Language of document : ECLI:EU:C:2017:483

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

21. Juni 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EG) Nr. 562/2006 – Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) – Art. 20 und 21 – Überschreiten der Binnengrenzen – Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets – Nationale Regelung, nach der Kontrollen zur Feststellung der Identität von Personen zulässig sind, die innerhalb eines Gebiets von 30 km ab der gemeinsamen Grenze mit anderen Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen aufgegriffen werden – Kontrollmöglichkeit ohne Ansehung des Verhaltens der betroffenen Person oder des Vorliegens besonderer Umstände – Nationale Regelung, die bestimmte Personenkontrollmaßnahmen auf dem Gelände von Bahnhöfen gestattet“

In der Rechtssache C‑9/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Kehl (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Januar 2016, in dem Strafverfahren gegen

A,

Beteiligte:

Staatsanwaltschaft Offenburg,


erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan (Berichterstatter), J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

–        der schweizerischen Regierung, vertreten durch R. Balzaretti als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie der Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 562/2006).

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen A, einen deutschen Staatsangehörigen, dem ein Verstoß gegen das deutsche Betäubungsmittelrecht und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zur Last gelegt werden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In der Präambel des dem Vertrag von Lissabon beigefügten Protokolls (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2010, C 83, S. 290) heißt es:

„Die hohen Vertragsparteien –

angesichts dessen, dass die von einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 14. Juni 1985 und am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen sowie damit zusammenhängende Übereinkommen und die auf deren Grundlage erlassenen Regelungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 in den Rahmen der Europäischen Union einbezogen wurden,

in dem Wunsch, den seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam weiterentwickelten Schengen-Besitzstand zu wahren und diesen Besitzstand fortzuentwickeln, um zur Verwirklichung des Ziels beizutragen, den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen zu bieten,

sind über folgende Bestimmungen übereingekommen, die dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt sind“.

4        Art. 2 dieses Protokolls lautet:

„Der Schengen-Besitzstand ist unbeschadet des Artikels 3 der Beitrittsakte vom 16. April 2003 und des Artikels 4 der Beitrittsakte vom 25. April 2005 für die in Artikel 1 aufgeführten Mitgliedstaaten anwendbar. Der Rat tritt an die Stelle des durch die Schengener Übereinkommen eingesetzten Exekutivausschusses.“

5        Zum Schengen-Besitzstand gehört u. a. das am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichnete Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: Schengener Durchführungsübereinkommen oder SDÜ), dessen Art. 2 das Überschreiten der Binnengrenzen betraf.

6        Art. 2 Abs. 1 bis 3 SDÜ lautete:

„(1)      Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.

(2)      Wenn die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit es indessen erfordern, kann eine Vertragspartei nach Konsultation der anderen Vertragsparteien beschließen, dass für einen begrenzten Zeitraum an den Binnengrenzen den Umständen entsprechende nationale Grenzkontrollen durchgeführt werden. Verlangen die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit ein sofortiges Handeln, so ergreift die betroffene Vertragspartei die erforderlichen Maßnahmen und unterrichtet darüber möglichst frühzeitig die anderen Vertragsparteien.

(3)      Die Anwendung von Artikel 22 und die Ausübung der Polizeibefugnisse durch die nach Maßgabe des nationalen Rechts zuständigen Behörden einer Vertragspartei in dem gesamten Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei sowie die im Recht dieser Vertragspartei vorgesehenen Verpflichtungen über den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen bleiben von der Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen unberührt.“

7        Art. 2 SDÜ wurde gemäß Art. 39 Abs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 mit Wirkung vom 13. Oktober 2006 aufgehoben.

8        Art. 2 Nrn. 9 bis 11 dieser Verordnung bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

9.      ‚Grenzkontrollen‘ die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke dieser Verordnung unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen;

10.      ‚Grenzübertrittskontrollen‘ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen;

11.      ‚Grenzüberwachung‘ die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen“.

