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Linksradikalen-Chef Tsipras im Interview "Wir befinden uns im Kalten Krieg"

Er schreckt nicht vor drastischen Worten zurück: Der Chef der Linksradikalen, Alexis Tsipras, vergleicht im Interview mit stern.de die Situation Griechenlands mit der Lage im Kalten Krieg.

Herr Tsipras, Sie machen Europa Angst. Sie können bei den Wahlen am 17. Juni griechischer Premierminister werden, und je mehr ihre Popularität steigt, desto tiefer rauschen die internationalen Aktienkurse in den Keller.
Sie sehen also, es geht nicht nur darum, dass ein junger politischer Führer extreme Positionen vertritt und damit das politische Establishment stört. Alle haben begriffen: Diese Wahl betrifft ganz Europa. Die Menschen spüren, dass wir die Unterstützung des griechischen Volkes genießen, weil wir unser Wahlversprechen erfüllen werden. Nämlich das Memorandum zu annullieren.

Sie meinen das Sparabkommen zwischen Griechenland und seinen internationalen Geldgebern. EU-Kommission Zentralbank und Währungsfonds.
Es gibt keine Alternative. Entweder diese Troika rückt von der beschlossenen Sparpolitik ab. Oder sie versetzt die ganze Euro-Zone in Gefahr. Sie müssen verstehen: Das Memorandum ist erledigt. Die Sparpolitik hat sich als falsches Medikament der Therapie erwiesen. Nicht nur für Griechenland, auch für Portugal, Spanien und Italien.

Sie und Ihr linksradikales Parteienbündnis "Syriza" sprechen schon von Revolution?
Ja. Eine friedliche Revolution. Das Volk wählt das Ende eines Weges, der in die Katastrophe führt.

Und Sie sind Griechenlands Che Guevara, dessen Portrait in Ihrem Büro hängt?
Es gibt in jeder Phase der Geschichte Persönlichkeiten, die das Schicksal zwingt, eine entscheidende Rolle zu spielen. Ich tue aber nichts anderes, als eine andere Generation und ein anderes Politik-Modell zu vertreten. Ich verdanke meine Präsenz in der Politik nämlich nicht meiner Herkunft aus einem politisch einflussreichen Familien-Clan.

Sie fühlen sich also mit 37 Jahren bereit, Griechenland in dieser schweren Phase als Premierminister zu führen?
Es wäre übertrieben, wenn ich behaupten würde, dass ich mich dafür bereit fühle. Ich bin aber entschlossen, die historische Herausforderung anzunehmen, falls dies der Willen des griechischen Volkes ist. Was mit Syriza derzeit geschieht, passiert nur in revolutionären Zeiten. Eine Fünf-Prozent-Partei steigt zunächst in kurzer Zeit zur stärksten Oppositionspartei auf und kann binnen eines Monats die Regierung stellen.

Nehmen wir an, Sie werden Premierminister, kündigen das Sparabkommen auf, und die Troika sagt: "Tja, Herr Tsipras, wir drehen Ihnen jetzt den Geldhahn zu." Was dann?
In der Tat, das ist eine Möglichkeit. Aber das würde ganz Europa in Gefahr bringen.

Weshalb Sie für viele der Totengräber Europas sind.
Das bin ich nicht. Im Gegenteil. Die Totengräber Europas sind jene, die diese Sparpolitik fortsetzen wollen. Sie führt Europa in die Auflösung. Stellen Sie sich vor, es gäbe Syriza und Tsipras nicht, und die bisherige Politik geht einfach so weiter. Wissen Sie was dann passiert? In zwei oder drei Monaten müssten wir über ein drittes Hilfspaket und einen zweiten Schuldenschnitt für Griechenland diskutieren. Dem deutschen Steuerzahler muss klar gesagt werden, dass er sein Geld nicht weiter in ein Fass ohne Boden werfen soll.

Zurück zur Frage: Was, wenn die Troika knallhart bei ihrem Kurs bleibt?
Dann werden wir sagen: "Vielen Dank. Aber ihr übernehmt damit eine historische Verantwortung für die Zerstörung der Euro-Zone." Denn die Euro-Zone stellt eine Kette aus 17 Gliedern dar. Geht eines kaputt, schadet das der ganzen Kette. Europa befindet sich am Scheideweg - wie nach der Krise 1929, die es auf sehr dunkle Wege geführt hat. Wir werden alles dafür tun, um den sozialen Zusammenhalt und die Würde unseres Volkes zu retten.

Aber wie steht es um die Würde, wenn Ihre Regierung keine Löhne, Gehälter, Renten und Pensionen oder die Einfuhr von Erdöl bezahlen kann? Die Rückkehr zur Drachme wäre unausweichlich.
Wissen Sie, in Griechenland gibt es einen Spruch: "Ein Durchnässter hat keine Angst vorm Regen." Hier ist in den letzten zweieinhalb Jahren eine unermesslich große gesellschaftliche Katastrophe im Gange. Die Hälfte aller jungen Menschen ist arbeitslos, viele wandern aus. Die öffentlichen Krankenhäuser stehen kurz vor dem Kollaps. Was wollen Sie diesem Volk noch abverlangen?

Sie spielen ein gefährliches Spiel. Hört sich nach Poker an. Und Ihr Einsatz ist das Wohl des griechischen Volkes. Den Griechen geht es schlecht, ja, aber es kann noch viel schlimmer kommen.
Das sagen Sie offensichtlich deshalb, weil Sie nicht registrieren, welche Katastrophe bereits stattgefunden hat. Griechenland ist wie eine Katze, die man in die Ecke gedrängt hat und der man keinen Fluchtweg lässt. Das griechische Volk wird wie ein Versuchstier behandelt. Wir aber sagen: Jetzt fangen die Verhandlungen erst an. Bisher hatten wir korrupte und unfähige Regierungen. Nun aber bekommt das griechische Volk eine politische Führung, die bis zum Ende um seine Rechte ringen wird.

