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Herdenimmunität
Wann die Corona-Pandemie endet
Mit der Impfung endet Corona – so hieß es. Doch das Konzept der Herdenimmunität wankt. Wir erklären, was realistisch ist – und wann.
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Artikel Abschnitt: Darum geht’s:
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Die Impfung soll Herdenimmunität bringen
Tatsächlich berichten etwa die israelischen Behörden nach vielen Impfungen bereits von ersten Erfolgen: Die Ansteckungsrate sinkt, die Todesfälle nehmen ab. Trotzdem: Die Hoffnungen, die auf den Impfstoff gesetzt werden, sind hoch, aber die Erwartungen an ihn als einzige Maßnahme überhöht. Es gibt eine Menge praktische Probleme.
Aktuell zeigt sich: Die Impfverteilung stockt, die Impfquoten in Deutschland sind weiterhin auf niedrigem Niveau, als wäre selbst die Politik von der schnellen Entwicklung überrascht worden. Gleichzeitig sorgen neue Virusvarianten dafür, dass sich SARS-CoV-2 schneller ausbreitet. Fraglich ist, wie sehr die Impfstoffe auch vor den neuen Varianten schützen.
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Artikel Abschnitt: Darum müssen wir drüber sprechen:
Darum müssen wir drüber sprechen:
In der Praxis funktioniert Herdenimmunität nicht so einfach
Diese Formel gibt an, wie viele Menschen gegen das Virus immun sein müssen, damit eine Herdenimmunität eintritt und sich der Erreger nicht mehr exponentiell weiterverbreiten kann.
Die einzige Variable ist die sogenannte Basisreproduktionszahl (R0). Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ohne die derzeitigen Maßnahmen ansteckt. Mit Maßnahmen ist die effektive Reproduktionszahl niedriger, je nach Verhalten kann sie aber auch viel höher liegen. Die Beobachtungen und abgeleiteten Schätzungen dazu gehen weltweit stark auseinander.
Das RKI nennt 3,3–3,8 als realistische Spanne für die Basisreproduktionszahl. Setzt man den konservativen Wert 3,3 in die Formel ein, dann läge eine Herdenimmunität vor, wenn rund 66 Prozent immun wären – egal ob durch Impfung oder eine ausreichende Immunreaktion infolge einer durchgestandenen Infektion.
Wann erreichen wir die Herdenimmunität?
Wann wir die Herdenimmunität erreichen, hängt von mehreren Faktoren ab, etwa:
- Wie groß ist die Basisreproduktionszahl R0?
- Wie groß ist die Bevölkerung?
- Wie schnell wird geimpft (Impfungen pro Tag)?
- Wie sehr schützt die Impfung davor, das Virus weiterzugeben?
- Wie viele Immune gibt es bereits (natürliche Immunität)?
- Wie viele Impfdosen braucht man für den Impfschutz?
- Wie lange hält die Immunität (unbekannt, vermutlich länger als acht Monte)?
- Welche Rolle spielen Super-Spreading-Events für die Verbreitung (Dispersionsfaktor)?
Wenn man von einer benötigten Herdenimmunität von 66 Prozent ausgeht, bedeutet das, dass man rund 55 Millionen immune Menschen in Deutschland bräuchte und mehr als 50 Millionen impfen muss.
Dort wären demnach schon einige Prozent eingerechnet, die nach einer Ansteckung mit dem Coronavirus über eine natürliche Immunität verfügen. Das entspricht auch aktuellen Schätzungen, die auch in anderen europäischen Ländern mit erhöhtem Infektionsgeschehen im Schnitt im einstelligen Bereich liegen.
Was der Herdenimmunität im Weg steht
Es gibt allerdings einige Faktoren, die eine Herdenimmunität in der Praxis erschweren.