9        Art. 20 („Überschreiten der Binnengrenzen“) der Verordnung Nr. 562/2006 lautet:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

10      Art. 21 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) dieser Verordnung sieht vor:

„Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)      die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)      keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)      auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)      in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)      auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

c)      die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen;

d)      die Möglichkeit eines Mitgliedstaats, die Verpflichtung für Drittstaatsangehörige, ihre Anwesenheit in seinem Hoheitsgebiet gemäß Artikel 22 [SDÜ] zu melden, gesetzlich vorzuschreiben.“

 Deutsches Recht

 Gesetz über die Bundespolizei

11      Das Gesetz über die Bundespolizei (Bundespolizeigesetz – BPolG) vom 19. Oktober 1994 (BGBl. 1994 I S. 2978) enthält in Abschnitt 1 („Aufgaben und Verwendungen“) folgenden § 2 („Grenzschutz“):

„(1)      Der Bundespolizei obliegt der grenzpolizeiliche Schutz des Bundesgebietes (Grenzschutz), soweit nicht ein Land im Einvernehmen mit dem Bund Aufgaben des grenzpolizeilichen Einzeldienstes mit eigenen Kräften wahrnimmt.

(2)      Der Grenzschutz umfasst:

1.      die polizeiliche Überwachung der Grenzen,

2.      die polizeiliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs einschließlich

a)      der Überprüfung der Grenzübertrittspapiere und der Berechtigung zum Grenzübertritt,

b)      der Grenzfahndung,

c)      der Abwehr von Gefahren,

3.      im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern und von der seewärtigen Begrenzung an bis zu einer Tiefe von 50 Kilometern die Abwehr von Gefahren, die die Sicherheit der Grenze beeinträchtigen.

Das Bundesministerium des Innern wird ermächtigt, zur Sicherung des Grenzraumes das in Satz 1 Nr. 3 bezeichnete Gebiet von der seewärtigen Begrenzung an durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates auszudehnen, soweit die Grenzüberwachung im deutschen Küstengebiet dies erfordert. In der Rechtsverordnung ist der Verlauf der rückwärtigen Begrenzungslinie des erweiterten Grenzgebietes genau zu bezeichnen. Von der seewärtigen Begrenzung an darf diese Linie eine Tiefe von 80 Kilometern nicht überschreiten.

(3)      Das Einvernehmen nach Absatz 1 ist in einer schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium des Innern und dem beteiligten Land herzustellen, die im Bundesanzeiger bekanntzugeben ist. In der Vereinbarung ist die Zusammenarbeit zwischen der Bundespolizei und der Polizei des Landes zu regeln.

(4)      Nimmt die Polizei eines Landes Aufgaben nach Absatz 1 im Einvernehmen mit dem Bund mit eigenen Kräften wahr, richtet sich die Durchführung der Aufgaben nach dem für die Polizei des Landes geltenden Recht.“

12      Ebenfalls in Abschnitt 1 BPolG sieht § 3 („Bahnpolizei“) in seinem Abs. 1 vor:

„Die Bundespolizei hat die Aufgabe, auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren, die

1.      den Benutzern, den Anlagen oder dem Betrieb der Bahn drohen oder

2.      beim Betrieb der Bahn entstehen oder von den Bahnanlagen ausgehen.“

13      Immer noch in Abschnitt 1 BPolG bestimmt § 12 („Verfolgung von Straftaten“) in seinem Abs. 1:

„Die Bundespolizei nimmt die polizeilichen Aufgaben auf dem Gebiet der Strafverfolgung (§§ 161, 163 der Strafprozessordnung) wahr, soweit der Verdacht eines Vergehens (§ 12 Abs. 2 des Strafgesetzbuches) besteht, das

1.      gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung ihrer Aufgaben nach § 2 gerichtet ist,

2.      nach den Vorschriften des Passgesetzes, des Aufenthaltsgesetzes oder des Asylgesetzes zu verfolgen ist, soweit es durch den Grenzübertritt oder in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem begangen wurde,

3.      einen Grenzübertritt mittels Täuschung, Drohung, Gewalt oder auf sonst rechtswidrige Weise ermöglichen soll, soweit es bei der Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs festgestellt wird,

4.      das Verbringen einer Sache über die Grenze ohne behördliche Erlaubnis als gesetzliches Tatbestandsmerkmal der Strafvorschrift verwirklicht, sofern der Bundespolizei durch oder aufgrund eines Gesetzes die Aufgabe der Überwachung des Verbringungsverbotes zugewiesen ist,

…“

14      In Abschnitt 2 („Befugnisse“) Unterabschnitt 2 Teil 1 BPolG findet sich § 22 („Befragung und Auskunftspflicht“), dessen Abs. 1 und 1a lauten:

„(1)      Die Bundespolizei kann eine Person befragen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person sachdienliche Angaben für die Erfüllung einer bestimmten der Bundespolizei obliegenden Aufgabe machen kann. Zum Zwecke der Befragung kann die Person angehalten werden. Auf Verlangen hat die Person mitgeführte Ausweispapiere zur Prüfung auszuhändigen.

