Lokführer-Gewerkschaft: Wie faul ist dieser Bahnstreik?

+++ Bei Urabstimmung getrickst? +++ 50 Stunden Streik lähmen Deutschland +++

Von: Von JEROME NUSSBAUM, BURKHARD UHLENBROICH, ALEXANDER RACKOW und OLAF WILKE

Ekgardt Sergej (40) steht auf dem fast verwaisten Hauptbahnhof von Leipzig und ist stinksauer. „Ich war die letzten Tage zur Behandlung in der Uni-Klinik, bin jetzt hier gestrandet“, flucht der Kraftfahrer aus Bad Düben. „Die Forderungen der Lokführer sind völlig überzogen. Es gibt wesentlich anstrengendere Jobs.“

Der Streik der Lokführer stürzt Deutschland ins Chaos – schon zum zweiten Mal in dieser Woche.

Mit kühler Berechnung hat die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) den Ausstand auf eines der verkehrsreichsten Wochenenden des Jahres gelegt: In elf Bundesländern beginnen oder enden die Herbstferien. Millionen Reisende wollen in den Urlaub starten oder rasch wieder nach Hause – und sitzen nun fest.

Wie Tobias Jänen (35) aus Haaren/Emsland, der für die Heimreise aus dem Urlaub notgedrungen einen Mietwagen nehmen muss. Er sagt: „Der Lokführerstreik ist eine totale Katastrophe.“

In Frankfurt schlief ein Bahnkunde direkt auf dem Bahnsteig

In Frankfurt schlief ein Bahnkunde direkt auf dem Bahnsteig

Foto: coremedia

Womöglich ist er sogar illegal. Um streiken zu dürfen, muss eine Gewerkschaft vorher ihre Mitglieder befragen („Urabstimmung“). Das hat auch die GDL gemacht. Aber: Nach BamS-Informationen hat die Gewerkschaft dabei einen entscheidenden Fehler gemacht. Ob mit oder ohne Absicht – unklar.

Darum geht’s: Die GDL hat offenbar nur die Mitglieder gezählt, die ihren Stimmzettel zurückgeschickt haben. Die Nichtwähler ließ sie einfach unter den Tisch fallen. So kommt GDL-Chef Claus Weselsky (55) auf seine Aussage, 91 Prozent der mehr als 16 000 GDL-Mitglieder hätten zugestimmt.

Richtig wäre aber gewesen, die hohe Zahl der Nichtabstimmer in das Ergebnis mit einzubeziehen. Und dann hätte die GDL die für einen Streik benötigten 75 Prozent nicht erreicht.

Das errechnete der renommierte Arbeitsrechtler Manfred Löwisch (77), Ex-Rektor der Uni Freiburg.Löwisch: „Damit lag die Zustimmung zum Streik nicht bei 91 Prozent, sondern nur bei rund 74 Prozent der stimmberechtigten GDL-Mitglieder. Ein über einen kurzen Warnstreik hinausgehender, längerer Streik, wie jetzt über das Wochenende, dürfte deshalb gar nicht stattfinden.“

Die Deutsche Bahn (DB), die der Streik Millionen kostet, nimmt den Verdacht gegen die GDL-Führung ernst. Eine DB-Sprecherin zu BamS: „Das muss aufgeklärt werden, auch um zu wissen, was von diesem Streik zu halten ist.“

Die GDL war trotz wiederholter BamS-Anfragen seit dem 2. Oktober nicht zu einer Stellungnahme bereit.

Fakt ist: Deutschlands Schienenverkehr steht seit Samstagmorgen um 2 Uhr fast komplett still. Und das für 50 Stunden bis morgen früh. Die Bahn hat einen Notfahrplan in Kraft gesetzt, nach dem nur noch etwa 30 Prozent der Fernzüge fahren. Für Reisende, die wegen des Streiks in der Nacht nicht weiterreisen können, stellt die DB Hotelzüge in Hamburg, Berlin, Frankfurt und München bereit.

Großes Gedränge herrscht an den Terminals der Fernbuslinien. Die Webseiten der Anbieter sind überlastet, die Buchungen verdoppeln oder verdreifachen sich seit Ankündigung der Streiks. Es gebe laut Bundesverband deutlich mehr Anfragen als freie Plätze. Auch viele Fußballfans müssen auf die Straße ausweichen. Die Sonderzüge wurden gestrichen. Der ADAC rechnet mit Staus auf den Autobahnen.

Um den Streik noch in letzter Minute abzuwenden, hatte die Bahn am Freitag ein neues Angebot vorgelegt. Dieses sieht eine dreistufige Gehaltserhöhung um fünf Prozent bis Juli 2016 sowie eine Einmalzahlung von rund 325 Euro vor.

Die GDL lehnte auch dieses Angebot ab.

Unterdessen hat Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (44, CSU) die Lokführer-Gewerkschaft GDL aufgefordert, die Verhandlungen mit der Deutschen Bahn fortzusetzen.

Dobrindt sagte zu BILD am SONNTAG: „Die Bahn ist das zentrale Verkehrsmittel in Deutschland, das jeden Tag Millionen von Fahrgästen befördert. Tarifauseinandersetzungen wie auch Streik sind ein elementarer Bestandteil der Tarifautonomie, dazu gehört aber auch die Verpflichtung zum verantwortungsvollen Umgang damit. Wenn in Tarifverhandlungen konkrete Angebote auf dem Tisch liegen, sollte verhandelt werden.“

Für Anne Kühnel (23), Erzieherin aus Grimma, kommen die Verhandlungen zu spät. Sie hatte Freunde in Flensburg besucht und muss sich nun eine Mitfahrgelegenheit nach Hause suchen. „Leuten wie mir, ohne Auto, wird die letzte Flexibilität genommen“, ärgert sie sich. „Außerdem ist es nicht gerade umweltschonend, wenn wegen der Streiks so viele Busse eingesetzt werden müssen.“

Fehler im Artikel gefunden? Jetzt melden.