Zwei Faktoren verringern die Zahl der Menschen, die geimpft werden können:
- Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können oder sollen
- Menschen, die eine Impfung ablehnen
Zwei weitere Faktoren erhöhen die nötige Zahl an Menschen, die geimpft werden müssen:
- weniger effektive Impfungen, die die Übertragung nicht oder nur mäßig verringern
- lockere Maßnahmen und infektiösere Varianten (derzeitige mutierte Varianten aus England, Brasilien, Südafrika) erhöhen die Reproduktionszahl
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Nicht alle Menschen können geimpft werden
- Personengruppen ohne Impfempfehlung (z.B. Kinder, Schwangere)
- Genese (aber vermutlich immun), bereits Geimpfte
Von insgesamt 83 Millionen Menschen in Deutschland gelten bis zu 13 Prozent als immun, entweder weil sie sich bereits infiziert haben oder aber vollständig geimpft sind. Mehr als zehn Millionen werden vorerst (noch) nicht geimpft. Das Infektionsgeschehen bleibt in diesen Personengruppen also aufrechterhalten.
Der Zwischenstand: Zehn Millionen Menschen sind geimpft oder genesen und gelten vermutlich als immun, mindestens zehn Millionen werden nicht geimpft und demnach bleiben derzeit noch rund 62 Millionen Menschen in Deutschland, die sich überhaupt impfen lassen könnten.
Einige Menschen lehnen Impfung ab
Der zweite Punkt ist nicht erst seit Beginn der Pandemie ein hitziges Streitthema. Kurzum: Ein Teil der Gesellschaft lehnt Impfungen generell ab, ein weiterer Teil hat während der Pandemie eine Skepsis entwickelt.
Warum in Rekordzeit entwickelte Impfstoffe trotzdem sicher sein können, haben wir hier erklärt.
Zu Jahresbeginn lag die Impfbereitschaft im Bereich von etwa 50 bis 85 Prozent. Die Impfbereitschaft ist allerdings altersabhängig. Je höher das individuelle Risiko für einen schweren Verlauf, desto größer ist meist auch die Impfbereitschaft. Diese Gruppen machen in der demografischen Übersicht auch einen größeren Teil der Bevölkerung aus. Die Impfbereitschaft nach Altersgruppen gewichtet ergibt damit einen Schnitt von 76 Prozent.
Neben denen, die grundsätzlich auch das Impfprinzip ablehnen, gibt es viele Menschen, die sich etwa wegen der schnellen Entwicklung unsicher fühlen. Mit einer längeren Impfkampagne könnten, bei wenigen Nebenwirkungen, mehr Menschen dazu bereit sein und auf Impfstoffe vertrauen.
Der Zwischenstand: Von den verbliebenen 62 Millionen Menschen würden sich demnach noch rund 47 Millionen Menschen impfen lassen.
Zusammen mit der immun geltenden Bevölkerung wäre das mehr als nötig für die Herdenimmunität. Doch damit sind wir aber noch immer nicht am Ende.
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Sterile Immunität: Geben Geimpfte das Virus weiter?
Für die Herdenimmunität geht es aber nicht um die Häufigkeit einer Erkrankung, sondern die Ausbreitung der Infektion. Vermutlich kann sich das Coronavirus auch bei einem Teil der Geimpften auf der Schleimhaut niederlassen und sich auf andere Menschen übertragen.
Vorläufige (!) Ergebnisse, die teilweise von den Herstellern selbst stammen, zeigen bislang: die Ansteckung über Geimpfte liegt je nach Impfstoff zwischen 67 und 94 Prozent niedriger. In einer systematischen US-Studie reduzierten die mRNA-Impfstoffe die Infektionen um 80 Prozent, zuletzt wurden für mRNA-Impfstoffe Werte von 90 Prozent genannt. Diesen Wert nennen wir hier Impfeffizienz.
Mit der unvollständigen Impfeffizienz kommt eine weitere Variable in die Formel. Sobald der Wert kleiner ist als der Wert der Herdenimmunität, ist Herdenimmunität unmöglich.
Der Zwischenstand: In der bisherigen Rechnung müssen Impfstoffe die Verbreitung des Virus um mindestens 70 Prozent reduzieren. Gehen wir optimistisch von 90 Prozent aus, müssten dennoch bereits 78 Prozent der Menschen immun sein, damit Herdenimmunität vorliegt. Mehr als bislang immun sind oder sich impfen lassen würden. Demnach wäre Herdenimmunität unmöglich.