(1a)      Zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet kann die Bundespolizei in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes (§ 3), soweit aufgrund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden, sowie in einer dem Luftverkehr dienenden Anlage oder Einrichtung eines Verkehrsflughafens (§ 4) mit grenzüberschreitendem Verkehr jede Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, dass mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen.“

15      Ebenfalls in Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 Teil 1 BPolG steht § 23 („Identitätsfeststellung und Prüfung von Berechtigungsscheinen“), dessen Abs. 1 und 3 bestimmen:

„(1)      Die Bundespolizei kann die Identität einer Person feststellen

1.      zur Abwehr einer Gefahr,

2.      zur polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs,

3.      im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4,

4.      wenn die Person sich in einer Einrichtung der Bundespolizei (§ 1 Abs. 3), einer Anlage oder Einrichtung der Eisenbahnen des Bundes (§ 3), einer dem Luftverkehr dienenden Anlage oder Einrichtung eines Verkehrsflughafens (§ 4), dem Amtssitz eines Verfassungsorgans oder eines Bundesministeriums (§ 5) oder an einer Grenzübergangsstelle (§ 61) oder in unmittelbarer Nähe hiervon aufhält und Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort Straftaten begangen werden sollen, durch die in oder an diesen Objekten befindliche Personen oder diese Objekte selbst unmittelbar gefährdet sind, und die Feststellung der Identität aufgrund der Gefährdungslage oder auf die Person bezogener Anhaltspunkte erforderlich ist, oder

5.      zum Schutz privater Rechte.

(3)      Die Bundespolizei kann zur Feststellung der Identität die erforderlichen Maßnahmen treffen. Sie kann den Betroffenen insbesondere anhalten, ihn nach seinen Personalien befragen und verlangen, dass er Ausweispapiere zur Prüfung aushändigt. Bei der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs kann die Bundespolizei ferner verlangen, dass der Betroffene Grenzübertrittspapiere vorlegt. Der Betroffene kann festgehalten und zur Dienststelle mitgenommen werden, wenn seine Identität oder seine Berechtigung zum Grenzübertritt auf andere Weise nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Unter den Voraussetzungen des Satzes 4 können der Betroffene sowie die von ihm mitgeführten Sachen nach Gegenständen, die der Identitätsfeststellung dienen, durchsucht werden.

…“

 Strafgesetzbuch

16      Nach § 113 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) (BGBl. 1998 I S. 3322) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn dabei tätlich angreift.

17      Nach § 113 Abs. 3 StGB ist die Tat nicht strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

18      Am 1. April 2014 überquerte A zu Fuß die Europabrücke von Straßburg (Frankreich) nach Kehl (Deutschland) und begab sich unmittelbar zum etwa 500 m entfernten Bahnhof der Deutschen Bahn AG.

19      Zwei Beamte einer Streife der deutschen Bundespolizei beobachteten ihn vom Bahnhofsvorplatz aus. Auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG unterzogen sie ihn einer Identitätskontrolle.

20      Da A sich der Kontrolle gewaltsam widersetzte, wurde ihm Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB zur Last gelegt.

21      Nach Ansicht des Amtsgerichts Kehl (Deutschland) ist der Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte erfüllt und A zu bestrafen, sofern die von den Polizeibeamten in Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen rechtmäßig seien. Nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 oder § 22 Abs. 1a BPolG wäre die Kontrolle der Identität von A durch die Beamten der Bundespolizei zulässig.

22      Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit dem vorrangig anzuwendenden Unionsrecht. Es nimmt insoweit auf das Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363), Bezug. Sollten diese Zweifel berechtigt sein, wäre nach seinen Ausführungen der Versuch von A, sich der Feststellung seiner Identität mit Gewalt zu entziehen, nicht nach § 113 StGB strafbar.

23      Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Kehl beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 oder sonstige Regelungen der Europäischen Union dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, im Gebiet bis zu einer Tiefe von 30 km entlang der Landesgrenze dieses Mitgliedstaats zu den Vertragsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder zur Verhütung von bestimmten Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung des Grenzschutzes gerichtet sind oder im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt begangen werden, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände festzustellen, ohne dass gemäß den Art. 23 ff. der Verordnung Nr. 562/2006 vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betroffenen Binnengrenze eingeführt wurden?

