geig den Mächtigen mal die Meinung!“ Die einzigen Gegner, die Uwe Ostertag hat, sind die Social-Media-Redakteure der Nachrichtenseiten.

          Diskussion statt Kommentare

          München. Ein Großraumbüro am Stadtrand, 22.Stock. Jedes Mal, wenn Uwe Ostertag bei „Süddeutsche.de“ kommentiert, muss Frank Porzky entscheiden: freischalten oder sperren? Porzky ist in den Weiten der Kommentarspalten ein Jäger, der die Trolle unter Kontrolle bringen muss. Wenn Ostertag bei „Süddeutsche.de“ hetzt, kann der Verlag rechtlich belangt werden. Uwe Ostertag balanciert auf einem schmalen Grat: Geht er in seinem Beitrag zu weit, löscht ihn Porzky. Ist er zu zahm, sagt er, findet er keinen Zuspruch bei den anderen Lesern.

          Frank Porzky deutet auf den Bildschirm: Eine graue Seite, lange Listen. „Das ist die Akte Ostertag.“ 1500 Mal hat er bei „Süddeutsche.de“ kommentiert. Jeder zehnte Kommentar wurde gesperrt. Vier Mal ist er in den letzten zwei Jahren verwarnt worden - wegen mangelnder Sachlichkeit, fehlendem Niveau oder Schmähkritik. „Wenn er noch einmal über die Stränge schlägt“, sagt Porzky, „können wir ihn sperren.“ Für Porzky ist es ein Klick, eine kurze Entscheidung. „Das ist mir egal“, sagt Ostertag. „Dann kommentiere ich woanders. Bei der ,SZ‘ behandeln sie einen sowieso wie ein Kind.“

          Anfang vergangener Woche hat „Süddeutsche.de“ die Kommentarspalten abgeschafft. Unter die Meldung zum Wirtschaftswachstum oder den Leitartikel zur Außenpolitik kann Ostertag nicht mehr seine Meinung abladen. Stattdessen stellt die Redaktion eine Frage, über die es eine Diskussion geben soll. Etwa: „Wie sollte Deutschland sein politisches Gewicht in der Welt einsetzen?“

          Ein guter Tag für den Troll

          Redakteure wie Frank Porzky wollen stärker moderieren, mehr Beiträge löschen und so die Qualität der Debatten erhöhen. Damit bedrohen sie Uwe Ostertag, und Ostertag macht das wütend. Mit den Änderungen bei „Süddeutsche.de“ werde eine „neue Ära des Medienfaschismus eingeläutet, um noch leichter unbequeme Meinungen zu zensieren“, schreibt er bei Facebook. „Scheinbar wird die Kritik der Kommentatoren immer lauter, dass man zu solchen Maßnahmen greift.“

          In Ochsenfurt ist es mittlerweile dunkel geworden. Ostertag sitzt mit kurzer Unterbrechung seit zwölf Stunden vor dem Computer. Er rollt seinen gekrümmten Körper vom Sofa und humpelt zum Lichtschalter. Die Glühbirne geht an, sie baumelt einsam von der Decke. Allein ist Ostertag nicht. In den Kommentarspalten hat er Menschen kennengelernt, die sind wie er. In der Dunkelheit finden sie sich, die Trolle. Mit zwei von ihnen hat er sich mal zum Kaffee verabredet. Heute war ein guter Tag für den Troll Uwe Ostertag.

          Von den Dutzenden Kommentaren ist nur eine Handvoll gesperrt worden. „Samstags sind die Zensoren nicht so aufmerksam“, sagt er und grinst selbstzufrieden. Wann hat er zum letzten Mal positiv kommentiert? „Gar nicht so lange her. Das Burka-Verbot in Frankreich“, grummelt er nach einer Minute, „das war gut.“ Uwe Ostertag hält inne, blickt nachdenklich auf Weihnachtsbaum und Adventskranz. Es vergehen ein paar Sekunden, dann schaut er wieder auf den Bildschirm. Bei „Google News“ sucht er sich einen Artikel. Überschrift. Vorspann. Kommentarbereich. Tastatur-Hacken. Enter. Die Nacht ist noch jung.

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