Trotzdem sind Impfungen sinnvoll – dazu später mehr. Denn die schon jetzt ernüchternde Rechnung ist noch nicht zu Ende.
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Mutationen sorgen für weitere Probleme
Was ihr zu den neuen Mutationen wissen müsst, erklären wir hier.
Varianten mit höherer Übertragbarkeit
Relevant sind sie deshalb, weil sie erstens am Spike-Protein sitzen und damit an der Virusstruktur, die für das Andocken und Eindringen in die Zelle verantwortlich ist. Zweitens haben Wissenschaftler beobachtet, dass sich die Verbreitung der Viren verändert hat. Derzeit geht man davon aus, dass die einzelnen Mutationen keinen allzu großen Effekt gehabt hätten, das Zusammenspiel jedoch schon.
Die Mutationen, die allen drei Varianten gemein ist, scheint die Übertragbarkeit des Virus zu erhöhen. Die verschiedenen Varianten verbreiten sich zwischen 30 und 120 Prozent stärker.
Der Zwischenstand: Durch die erhöhte Ansteckungsrate würde sich demnach auch die Basisreproduktionszahl erhöhen: aus 3,3 würden 4,3 (+30 Prozent) oder 5,2 (+56 Prozent). Die Impfungen müssten die Wahrscheinlichkeit einer Infektion somit um mindestens 86 bzw. 95 Prozent reduzieren und fast 90 Prozent der Menschen sich impfen lassen oder immun sein – die klassische Herdenimmunität ist allein über Impfungen damit derzeit nicht zu erreichen.
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Die Impfungen entspannen die Situation
Die Probleme sind aber nicht vom Tisch, nur weil in Deutschland die Hochrisikogruppe dank der Impfungen nicht mehr an den Folgen einer Corona-Infektion verstirbt. Eine parallele Durchseuchung der übrigen Bevölkerung würde dennoch zu vielen schweren Verläufen führen.
Sinkende Fallzahlen durch Impfungen: Ja oder nein?
Die Impfung allein könnte laut einigen Studien angesichts der neuen Virusvarianten nicht ausreichen, um das Virus zu verdrängen, also den R-Wert auf unter 1 zu drücken. Dafür bedürfe es weiterer Maßnahmen und Einschränkungen, etwa das Tragen von Maske, Hygieneregeln und Kontaktgebote.
Der Lichtblick: in Israel sind die Fallzahlen seit Impfbeginn drastisch gesunken und das in allen Altersklassen und damit auch den nicht-geimpften Kindern und Jugendlichen – trotz der neuen Variante B.1.1.7. Es gab keine neue Infektionswelle. Noch gelten allerdings auch weitere Maßnahmen und die Mobilität hat noch nicht das Niveau vor der Pandemie erreicht.
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Und jetzt?
Corona hat kein Ende – die Bedrohung schon
Eine Normalität wie vor der Pandemie stellt die Impfung allein aber nicht her. Das Ziel der Herdenimmunität scheint allein durch Impfung vermutlich schwer bis gar nicht zu erreichen. Doch der Weg aus der Pandemie ist ein langer. Folgende Punkte werden noch kritisch sein im Kampf gegen das Virus:
1. Hohe Corona-Zahlen bei jungen Menschen nicht folgenlos
Sobald die kritischen Krankheitsverläufe abnehmen, sind Lockerungen einfacher umzusetzen. Wenn es für das Virus wieder deutlich leichter wird, sich zu verbreiten, dann wird das auch passieren. Eine mögliche Folge wäre eine rasche Durchseuchung der jüngeren und (noch) ungeimpften Bevölkerungsgruppen – die größtenteils einen milden Krankheitsverlauf erwartet.
Bislang wenig diskutiert ist die Möglichkeit, dass die große Zahl an Neuinfektionen in den risikoarmen Gruppen ebenfalls zu medizinischen und wirtschaftlichen Problemen führen könnten. Statt weniger Patienten mit hohem Sterberisiko würden eben sehr viel mehr Menschen mit eigentlich geringerem Risiko eingeliefert.
Viele müssten in Quarantäne. Die Folge wäre ein großer Ausfall an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – ebenso eine hohe Anzahl an Patienten mit Langzeitfolgen.