2.      Sind Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 oder sonstige Regelungen der Europäischen Union dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen dieses Mitgliedstaats jede Person kurzzeitig anzuhalten, zu befragen und zu verlangen, dass mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein zu nehmen, soweit aufgrund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass diese Züge oder Bahnanlagen zur unerlaubten Einreise genutzt werden, und die Einreise aus einem Vertragsstaat des Schengener Durchführungsübereinkommens erfolgt, ohne dass gemäß den Art. 23 ff. der Verordnung Nr. 562/2006 vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betroffenen Binnengrenze eingeführt wurden?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

24      Die deutsche Regierung wendet ein, die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen seien unzulässig. In der mündlichen Verhandlung hat sie geltend gemacht, selbst wenn der Gerichtshof die Vorlagefragen bejahe und daher die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kontrolle unter Verstoß gegen die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 erfolgt wäre, betreffe eine solche Antwort nicht die Zulässigkeit des Handelns der deutschen Polizei. Die Vorlagefragen seien daher nicht erheblich.

25      Dazu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen angibt, dass die Beantwortung der Vorlagefragen erforderlich sei, um über die Strafbarkeit des Angeklagten wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschrift, § 113 Abs. 1 StGB, entscheiden zu können. Es geht von einer Auslegung des nationalen Rechts aus, nach der sich der Angeklagte nicht wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hätte, falls es an einer Rechtsgrundlage für die fragliche Identitätskontrolle fehle, weil die von den Vollstreckungsbeamten herangezogenen nationalen Bestimmungen für unionsrechtswidrig befunden würden.

26      Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom 22. Dezember 2008, Regie Networks, C‑333/07, EU:C:2008:764, Rn. 46, vom 8. September 2009, Budějovický Budvar, C‑478/07, EU:C:2009:521, Rn. 63, und vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 27).

27      Daher hat der Gerichtshof im vorliegenden Fall trotz der insoweit von der deutschen Regierung geäußerten Zweifel die vom vorlegenden Gericht ausgeführten tatsächlichen und rechtlichen Umstände als gegeben anzusehen. Im Licht dieser Umstände ist aber nicht auszuschließen, dass seine Antwort auf die Fragen zur Auslegung des Art. 67 AEUV sowie der Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dem vorlegenden Gericht die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits ermöglichen kann.

28      Unter diesen Umständen ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären.

 Zur ersten Frage

29      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, innerhalb eines Gebiets von 30 km ab der Landgrenze dieses Mitgliedstaats zu anderen Vertragsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder unerlaubten Aufenthalts in diesem Hoheitsgebiet oder zur Verhütung bestimmter Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung des Grenzschutzes gerichtet sind oder im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt begangen werden, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände zu kontrollieren, ohne dass gemäß den Art. 23 bis 26 der Verordnung Nr. 562/2006 vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betroffenen Binnengrenze eingeführt wurden.

30      Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 67 Abs. 2 AEUV, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des AEUV-Vertrags gehört, die Union sicherstellt, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Nach Art. 77 Abs. 1 Buchst. a AEUV entwickelt die Union eine Politik, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 48).

31      Laut dem ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 562/2006 ist die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen Teil des Ziels der Union nach Art. 26 AEUV, einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 49).

32      Nach Art. 20 dieser Verordnung dürfen die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Gemäß Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 562/2006 bezeichnet der Ausdruck „Grenzübertrittskontrollen“ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen (Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 67, und vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 51).

33      Art. 72 AEUV bestimmt, dass Titel V des AEU-Vertrags nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berührt (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 52).

34      Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 sieht vor, dass die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten (Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 69, und vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 53).

35      Nach Satz 2 dieser Bestimmung darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen, in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, und auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden (Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 70, und vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 54).

36      Im Übrigen berührt die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 21 Buchst. c der Verordnung Nr. 562/2006 nicht die einem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, in seinem nationalen Recht eine Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Unter diesen Bedingungen ist die Einhaltung des Unionsrechts und insbesondere der Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 durch die Schaffung und Wahrung eines Rechtsrahmens zu sichern, der gewährleistet, dass die praktische Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 68).

