Diskussion zum Jahresauftakt mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern aus allen Bundesländern zu der Frage: Was trennt, was hält unsere Gesellschaft zusammen?

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 19. Januar 2022

Der Bundespräsident hat am 19. Januar ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger aus allen Bundesländern zu einer Diskussion zu der Frage "Was trennt, was hält unsere Gesellschaft zusammen?" in Schloss Bellevue eingeladen. Zu Beginn sagte er: "Die große, oft stille Mehrheit in unserem Land handelt seit Monaten solidarisch und verantwortungsvoll. Nur fürchte ich, diese Mehrheit darf nicht still bleiben, wenn Extremisten die Axt ans demokratische Urvertrauen legen!"


Erinnern Sie sich noch an den 27. Januar 2020? Das neue Jahr hatte gerade begonnen, da sorgte ein unbekanntes Virus zum ersten Mal für Schlagzeilen in unserem Land: In der Nähe von München hatte sich Patient eins mit dem Corona-Virus angesteckt. Kaum jemand ahnte damals, wie sehr dieses Virus unser aller Leben, wie sehr es die ganze Welt verändern würde. Und erst recht ahnte kaum jemand, dass es auch jetzt noch, zu Beginn des Jahres 2022, unser Leben bestimmen würde.

Der Beginn eines neuen Jahres, das ist oft eine Zeit der Hoffnungen, der Erwartungen, der Zuversicht. Ich könnte mir vorstellen, dass viele von Ihnen in dieses neue Jahr mit gemischten Gefühlen gestartet sind. Und vermutlich haben die meisten von Ihnen vor allem einen Wunsch: dass das alles vorbei sein möge. Endlich vorbei sein möge. Und das ist ja nur zu verständlich.

Die großen Neujahrsempfänge für Menschen aus dem ganzen Land, für internationale Diplomaten, für Engagierte und Verantwortungsträger aus Bund, Ländern und Gemeinden – sie haben hier in Schloss Bellevue eine lange, eine gute Tradition, aber diese Tradition lässt sich auch in diesem Jahr wegen der Pandemie leider nicht pflegen. Umso wichtiger war es mir, wenigstens in diesem kleinen Rahmen diejenigen ins Zentrum zu stellen, die aus meiner Sicht wirklich ins Zentrum gehören: die ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürger. Leider können bei Weitem nicht so viele hier sein, wie meine Frau und ich es uns gewünscht hätten. Aber ich freue mich sehr, Sie, Bürgerinnen und Bürger aus ganz Deutschland, aus fast allen Bundesländern, heute in Bellevue begrüßen zu dürfen. Seien Sie ganz herzlich willkommen! Schön, dass Sie alle da sind. Es ist mir ein großes Anliegen, dass wir gleich miteinander ins Gespräch kommen.

Sie, liebe Gäste, kommen aus allen Teilen unseres Landes, aus dem hohen Norden, aus dem tiefen Süden, aus Ost und West, aus großen Städten und kleinen Dörfern. Unter Ihnen sind Frauen und Männer, schon etwas Ältere und ganz Junge, Sie haben unterschiedliche Wurzeln und unterschiedliche Überzeugungen. Kurzum, Sie sind so verschieden und vielfältig wie unser Land. Und es verbindet Sie etwas: Ihnen ist es nicht gleichgültig, in welchem Land und in welcher Gesellschaft Sie leben. Sie warten nicht darauf, dass andere oder der Staat etwas tun. Sie tun lieber selbst etwas, damit wir in einer menschlichen und solidarischen Gesellschaft leben.

Sie helfen Menschen, die nach Deutschland geflohen sind. Sie unterstützen pflegende Angehörige. Sie kämpfen für die Gleichstellung von Frauen, für den Schutz unserer Umwelt, unserer Ressourcen. Sie engagieren sich im Kulturbereich, Sie kümmern sich um bessere Infrastruktur im ländlichen Raum. Sie sind bei der Feuerwehr oder beim THW aktiv, Sie treten ein für die Anliegen der jungen Leute in unserem Land – in der Zeit der Pandemie besonders wichtig. Was Sie alles tun, das werden wir gleich im Gespräch vertiefen.

Dieses Engagement ist gerade in dieser schweren Zeit der Pandemie ein unschätzbar wertvolles Gut. Es ist ein Geschenk an unser Land.

Kontaktbeschränkungen, Abstandsregeln, die Sorge vor einer Ansteckung – das alles macht es für Sie sicher auch sehr viel schwieriger, das Ehrenamt überhaupt auszuüben. Trotz allem lassen Sie sich nicht entmutigen – im Gegenteil. Sie engagieren sich, weil Sie wissen, dass unser Land jetzt genau das braucht und auch in Zukunft brauchen wird: Solidarität, Verantwortungsgefühl und ja, auch Zuversicht. Für Ihr Engagement, Ihre Leidenschaft, Ihre Ideen, Ihre Kreativität möchte ich Ihnen als Bundespräsident aus ganzem Herzen danken!

