ZEIT: Hat in der Sitzung jemand dafür argumentiert, die Zinsen schon jetzt zu erhöhen?

Nagel: Frau Lagarde hat es so zusammengefasst: Es gab eine breite Diskussion über die Inflationsrisiken und im Ergebnis den Konsens, unseren geldpolitischen Kurs im März auf den Prüfstand zu stellen.

ZEIT: Sie klingen, als hätten Sie dafür plädiert, dass die EZB schnell handelt?

Nagel: Ich sehe ganz deutlich die Risiken, die wir eingehen, wenn wir zu lange mit der geldpolitischen Normalisierung warten. Ich habe schon in meiner Antrittsrede auf die soziale Dimension von Inflation hingewiesen. Nach meiner Einschätzung sind die ökonomischen Kosten deutlich höher, wenn wir zu spät handeln, als wenn wir frühzeitig handeln. Das zeigen auch Erfahrungen aus der Vergangenheit. Später müssten wir nämlich kräftiger und in höherem Tempo die Zinsen anheben. Die Finanzmärkte reagieren dann mit mehr Volatilität.

ZEIT: Sie fürchten einen Crash?

Nagel: Wenn wir zu lange warten und dann massiver handeln müssen, können die Marktschwankungen stärker ausfallen.

ZEIT: Die Energiepreise werden wegen des Umbaus hin zu erneuerbaren Energieträgern vielleicht auch längerfristig steigen. Besorgt Sie das Phänomen dieser sogenannten grünen Inflation?

Nagel: Die gegenwärtig sehr hohen Energiepreise sind nicht primär durch klimapolitische Maßnahmen erklärt. Wenn man die Wirtschaft in einen ambitionierten Transformationsprozess bringt, kann das aber zu dauerhaft höheren Preisen führen. In der Vergangenheit haben wir oft angenommen, dass die Energiepreise nach einem Hoch wieder zurückgehen, weil es sich nur um eine kurzzeitige Knappheit handelt, die beseitigt werden kann. Jetzt könnte das wegen des grünen Umbaus der Energieversorgung anders sein. Umso wachsamer müssen wir sein.

ZEIT: Sie sind gerade erst angetreten. Ist Ihr Gehalt eigentlich an die Inflationsrate gekoppelt?

Nagel: Nein.

ZEIT: Das wäre vielleicht klug gewesen.

Nagel: Das sehe ich anders. Wir als Bundesbank waren und sind nie begeistert, wenn die Löhne an die Inflationsraten gekoppelt sind. Das nährt nämlich die Gefahr, dass die Inflation sich selbst am Leben erhält: Steigende Preise erhöhen durch die Indexierung die Löhne, was wieder zu steigenden Preisen führt, und so weiter.

ZEIT: Diese Lohn-Preis-Spirale kann es auch ohne Indexierung geben. Sorgt Sie das?

Nagel: Diese Gefahr besteht bei lang anhaltend hoher Inflation. Wir nehmen die Gefahr als Notenbank ernst.

ZEIT: Das klingt alles sehr abstrakt. Für viele Menschen ist es aber ein sehr reales Problem, dass sie sich von ihrem Geld weniger kaufen können. Kann man ihnen und den Gewerkschaften aktuell ernsthaft empfehlen, dass sie sich zurückhalten sollen bei der Forderung nach mehr Lohn?

Nagel: Natürlich verstehe ich, dass die Menschen Sorgen haben, wenn die Dinge immer teurer werden. Es ist aber nicht mein Job, den Gewerkschaften dezidierte Ratschläge zu geben. Wir als Notenbanker müssen uns mit dem auseinandersetzen, was in den Lohnverhandlungen herauskommt. Es geht auch nicht allein um Deutschland. Einige Länder im Euro-Raum haben deutlich höhere Inflationsraten, teils sogar im zweistelligen Bereich.

ZEIT: Gibt es ein Land im Euro-Raum, in dem die Löhne schon nachziehen?

Nagel: Es ist zu früh, um schon eine belastbare Aussage zu machen. Aber wenn die Inflation länger auf einem hohen Niveau bleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Zweitrundeneffekten kommt. Die Fachleute der Bundesbank halten es aus heutiger Sicht für wahrscheinlich, dass die Inflation im Jahresdurchschnitt 2022 in Deutschland deutlich über vier Prozent liegen wird.