38      Insbesondere ist, wenn Indizien darauf hindeuten, dass eine gleiche Wirkung wie bei Grenzübertrittskontrollen besteht, die Konformität der Identitätskontrollen mit Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 durch Konkretisierungen und Einschränkungen sicherzustellen, die die praktische Ausübung der den Mitgliedstaaten zustehenden polizeilichen Befugnisse so einfassen, dass eine solche gleiche Wirkung vermieden wird (vgl. Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Insoweit muss eine nationale Regelung, die den Polizeibehörden eine Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen einräumt, die zum einen auf das Gebiet an der Grenze des Mitgliedstaats zu anderen Mitgliedstaaten beschränkt und zum anderen unabhängig vom Verhalten der kontrollierten Person und vom Vorliegen besonderer Umstände ist, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, insbesondere das Ermessen lenken, über das diese Behörden bei der praktischen Handhabung der besagten Befugnis verfügen (Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 74).

40      Je zahlreicher die Indizien für eine mögliche gleiche Wirkung im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 sind, die sich aus dem mit Kontrollen in einem Grenzgebiet verfolgten Ziel, aus deren räumlichem Anwendungsbereich und aus dem Bestehen unterschiedlicher Grundlagen für diese Kontrollen und die Kontrollen im übrigen Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ergeben, umso strenger müssen außerdem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Konkretisierungen und Einschränkungen sein und eingehalten werden, die für die Ausübung der ihnen zustehenden polizeilichen Befugnisse durch die Mitgliedstaaten in einem Grenzgebiet gelten, um die Verwirklichung des Ziels der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV sowie Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 nicht zu gefährden (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 75).

41      Schließlich muss der erforderliche Rahmen hinreichend genau und detailliert sein, damit sowohl die Notwendigkeit der Kontrollen als auch die konkret gestatteten Kontrollmaßnahmen selbst Kontrollen unterzogen werden können (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 76).

42      Als Erstes ist zu Kontrollen, wie sie in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG vorgesehen sind, auf den das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage abstellt, festzustellen, dass sie nicht „an einer Grenze“ oder beim Grenzübertritt, sondern im Innern des nationalen Hoheitsgebiets stattfinden. Außerdem ergibt sich aus der dem Gerichtshof unterbreiteten Akte, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kontrolle am Bahnhof der Deutschen Bahn in Kehl stattfand, der etwa 500 m von der Binnengrenze zwischen Deutschland und Frankreich entfernt ist.

43      Diese Kontrollen sind also Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats im Sinne des Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 68, und vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 56).

44      Als Zweites ergibt sich zu dem Ziel der deutschen Regelung, die die Kontrollen in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG vorsieht, aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Informationen, deren Nachprüfung Sache des nationalen Gerichts ist, dass sich die Ziele, die mit den in dieser Bestimmung vorgesehenen Kontrollen verfolgt werden, in bestimmten wesentlichen Punkten von denen unterscheiden, die mit Grenzübertrittskontrollen im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 562/2006 verfolgt werden.

45      Nach der letztgenannten Bestimmung bezeichnet der Ausdruck „Grenzübertrittskontrollen“ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen.

46      Die in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG vorgesehenen Identitätskontrollen und Kontrollen von Berechtigungsscheinen bezwecken aber nicht nur die Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet, sondern auch die Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 BPolG. Letzterer betrifft ausweislich der Vorlageentscheidung u. a. Vergehen, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind, und Vergehen gegen die Vorschriften des Passgesetzes, des Aufenthaltsgesetzes oder des Asylgesetzes, bei denen der Verdacht besteht, dass sie durch den Grenzübertritt begangen wurden.

47      Der Umstand, dass die auf § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG beruhenden Kontrollen somit die unerlaubte Einreise in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland verhindern oder unterbinden bzw. Straftaten wie die Vergehen, die gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung der Aufgaben der Bundespolizei gerichtet sind, verhüten sollen, während Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 auf dieses Ziel nicht ausdrücklich Bezug nimmt, bedeutet nicht, dass ein Art. 21 Buchst. a Ziff. i der Verordnung zuwiderlaufendes Ziel der Grenzkontrolle vorläge (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 64).

48      Zum einen enthält Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 weder eine abschließende Auflistung der Voraussetzungen, die polizeiliche Maßnahmen erfüllen müssen, um nicht als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen angesehen zu werden, noch eine abschließende Auflistung der Ziele, die mit diesen polizeilichen Maßnahmen verfolgt werden dürfen. Diese Auslegung findet Bestätigung in der Verwendung des Wortes „insbesondere“ in Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 und in Ziff. ii dieses Art. 21 Buchst. a (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 65).

