Interview

Jens Spahn: «Vertrauen ging massiv mit der Flüchtlingsfrage verloren, aber nicht nur»

Mit Jens Spahn hat Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren bekanntesten parteiinternen Kritiker in ihr Kabinett geholt. Im Interview spricht er über sein Verhältnis zur Kanzlerin, seine Aufgabe als Gesundheitsminister und über die Bewältigung der Migrationsströme.

Benedict Neff und Marc Felix Serrao, Berlin
Drucken
Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn will in seinem Amt das Vertrauen der Bürger in die Politik zurückgewinnen. (Bild: Maximilian König)

Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn will in seinem Amt das Vertrauen der Bürger in die Politik zurückgewinnen. (Bild: Maximilian König)

Herr Spahn, was wollen Sie als Gesundheitsminister bis 2021 erreicht haben?

Was ich sage, gilt für mich und die ganze Regierung: Wir wollen Vertrauen zurückgewinnen. Im Gesundheitswesen will ich den Alltag der Bürger spürbar verbessern.

Das heisst?

Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme. Aber es gibt Dinge, die sind nicht so, wie sie sein sollten: In der Pflege gibt es zu wenig Personal, bei der Vergabe von Arztterminen sind gesetzlich Versicherte gegenüber den Privaten benachteiligt, im ländlichen Raum haben wir Ärztemangel. In Teilen von Ostdeutschland wartet morgens vor einer Augenarztpraxis eine hundert Meter lange Schlange von Patienten.

Ihre Ankündigungen klingen vor allem teuer: 8000 neue Pflegekräfte, kürzere Wartezeiten, bessere Löhne für Ärzte. Sollten Sie nicht ehrlich sagen: Die Gesellschaft wird immer älter, es ist nur noch eine Basisversorgung möglich?

Wissen Sie, diese Debatte kenne ich in- und auswendig. Ich frage dann immer: Was soll denn rausfliegen aus dem Leistungskatalog? Mir fällt nichts ein. Das Gesundheitswesen wird teurer werden, weil wir dank dem Fortschritt immer älter werden. Um das zu finanzieren, brauchen wir wirtschaftliches Wachstum.

Jens Spahn

flx. «Lebe so, dass Jens Spahn etwas dagegen hätte», lautet ein Motto, das junge Linke in Deutschland gerade witzig finden. Der neue Gesundheitsminister ist der bekannteste Konservative der CDU, was auch daran liegt, dass es von der Sorte nicht mehr viele gibt. Der Bankkaufmann und Politologe Spahn hat die Lücke früh erkannt und mit markigen Reden und Talkshow-Auftritten besetzt. Auch die eigene Regierung hat er oft kritisiert. Dass ihn Angela Merkel ins Kabinett geholt hat, dürfte wenig mit Sympathie und viel mit der Hoffnung zu tun haben, dass der 37-Jährige als Minister aufhört dazwischenzufunken. Ob die Rechnung aufgeht? Spahn wurde in seinem Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen seit 2002 stets direkt in den Bundestag gewählt. Das macht selbstbewusst.

Als Erstes haben Sie von Vertrauen gesprochen. Wie ging das verloren?

Tja, das ist eine komplexe Frage. Vertrauen ging massiv mit der Flüchtlingsfrage verloren, aber nicht nur. Die Aufgabe des Staates ist es, für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese Handlungsfähigkeit war in den letzten Jahren oft nicht mehr ausreichend gegeben. Die deutsche Verwaltung funktioniert sehr effizient, wenn es darum geht, Steuerbescheide zuzustellen. Bei Drogendealern, die von der Polizei zum zwanzigsten Mal erwischt werden, scheinen die Behörden aber oft ohnmächtig.

Teilen Ihre Regierungskollegen diese Analyse?

Zumindest die vernünftigen Sozialdemokraten erkennen, dass auch sie massiv an Vertrauen verloren haben. Schauen Sie sich doch Arbeiterviertel in Essen, Duisburg oder Berlin an. Da entsteht der Eindruck, dass der Staat gar nicht mehr willens oder in der Lage sei, Recht durchzusetzen.

Sie haben die Regierung vor der Wahl oft kritisiert. Wie ist Ihr Verhältnis zur Kanzlerin?

Gut.

Heute ist es gut.

Es war immer gut.

Wie oft haben Sie in den vergangenen Jahren im stillen Kämmerlein gedacht: Oh Gott, was macht sie jetzt wieder?

So banal funktioniert das nicht. Was ich im stillen Kämmerlein denke, steht nicht in der Zeitung.

Gibt es bei Ihnen Stille?

Ich kann ganz still sein, ja. Und ich geniesse das auch. Ich höre gerne zu, weil ich von der Erfahrung anderer viel lerne. So war es auch im Spätsommer 2015. Das war eine Situation, die es in der Geschichte so kaum je gab: Mehr als eine Million Menschen aus einem völlig anderen Kulturraum kamen in wenigen Monaten ins viel reichere Europa. Das setzt natürlich Konflikte frei. Ich habe in dieser Zeit oft mit mir gerungen.