Die Troika sieht nur einen Weg zur Gesundung Griechenlands: Sparen, Reduzierung des Beamtenapparats, Erhöhung und effizientes Eintreiben von Steuern.
Ich glaube, wir sind in einer Situation wie im Kalten Krieg, wie in den 80er Jahren. Beide Seiten halten Atomwaffen in den Händen. Unsere Kreditgeber besitzen als Atomwaffe die Einstellung ihrer Zahlungen. Wir dagegen drohen damit, die Begleichung unserer Staatsschulden zu stoppen. Allen ist aber bewusst, drückt einer auf den roten Knopf, dann gibt es keine Sieger. Nur Verlierer. Deshalb bin ich sicher: Am Tag nach unserer Wahl werden sich alle, die heute damit drohen, Griechenland keine Kredite mehr zu geben, wenn das Sparprogramm eingestellt wird, an einen Tisch setzen und diskutieren.

Die Stimmen in Europa mehren sich, dass ein Euro-Ausstieg Griechenlands für die Euro-Zone verkraftbar ist.
Wenn das einige glauben - nur zu. Wir wollen die Euro-Zone nicht verlassen.

Was schlagen Sie denn vor, wie Sie Griechenland retten wollen?
Löhne, Gehälter, Renten und Pensionen dürfen ab sofort nicht weiter gekürzt werden. Das würde die Rezession nur verschlimmern. Griechenland und die anderen Länder in Südeuropa brauchen einen Marshall-Plan und Verhandlungen zur Bewältigung des Schuldenproblems. Wir müssen zur Ausgabe von Euro-Bonds schreiten. Gleichzeitig braucht Griechenland strukturelle Reformen.

Durch Privatisierung von Staatseigentum sollten bis 2015 rund 19 Milliarden Euro eingenommen werden. Das wollen Sie beenden.
Mit diesem Privatisierungsprogramm verhält es sich doch so: Sie haben mit dem Ersparten eines ganzen Arbeitslebens eine Wohnung erworben. Weil Sie Schulden haben, sollen Sie diese Wohnung zur Hälfte des Wertes verkaufen. Und anschließend wohnen Sie bis ans Ende ihres Lebens zur Miete? Das ist paradox. Wir werden die Privatisierungsbehörde schließen. Keine Volkswirtschaft kann bestehen, wenn nicht strategische Bereiche der Wirtschaft unter öffentlicher Kontrolle sind.

100.000 neue Staatsbedienstete wollen Sie auch einstellen, wo Griechenland seinen absurd riesigen Beamtenapparat eigentlich abbauen sollte.
Die Forderung mit den 100.000 Neueinstellungen stammt von 2007. Übrigens nicht zu Unrecht. Bei uns kommt in einem öffentlichen Krankenhaus auf vierzig Patienten eine Krankenschwester. In Abgeordneten- und Ministerbüros treffen Sie hingegen Beamte, die nichts zu tun haben. Das ist das Werk der beiden bisherigen Regierungsparteien mit ihrem korrupten Klientelsystem. Wir werden das ändern, aber kein neues Heer von Arbeitslosen schaffen. Wir wollen den Staat durch Versetzungen und Neustrukturierungen effizienter machen.

Investitionen aus dem Ausland brauchen Sie auch.
Sicher. Aber nicht auf Grundlage einer Abschaffung der Arbeitnehmerrechte und der Umweltauflagen.

Ein Premierminister Tsipras dürfte auf Investoren eher abschreckend wirken.
Haben die vorigen Premierminister etwa Investoren angelockt? Es ist falsch zu glauben, man könnte Investitionen über die Senkung der Arbeitskosten anlocken. Nicht Indien und Pakistan sind die wettbewerbsfähigsten Länder der Welt, sondern Hochlohnländer wie Schweden. Wir werden in Humanressourcen investieren. In junge Wissenschaftler. Wir wollen, dass Griechenland ein Land der Forschung, Technologie und Innovationen wird. Wir wollen erneuerbare Energien, die Agrarökonomie und den Tourismus fördern.

Was glauben Sie eigentlich, was Angela Merkel Ihnen sagen wird, wenn Sie Ihnen das erste Mal begegnet?
Keine Ahnung, aber ich weiß, was ich ihr sagen werde.

Nämlich?
Dass sie eine enorme historische Verantwortung hat. Nicht nur für das deutsche Volk, sondern für alle Völker Europas. Es kann nicht angehen, dass sie starrsinnig an einer falschen Politik festhält und damit Europa auf ausgesprochen schwierige Pfade führt. (Er steht auf und führt uns auf seinen Balkon, von dem aus man in der Ferne die Akropolis in der untergehenden Sonne sehen kann.) Wissen Sie, das ist mein Vorteil gegenüber Frau Merkel. Ich blicke aus meinem Büro auf 2.500 Jahre Demokratiegeschichte. Und sie schaut nur auf den Reichstag.

Alexis Tsipras

Louisa Gouliamaki/AFP Der 37-jährige Grieche ist der Chef der linksradikalen Partei "Syriza". Seine Partei war der Überraschungssieger der Parlamentswahlen in Griechenland im Mai: Hinter der konservativen Nea Dimokratia wurde sie zweitstärkste Kraft. Doch alle Bemühungen zur Regierungsbildung scheiterten: Am 17. Juni gibt es Neuwahlen, "Syriza" könnte dann stärkste Partei werden. Tsipras fordert die Aufgabe des Sparpolitik, spricht sich aber für den Verbleib Athens in der Eurozone aus.

Andreas Albes und Ferry Batzoglou

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