49      Zum anderen wird weder durch Art. 79 Abs. 1 und 2 Buchst. c AEUV – wonach die Union eine gemeinsame Einwanderungspolitik entwickelt, die u. a. die Verhütung von illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt gewährleisten soll – noch durch die Verordnung Nr. 562/2006 die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Bekämpfung von illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt ausgeschlossen, auch wenn sie natürlich ihre Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet so auszugestalten haben, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 30 und 33).

50      Sowohl Art. 21 Buchst. a bis d der Verordnung Nr. 562/2006 als auch der Wortlaut von Art. 72 AEUV bestätigen nämlich, dass die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berührt hat (Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 66).

51      Daraus folgt, dass das mit § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG verfolgte Ziel der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das bundesdeutsche Hoheitsgebiet oder der Verhütung bestimmter Straftaten für sich allein noch nicht bedeutet, dass die in Anwendung dieser Bestimmung durchgeführten Kontrollen eine nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 verbotene gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten.

52      Was als Drittes die Frage betrifft, ob die Ausübung der vorliegend durch § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG verliehenen Kontrollbefugnisse eine gleiche Wirkung im Sinne des Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 hat, ist daran zu erinnern, dass der bloße Umstand, dass der räumliche Geltungsbereich dieser Befugnisse auf ein Grenzgebiet beschränkt ist, nicht für die Feststellung einer solchen Wirkung genügt. In Satz 1 der letztgenannten Bestimmung wird nämlich ausdrücklich auf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts auch in Grenzgebieten Bezug genommen (vgl. entsprechend Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 72, und vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 69).

53      Für die in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG genannten Kontrollen gelten jedoch hinsichtlich ihres räumlichen Anwendungsbereichs Sonderregeln gegenüber den übrigen Bestimmungen des § 23 BPolG, was wiederum ein Indiz für das Bestehen einer solchen gleichen Wirkung sein könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 72).

54      Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung nicht hervor, dass die mit § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG geregelten Kontrollen auf Lageerkenntnissen oder polizeilichen Erfahrungen beruhen, wie es Art. 21 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 562/2006 vorsieht.

55      Daher scheint es, dass diese Kontrollen unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person und von Umständen, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, gestattet sind.

56      Außerdem ist der dem Gerichtshof unterbreiteten Akte nicht zu entnehmen, dass die Kontrollen gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG im Einklang mit Art. 21 Buchst. a Ziff. iii der Verordnung Nr. 562/2006 in einer Weise durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterscheidet.

57      Vor allem enthält § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG hinsichtlich insbesondere der Intensität und der Häufigkeit der auf dieser Rechtsgrundlage möglichen Kontrollen weder Konkretisierungen noch Einschränkungen der mit ihm eingeräumten Befugnis, die verhindern sollen, dass die Anwendung und die praktische Ausübung dieser Befugnis durch die zuständigen Behörden zu Kontrollen führen, die im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 73). Es ist jedoch Sache des für Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, ob es sich in der Praxis so verhält.

58      Somit erweist sich, dass die gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG vorgenommenen Kontrollen in einem Grenzgebiet in einem Umkreis von 30 km durchgeführt werden können, ohne dass in dieser Bestimmung irgendeine Konkretisierung oder Einschränkung vorgesehen wäre.

59      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die mit § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG verliehenen Befugnisse in einen Rechtsrahmen eingefasst sein müssen, der den oben in den Rn. 38 bis 41 genannten Anforderungen entspricht. Fehlen im nationalen Recht solche – selbst hinreichend genauen und detaillierten – Konkretisierungen oder Einschränkungen zur Lenkung der Intensität, der Häufigkeit und der Selektivität der Kontrollen, ist nämlich nicht auszuschließen, dass die praktische Ausübung der vom deutschen Recht eingeräumten polizeilichen Befugnisse unter Verstoß gegen Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zu Kontrollen führt, die eine gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben.