Und mein Dank geht auch an die vielen anderen Menschen, die sich überall im Land engagieren, in der Nachbarschaft, in Vereinen, in den Kirchen, im Naturschutz, im Kulturbetrieb. Die überall in unserer Gesellschaft Netze knüpfen, Netze der Hilfe und der Solidarität. Sie alle halten unser Land zusammen. Ohne diesen Zusammenhalt kann eine demokratische Gesellschaft nicht bestehen. Das ist ihr Kern, das ist das Wichtigste.

Wir alle erleben, dass dieser Zusammenhalt in der Pandemie einer harten Belastungsprobe ausgesetzt ist – Sie, liebe Gäste, werden gleich von Ihren Erfahrungen berichten. Nach zwei Jahren Pandemie liegen die Nerven bei vielen Menschen blank, wächst die Gereiztheit, die Erschöpfung. Und auch der Ton in Debatten wird gereizter. Ich bin zutiefst überzeugt: Wir brauchen die Debatte, wir brauchen auch die Kontroverse, auch und gerade in einer Zeit der Krise. Entscheidend ist, wie wir sie führen: Wir müssen sie führen mit Respekt für andere Meinungen und Haltungen, ohne Hass und ohne Gewalt.

Jeder in unserem Land hat das Recht, gegen Coronamaßnahmen friedlich zu protestieren. Ich sehe aber mit Sorge, dass radikale, vor allem rechtsextreme Kräfte, denen es nicht um Corona geht, sondern die unseren demokratischen Rechtsstaat angreifen, die Proteste für ihre Zwecke instrumentalisieren und zunehmend andere vor ihren demokratiefeindlichen Karren spannen. Ich sehe mit Sorge, dass die Gewalt bei diesen Protesten zunimmt: Immer häufiger werden Polizisten und Journalisten tätlich angegriffen. Auch Vertreter der Kommunen, Gemeinderatsmitglieder und Bürgermeister, können davon berichten. Immer häufiger werden demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker Ziel von Hass und gewaltsamen Übergriffen.

Es steht außer Frage: Unser Rechtsstaat muss solche Angriffe mit aller Härte ahnden! Aber das ist nur der eine Teil. Der andere Teil, denke ich, geht uns alle an. Wenn sogenannte Spaziergänger von einer Coronadiktatur schwurbeln, dann steckt darin nicht nur Verachtung für staatliche Institutionen. Sondern das beleidigt uns alle! Denn wir alle sind diese Demokratie! Wir alle ringen täglich darum, das Richtige zu tun in der zermürbenden Pandemie.

Ich weiß wohl: Die große, oft stille Mehrheit in unserem Land handelt seit Monaten solidarisch und verantwortungsvoll. Nur fürchte ich, diese Mehrheit darf nicht still bleiben, wenn Extremisten die Axt ans demokratische Urvertrauen legen! Schon jetzt gibt es Regionen in Deutschland, wo Menschen, die sich offen für die Demokratie engagieren, sich manchmal fragen, ob die Mehrheit hinter ihnen steht. Wir dürfen sie nicht alleinlassen, und wir dürfen uns an eine solche Erosion nicht gewöhnen. Auch wenn es anstrengend ist: Wo immer Menschen sich abwenden – Kollegen, Nachbarn, Verwandte –, da müssen wir versuchen, sie zurückzuholen.

Ich bin sicher, die Impfpflicht-Debatte wird nicht das letzte Thema sein, mit dem extreme Kräfte versuchen werden, den vergifteten Stachel in unsere Demokratie zu treiben. Wir alle wissen doch, welche enormen Zukunftsaufgaben, welch enormer Wandel unserem Land nach der Pandemie noch bevorsteht: der Kampf gegen den Klimawandel, die Gestaltung von Zuwanderung und Migration, von Digitalisierung und Globalisierung, die Modernisierung von Staat und Bildungswesen. All diese Aufgaben müssen wir anpacken – und zugleich wissen wir: Wir werden sie nicht bewältigen, wenn uns unterwegs mehr Menschen verloren gehen, wenn sie sich abwenden und schlimmstenfalls antidemokratischen Lockrufen auf den Leim gehen und ihnen folgen.

Kurzum: Auch bei diesen Zukunftsaufgaben geht es am Ende um die Demokratie. Auch dort werden wir demokratisch ringen müssen um Lösungen und Kompromisse, die – immer wieder neu – von Mehrheiten unterstützt und getragen werden.

Das wird uns viel abverlangen, jeder und jedem Einzelnen. Aber haben wir in der Zeit der Pandemie doch auch Neues gelernt: dass es auf jede und jeden Einzelnen ankommt. Und dass jeder etwas tun kann. Und damit bin ich wieder bei Menschen wie Ihnen, liebe Gäste. Sie tun etwas. Sie machen unser Land stark. Sie leben tagtäglich vor, was wir erreichen können, wenn wir gemeinsam handeln. Ich glaube, daraus können wir zu Beginn dieses Jahres Kraft und Zuversicht für die Zukunft schöpfen.

Ich bin sehr gespannt auf Ihre Erfahrungen, Ihre Sorgen, Ihre Wünsche für die Zukunft. Und ich bin sehr gespannt, wie Sie diese Zeit der Pandemie erleben: als eine, die uns weiter auseinandertreibt als Gesellschaft – oder als eine, in der wir trotz aller Belastungen, trotz allen Leids näher zusammenrücken? Und deshalb haben Sie jetzt das Wort.

Herzlichen Dank!