Nordrhein-Westfalen:Jugend ohne "Faust"

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In Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland fällt der "Faust" 2021 aus dem Abitur-Kanon. Die Aufregung ist groß.

Von Paul Munzinger

Die Abiturprüfungen sind in Deutschland immer ein potenzielles Aufregerthema, sind sie doch nicht weniger als eine jährliche Inventur des nationalen Bildungswohlstands respektive -notstands. Das liegt daran, dass sie beides auf einmal abbilden: Anspruch und Wirklichkeit des deutschen Schulsystems. Die Aufgaben beantworten erstens die Frage, was die Gymnasiasten zu leisten imstande sind - worüber sich trefflich debattieren lässt, wie die allgemeine Aufwallung um das Mathe-Abitur diesen Sommer einmal mehr gezeigt hat. Sie geben aber auch Aufschluss darüber, was der Staat von den Absolventen seiner höchsten Schulform eigentlich erwartet - und was nicht. Eine amtliche Konkretisierung dessen also, was hohe Schulbildung in Deutschland heißt. Und darüber lässt sich sogar noch trefflicher streiten.

In Nordrhein-Westfalen erwartet der Staat vom Jahr 2021 an nicht mehr, dass die Abiturienten den "Faust I" von Johann Wolfgang von Goethe gelesen haben, der vielen als das bedeutendste Werk der deutschen Literaturgeschichte gilt und den aufgrund seiner vielen geflügelten Worte ("Da steh ich nun, ich armer Tor!") selbst jene zu kennen glauben, die ihn nie gelesen haben. In zwei Jahren, so würde man das im Fußball sagen, wird der "Faust" aus dem Kanon der Pflichtlektüren in NRW hinausrotiert und in der Kategorie Drama durch einen anderen Klassiker ersetzt: Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise". Für Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, ist dieser Wechsel eine Art Kulturfrevel. "Ich bin fassungslos", sagte er der Rheinischen Post. Schule habe auch die Aufgabe, kulturelle Identität zu vermitteln, da gehöre der "Faust" unbedingt dazu. Das Werk, so Meidinger, behandle zeitlose Fragen und rege junge Menschen dazu an, sich mit Themen zu beschäftigen, "die jeden angehen".

Im Düsseldorfer Schulministerium kann man die Aufregung nicht verstehen. Um "die ganze Breite der Fächer" zu berücksichtigen, gebe es eben einen steten Wechsel. Aktuell sei bei Dramen der "Faust" Pflicht, der 2017 Schillers "Kabale und Liebe" ablöste und 2021 dem "Nathan" weichen wird. Auch in der Kategorie Erzählungen wird gewechselt, bis 2021 findet sich dort etwa Kleists "Die Marquise von O...", von 2022 an Robert Seethalers "Der Trafikant". Und natürlich stehe es jedem Lehrer frei, den "Faust" im Unterricht zu behandeln. Der Deutsch-Lehrplan in NRW nennt keine Titel, die Schüler lesen müssen. Einen abgeschlossenen Kanon festzulegen, sieht das Ministerium "fachlich als nicht zielführend" an. Der "Faust" ist da, ebenso wie in den meisten anderen Bundesländern, keine Ausnahme.

In Bayern, wo auch Lehrerverbandspräsident Meidinger herkommt und ein Gymnasium leitet, ist genau das anders. Das Bildungsministerium in München schreibt gar keinen Titel für die Abiturprüfung vor und verzichtet auch in den vorhergehenden Jahrgängen auf Pflichtlektüren. Nur ein Werk ist davon ausgenommen: "Faust" muss sein, und zwar in der elften Klasse. Seine "besondere Eignung" zeige sich etwa darin, "dass das Werk in sich mehrere literarische Strömungen vereinigt", heißt es aus dem Ministerium. Auch inhaltlich sei das Drama "von besonderem Wert", da "grundlegende menschliche Fragen auch aus philosophischer und theologischer Sicht reflektiert" würden.

In Bayern, um noch einmal zum Fußball zurückzukehren, gilt für den "Faust", was der FC-Bayern-Trainer Louis van Gaal einst über den Spieler Thomas Müller sagte: "Müller spielt immer." In Nordrhein-Westfalen dagegen ist vom Rotationsprinzip niemand ausgenommen. Und selbst Goethe sitzt mal auf der Bank.

© SZ vom 07.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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