60      Als Viertes ist darauf hinzuweisen, dass die deutsche Regierung zu diesem Punkt vorträgt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften durch weitere Bestimmungen des nationalen Rechts ergänzt würden, insbesondere durch § 15 BPolG, nach dem für polizeiliche Maßnahmen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gelte, sowie durch eine Verwaltungsvorschrift mit der Bezeichnung „BRAS 120“ und durch einen Verwaltungserlass. Diese Bestimmungen ergänzten den Rahmen für die gemäß dem Bundespolizeigesetz durchgeführten Kontrollen und seien ausreichend, um sicherzustellen, dass die praktische Ausübung der polizeilichen Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben könne.

61      Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für solche Tatsachenfeststellungen zuständig ist, zum einen festzustellen, ob derartige Bestimmungen zu der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeit in Kraft waren, und zum anderen zu prüfen, ob sie für die gemäß dem Bundespolizeigesetz durchgeführten Kontrollen einen Rahmen vorsehen, wie er von der Rechtsprechung des Gerichtshofs gefordert wird, damit solche Kontrollen nicht als Kontrollen mit gleicher Wirkung wie eine Grenzübertrittskontrolle angesehen werden können.

62      Fehlt ein solcher Rahmen in der nationalen Regelung, könnte nicht davon ausgegangen werden, dass die besagten Kontrollen, wie es Art. 21 Buchst. a Ziff. iii und iv der Verordnung Nr. 562/2006 verlangt, zum einen selektiv stattfinden und damit nicht den systematischen Charakter von Grenzübertrittskontrollen aufweisen und zum anderen polizeiliche Maßnahmen darstellen, die auf der Grundlage von Stichproben zur Anwendung kommen.

63      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, innerhalb eines Gebiets von 30 km ab der Landgrenze dieses Mitgliedstaats zu anderen Vertragsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder unerlaubten Aufenthalts in diesem Hoheitsgebiet oder zur Verhütung bestimmter Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände zu kontrollieren, entgegenstehen, es sei denn diese Regelung gibt den erforderlichen Rahmen für die besagte Befugnis vor, der gewährleistet, dass deren praktische Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 Zur zweiten Frage

64      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats gestattet, zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen dieses Mitgliedstaats, wenn aufgrund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass diese Züge oder Bahnanlagen zur unerlaubten Einreise in das Hoheitsgebiet des besagten Mitgliedstaats genutzt werden und die Einreise aus einem Vertragsstaat des Schengener Durchführungsübereinkommens erfolgt, jede Person einer Kontrolle ihrer Identität oder ihrer Grenzübertrittspapiere zu unterziehen und sie zu diesem Zweck kurzzeitig anzuhalten und zu befragen, ohne dass gemäß den Art. 23 bis 26 der Verordnung Nr. 562/2006 vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betroffenen Binnengrenze eingeführt wurden.

65      Diese Frage wird für den Fall gestellt, dass der Gerichtshof in Bezug auf die erste Frage der Ansicht sein sollte, dass die in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG vorgesehenen Kontrollen gegen die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 verstoßen.

66      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist als Erstes festzustellen, dass es sich bei den Kontrollen, die in § 22 Abs. 1a BPolG, auf den das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage abstellt, vorgesehen sind, und insbesondere bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrolle um Kontrollen nicht „an einer Grenze“ oder beim Grenzübertritt, sondern im Innern des nationalen Hoheitsgebiets handelt.

67      Als Zweites ist zu prüfen, ob die in dieser Bestimmung vorgesehenen Kontrollen das gleiche Ziel haben wie die Grenzkontrollen im Sinne der Verordnung Nr. 562/2006. Dazu geht aus der dem Gerichtshof unterbreiteten Akte hervor, dass die besagte Bestimmung der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland dient.

68      Wie sich aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils ergibt, bedeutet das Ziel der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das bundesdeutsche Hoheitsgebiet, das mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung verfolgt wird, für sich allein noch nicht, dass die in Anwendung des Bundespolizeigesetzes durchgeführten Kontrollen eine nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 verbotene gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten. Im Unterschied zu den Kontrollen nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG bezwecken jedoch die in § 22 Abs. 1a BPolG vorgesehenen Kontrollen allein die Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das bundesdeutsche Hoheitsgebiet, was ein Indiz dafür darstellen könnte, dass sie eine nach dem genannten Art. 21 Buchst. a verbotene gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben.

69      Als Drittes ist festzustellen, dass § 22 Abs. 1a BPolG den räumlichen Geltungsbereich, in dem die in dieser Bestimmung vorgesehenen Überprüfungen stattfinden können, nicht besonders regelt und somit nicht zwischen der Durchführung solcher Kontrollen in einem Grenzgebiet und ihrer Durchführung im übrigen nationalen Hoheitsgebiet unterscheidet.