Haben Sie Dinge falsch eingeschätzt?

Bestimmt. Mal bin ich unterwegs und sehe Flüchtlinge, die Deutsch lernen und mit anpacken wollen. Dann gehe ich beseelt nach Hause. Am nächsten Tag erlebe ich das krasse Gegenteil und sehe, wie unsere Hilfe missbraucht und unsere Werte mit Füssen getreten werden.

Innenminister Horst Seehofer sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Die Kanzlerin widerspricht. Was ist Ihre Meinung?

Natürlich gehören die Muslime zu Deutschland.

Auch die Salafisten?

Die sind zumindest mal hier. Leider. Aber die Frage ist doch: Wollen alle Muslime zu Deutschland gehören? Noch erleben wir zu oft ein Nebeneinander. Der reaktionäre Teil des Islams macht das Zusammenleben schwierig. Wenn Töchter zwangsverheiratet werden, wenn gegen Schwule und Juden gehetzt wird, dann gehört das sicher nicht zu unserem Land. Unsere Verfassung, unsere Werte, unsere kulturellen Errungenschaften sind nicht verhandelbar.

Bringt die Frage überhaupt etwas: «Gehört der Islam zu Deutschland?»

Bringt es etwas, wenn morgens die NZZ erscheint?

Ja.

Sehen Sie. Debatten bringen etwas.

Sie möchten sich nicht festlegen.

Doch. Für mich gehören die Muslime mit ihrem Glauben zu Deutschland. Aber genauso gehören für mich Religionsfreiheit, die Rechte von Frauen und der Schutz für Minderheiten dazu. Vor einem Jahr wurde ein Islamgesetz in der Öffentlichkeit noch auf breiter Front abgelehnt. Heute herrscht weitgehend Konsens: Wir brauchen in Deutschland ausgebildete Imame, eigene Religionslehrer und muslimische Seelsorger.

Sie haben früher schon die Bedeutung der Islam-Konferenz betont. Ist das nicht ein sehr naiver Dialog?

Wir müssen die liberalen Kräfte im Islam stärken. Wir dürfen nicht, wie bisher zu oft, mit denen zusammenarbeiten, die ein bisschen radikal sind, um die ganz Radikalen zu bekämpfen. Auf Dauer geht das schief.

Meinen Sie den mächtigen türkischen Dachverband Ditib? Ist der ein «bisschen radikal»?

Der ist zumindest radikal, wenn es um die Politik in der Türkei und Erdogan geht. Ditib ist in weiten Teilen keine religiöse, sondern eine politische Einrichtung. In der Vergangenheit hat Ditib wichtige Arbeit bei der Integration von türkischen Gastarbeitern geleistet. Damals war die Türkei aber noch ein laizistischer Staat. Heute müssen wir von der Ditib verlangen, sich endlich von Ankara zu lösen. Wir brauchen weniger türkische und mehr deutsche Moschee-Gemeinden in Deutschland. Nur so entwickelt sich ein Islam, der in unserem Land zu Hause ist.

Braucht es einen deutschen Islam?

Muslimisches Gemeindeleben in Deutschland sollte unabhängig sein von Einfluss aus dem Ausland, dazu zählt die Finanzierung von Bauten genauso wie die Entsendung von Imamen. Die Seelsorge in Krankenhäusern und Gefängnissen muss genauso von in Deutschland ausgebildeten Imamen geleistet werden, wie islamische Religion von in Deutschland ausgebildeten Lehrern unterrichtet werden muss.

Der Koalitionsvertrag beginnt mit dem Motto «Ein neuer Aufbruch in Europa». Glauben Sie im Ernst, Sie können Vertrauen zurückgewinnen, wenn Sie europäische vor deutsche Interessen stellen?

Das ist zu kurz gedacht. Europäische und deutsche Interessen sind kein Widerspruch, im Gegenteil. Die Zukunft gehört Europa mit einem dynamischen Deutschland in der Mitte. Nicht umsonst steht im Koalitionsvertrag «eine neue Dynamik für Deutschland». Gemeinsam können wir mehr Wirkung entfalten. Der Weg hin zur Verteidigungsunion zeigt, was möglich ist.

Eine europäische Verteidigungsunion gibt es jenseits der Nato nicht. Die EU ist ein träger Apparat. Auch ein Aussengrenzschutz ist nicht vorhanden.

Im Grenzschutz ist etwas passiert. Bis vor ein paar Jahren haben wir Italien, Griechenland, Ungarn und Rumänien alleingelassen. Mittlerweile haben alle verstanden: Unsere gemeinsame Grenze ist am Mittelmeer, in der Ägäis, mit der Ukraine. Deshalb müssen wir einen europäischen Grenzschutz aufbauen. Sie sagen zu Recht: Dauert ganz schön lange. Es ist aber schon einiges passiert.