2. Viele Infektionen führen zu Mutationen
Je weniger Infektionen es gibt, desto unwahrscheinlicher werden auch neue Mutationen, gegen die Impfungen weniger bis gar nicht anschlagen und gegen die auch eine vorherige Infektion nicht mehr schützt.
Mit solchen Varianten ginge das Ringen um Pandemie oder Alltag womöglich in eine neue Runde. Entgegen der Variante aus England (B.1.1.7) zeigen die aus Südafrika und Brasilien eine sogenannte Escape-Mutation. Mit ihr kann das Virus dem Immunsystem teilweise entkommen. Diese Varianten werden gegenüber B.1.1.7 genau dann einen besonders großen Vorteil haben, sobald ein deutlich größerer Teil der Bevölkerung immun ist.
Gegen die neuen Virusvarianten müssten die Impfstoffe angepasst werden. Eine einzelne, nachträgliche Booster-Impfung könnte dann wieder einen hohen Impfschutz herstellen. Eine weiterhin geltende Maskenpflicht auch für Geimpfte könnte selbst die Verbreitung von Escape-Varianten eindämmen.
3. Langzeit-Plan: niedrige Fallzahlen, hohes Impftempo weltweit
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Mutationen hier in Deutschland oder in einem Hotspot am anderen der Welt entstehen. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie muss man sich nur kurz vor Augen führen, wie womöglich ein einfacher Markt im chinesischen Wuhan die Welt für mehr als ein Jahr schon völlig verändert hat. Der Kampf gegen das Virus wird daher ein langer und mühsamer.
Nur ein niedriges Infektionsgeschehen lässt einen weitgehend sorgenfreien Alltag zu, verringert die Wahrscheinlichkeit für Mutationen und ermöglicht die Nachverfolgung. Zusammen mit einem hohem Impftempo und einer sinnvollen, globalen Verteilung der Impfstoffe ließe sich das Risiko für Mutationen weltweit senken. Umfangreiche und geplante Schnelltest-Maßnahmen können neue auftretende Infektionswellen früh eindämmen.
Am Ende wird das Coronavirus “endemisch”
Eine wissenschaftliche Studie hat sich vor Kurzem mit der langfristigen Entwicklung von SARS-CoV-2 auseinandergesetzt. Die Autoren und Autorinnen schlussfolgern, dass das Virus früher oder später endemisch wird.
Das heißt: Es reiht sich ein in die saisonalen, humanen Coronaviren wie OC43 oder HKU1. Es würde zu einer Art Kinderkrankheit werden, nachdem die älteren Generationen geschützt sind. Covid-19 würde dann in Zukunft ausschließlich in jungen Jahren infizieren und zu milden Verläufen führen. Aber, das sagen die Autoren ganz deutlich, das wird Jahre oder Jahrzehnte dauern.
Hinweis: Dieser Artikel wurde am 9. Februar und 1. April 2021 umfassend aktualisiert, um die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Entwicklungen zu berücksichtigen. User-Kommentare bis zu diesem Datum können sich daher auf ältere Informationen aus der vorherigen Version beziehen.
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Keine Pandemie hält ewig, ob mit oder ohne Impfungen. Vor 100 Jahren bei der spanischen Grippe gab es keine Impfungen, nach 1,5 Jahren war das Virus von selbst auf einem dauerhaft niedrigen Verbreitungswert angekommen. Genauso bei der Hongkong-Grippe, der asiatischen, der russischen usw., warum sollte es jetzt anders sein? Der… Weiterlesen »
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Das spricht nach meiner Einschätzung alles dafür, dass der Weg, den China und ein paar asiatische Länder bestritten haben, der richtige und der einzig zielführende ist. Tja – leider dumm gelaufen für die überheblichen westlichen Zivilisationen.
Klingt alles nicht so optimistisch. Auch wenn die Wahrheit besser ist als eine Lüge. Aber bedeutet das, dass es erst wenn Corona endemisch ist, wieder ganz normal wird, also erst in vielen Jahren oder Jahrzehnten? Und bis dahin weiterhin wenig Geselligkeit?