70      Als Viertes ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass die in § 22 Abs. 1a BPolG vorgesehenen Kontrollen darauf gründen, dass die Bundespolizei aufgrund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung zu der Annahme berechtigt ist, dass die in dieser Bestimmung genannten Züge oder Bahnanlagen zur unerlaubten Einreise genutzt werden, was nach Art. 21 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 562/2006 ebenfalls ein Indiz dafür ist, dass die fragliche Bestimmung nicht die gleiche Wirkung wie eine Grenzübertrittskontrolle hat.

71      Als Fünftes ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht, ob und inwieweit die Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG in einer Weise durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterscheidet.

72      Wie bereits oben in Rn. 40 ausgeführt, müssen, je zahlreicher die Indizien für eine mögliche gleiche Wirkung im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 sind, umso strenger die Konkretisierungen und Einschränkungen sein und eingehalten werden, die für die Ausübung der ihnen zustehenden polizeilichen Befugnisse durch die Mitgliedstaaten in einem Grenzgebiet gelten. Im vorliegenden Fall findet sich ein solches Indiz in dem mit den Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG verfolgten Ziel, das sich insbesondere insoweit nicht von den mit den Grenzübertrittskontrollen verfolgten Zielen unterscheidet, als die Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet dienen, was sich zum Teil mit der Definition in Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 562/2006 deckt, nach dem mit den Grenzübertrittskontrollen festgestellt werden soll, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen dürfen.

73      Als Sechstes ist festzustellen, dass es unter diesen Umständen Sache des für Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gerichts ist, zu überprüfen, ob die deutsche Regelung Konkretisierungen und Einschränkungen enthält, die selbst hinreichend genau und detailliert sowie geeignet sind, die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der in § 22 Abs. 1a BPolG vorgesehenen Kontrollen zu lenken, um sicherzustellen, dass die praktische Ausübung der vom deutschen Recht eingeräumten polizeilichen Befugnisse nicht unter Verstoß gegen Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zu Kontrollen führt, die eine gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben.

74      So könnte nur, wenn es sich erweist, dass es in der deutschen Regelung einen solchen Rahmen gibt, angenommen werden, dass die besagten Kontrollen, wie es Art. 21 Buchst. a Ziff. iii und iv der Verordnung Nr. 562/2006 verlangt, zum einen selektiv stattfinden und damit nicht den systematischen Charakter von Grenzübertrittskontrollen aufweisen und zum anderen polizeiliche Maßnahmen darstellen, die auf der Grundlage von Stichproben zur Anwendung kommen.

75      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats gestattet, in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen dieses Mitgliedstaats jede Person einer Kontrolle ihrer Identität oder ihrer Grenzübertrittspapiere zu unterziehen und sie zu diesem Zweck kurzzeitig anzuhalten und zu befragen, wenn diese Kontrollen auf Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung beruhen, nicht entgegenstehen, sofern die Durchführung der Kontrollen im nationalen Recht Konkretisierungen und Einschränkungen unterliegt, die die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Kontrollen bestimmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 Kosten

76      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, innerhalb eines Gebiets von 30 km ab der Landgrenze dieses Mitgliedstaats zu anderen Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder unerlaubten Aufenthalts in diesem Hoheitsgebiet oder zur Verhütung bestimmter Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände zu kontrollieren, entgegenstehen, es sei denn diese Regelung gibt den erforderlichen Rahmen für die besagte Befugnis vor, der gewährleistet, dass deren praktische Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.


2.      Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats gestattet, in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen dieses Mitgliedstaats jede Person einer Kontrolle ihrer Identität oder ihrer Grenzübertrittspapiere zu unterziehen und sie zu diesem Zweck kurzzeitig anzuhalten und zu befragen, wenn diese Kontrollen auf Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung beruhen, nicht entgegenstehen, sofern die Durchführung der Kontrollen im nationalen Recht Konkretisierungen und Einschränkungen unterliegt, die die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Kontrollen bestimmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.



Silva de Lapuerta

Regan

Bonichot

Arabadjiev

 

Rodin

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. Juni 2017.

Der Kanzler

 

Die Präsidentin der Ersten Kammer

A. Calot Escobar      R. Silva de Lapuerta


* Verfahrenssprache: Deutsch.