Tatsächlich?

Ja, deswegen müssen wir im Sinne Europas viel weiter gehen. Frontex braucht 100 000 Mann und soll wirklich die Grenze schützen. Allein Deutschland hat über 40 000 Bundespolizisten. Das gibt ein Gefühl dafür, was nötig ist.

Wie viele Mitarbeiter hat Frontex heute?

250. Dazu kommen 1500 nationale Beamte. Ich wäre auch offen für eine partielle Souveränitätsabgabe, wenn dadurch die Grenzen sicherer würden. Die Ansage lautet nicht «Hier kommt keiner mehr rein», sondern «Wir wollen wissen, wer reinwill, und dann entscheiden, ob er reinkommen darf». Bei aller Kritik an Viktor Orban: Er setzt an der Grenze europäisches Recht um und sichert Europas Grenze.

Wenn Europas Grenzschutz versagt, wird die AfD weiter zulegen. Haben Sie Angst vor der Partei?

Nein.

Ist die AfD demokratietheoretisch eine gute Sache?

Nein. Es wäre besser gewesen, der Bundestag hätte schon früher eine richtige Opposition gehabt. Demokratie braucht den Wettstreit um politische Ideen und Konzepte. Der Wettstreit kam in den letzten Jahren zu kurz.

Hat der Bundestag versagt?

Nein, aber grosse Koalitionen können die Debatte lähmen.

Jetzt koalieren Sie wieder mit der SPD.

Ja. Aber wir wollen dieses Mal unterscheidbarer bleiben. Unser Land profitiert davon, wenn Union und SPD wieder eigenständigere Profile entwickeln.

Nochmals: Warum gab es im Bundestag keine Opposition?

Niemand hat unsere Politik im Parlament grundsätzlich infrage gestellt. Weil mit der FDP die liberale Stimme gefehlt hat und es nur linke Oppositionsparteien gab.

Man könnte auch sagen, dass es nur linke Parteien gab.

Das ist Quatsch. Wenn ich mir anschaue, was wir bei der Verschärfung des Asylrechts und dem Ausbau der inneren Sicherheit durchgesetzt haben, waren wir als Partei der bürgerlichen Mitte nicht ohne Erfolg.

Könnten Sie sich 2021 eine Koalition mit der FDP und der AfD vorstellen?

Nein. Ich will die AfD überflüssig machen.

Sie selbst stehen doch einem Georg Pazderski näher als, sagen wir, Ralf Stegner von der SPD.

Wem bin ich näher?

Pazderski. Stellvertretender AfD-Vorsitzender.

Kenne ich nicht. Die AfD-Führung ist der NPD heute näher als der Union. Uns trennen grundsätzliche Dinge: unser Menschenbild, die parlamentarische Haltung, die Sprache. Wir wollen eine Gesellschaft, die durch Werte zusammenhält und nicht spaltet.

Ihnen wird auch oft vorgeworfen, ein Spalter zu sein.

Ich bin dafür, dass wir Probleme offen ansprechen, um gemeinsam nach Antworten zu suchen. So stärken wir den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Spahn, der Versöhner? Das entspricht nicht gerade Ihrem Image.

Finden Sie? Totschweigen ist eine Zeitbombe. Sozialer Friede entsteht aus dem Kompromiss. Und vor dem Kompromiss kommt die Debatte. Aber deutsche Debatten haben in letzter Zeit oft etwas Hysterisches.

Sind Sie mit den Medien unzufrieden?

Ich bin mit dem Teil des Journalismus unzufrieden, der Zitate verkürzt und den Zusammenhang ausblendet.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen Sie meinen Satz: «Wenn es um das Leben von Tieren geht, da sind einige, die jetzt für Abtreibungen werben wollen, kompromisslos.» Daraus wurde: Spahn vergleicht Frauen, die abtreiben müssen, mit Tieren.

Ist der öffentlichrechtliche Rundfunk besser?

Besser oder schlechter, das kann doch nicht die Frage sein. Ein Beispiel: Es gibt Tweets von Redakteuren des öffentlichrechtlichen Rundfunks, die sind einfach nur politisch eindeutige Kommentare und sehr subjektiv. Da steht zur Absicherung drüber: privater Account. Soll ich jetzt auch immer sagen: «Das war Spahn privat»? Ich bin Mitglied der Regierung. Entsprechend werden Sie meine Zitate einsortieren. Die gleichen Massstäbe sollten für Journalisten gelten.

Haben Sie ein Problem mit Kritik, Herr Spahn?

Ich bin sehr gelassen, wenn mir jemand widerspricht. Gelassenheit ist scheinbar eher eine Eigenschaft von Konservativen.