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U-Haft in der Türkei Angebliche Erdogan-Beleidigung bringt Deutschen ins Gefängnis

Hüseyin M., deutscher Staatsbürger, wollte in der Türkei Urlaub machen. Plötzlich stand die Polizei vor dem Ferienhaus - er habe Präsident Erdogan auf Facebook beleidigt. Nun sitzt er seit mehr als einem Monat in U-Haft.
Türkischer Polizist (Archivbild)

Türkischer Polizist (Archivbild)

Foto: Emrah Gurel/ AP

Die schwer bewaffnete Antiterroreinheit kam in der Nacht vom 24. auf den 25. August 2018, von Freitag auf Samstag. Hüseyin M. war in dem Ferienhaus seiner Schwiegereltern in Kusadasi, etwa 100 Kilometer südlich von Izmir. Er und seine Frau waren aus Braunschweig gekommen, wollten zwei Wochen bleiben, die Verwandtschaft besuchen, entspannen. Doch damit war es an diesem Abend vorbei.

Die Polizisten forderten M. auf, ihnen zum Revier zu folgen. Dort erklärten sie ihm, er habe den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf seiner Facebook-Seite beleidigt - und zwar in den Jahren 2014 und 2015, als der noch Premierminister war. M. habe Erdogan in seinen Posts einmal als "Diktator" bezeichnet, ein anderes Mal als "Kindermörder". M. bestritt das.

Damit er den Beamten später nicht vorwerfen konnte, gefoltert worden zu sein, brachten sie ihn in ein Krankenhaus und ließen die Ärzte seinen Gesundheitszustand protokollieren. Anschließend fuhren sie wieder zur Polizeistation, nahmen ihm sein Handy ab und sperrten ihn in eine Zelle. Dort verbrachte er die Nacht.

Die Familie organisierte rasch einen Anwalt in der Türkei. Am Samstag wurde M. vom Staatsanwalt vernommen. Er erfuhr, dass ihn jemand per E-Mail denunziert hatte. Die Beschreibung passt zum Vorwurf, dass die türkische Regierung in Deutschland - und anderen Ländern - ein weitläufiges Spitzelnetz unterhält. So war die türkische Justiz überhaupt erst auf M. und seine angeblichen Beleidigungen aufmerksam geworden. Noch am selben Tag wurde er einer Haftrichterin vorgeführt, die ihn aber auf freien Fuß setzte.

Am Abend nahm ihn die Polizei erneut fest. Es habe einen "Widerspruch durch den Staatsanwalt" gegeben, teilte man ihm mit. Wieder kam er vor eine Richterin, wieder verzichtete die auf einen Haftbefehl. Allerdings verhängte sie nun eine Ausreisesperre, zudem sollte er sich dreimal in der Woche bei der Polizei melden.

Am Sonntagmittag tauchte die Polizei zum dritten Mal beim Ferienhaus der Familie auf. Da er keinen festen Wohnsitz in der Türkei habe, müssten sie ihn nun doch festnehmen, teilten sie mit. Diesmal erließ das Gericht Haftbefehl.

Seither ist M. einer von fünf deutschen Staatsbürgern, die in der Türkei im Gefängnis sitzen. Möglicherweise sind es noch mehr, denn nach Angaben von Menschenrechtlern hat es in diesen Tagen und Wochen viele Festnahmen gegeben. Vielleicht seien auch Deutsche darunter, und manche der Betroffenen hätten sich vielleicht noch nicht bei einer deutschen diplomatischen Vertretung gemeldet.

Familie fürchtet Jobverlust

M. wurde 1976 in Tunceli, im Osten der Türkei, geboren und kam als 13-Jähriger nach Deutschland. Er lernte Schlosser, fand Arbeit bei einer Firma in Braunschweig und ist seit 2012 ausschließlich deutscher Staatsbürger. Die türkischen Behörden scheinen in ihm aber nach wie vor einen Türken zu sehen. Deutschen Diplomaten wurde der Kontakt zu ihm dem Vernehmen nach bislang verwehrt, ebenso seiner Frau - diese durfte noch nicht einmal mit ihm telefonieren. Lediglich die Schwiegereltern hätten ihn einmal im Gefängnis besuchen dürfen, sagt sein Bruder Deniz dem SPIEGEL. M.s Anwalt versucht derzeit, eine Urkunde aufzutreiben, die seine Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft belegt. Damit wäre er nachweisbar kein Türke, sondern ausschließlich Deutscher und es stünde ihm konsularische Betreuung durch deutsche Diplomaten zu.

Die Familie treibt die Sorge um, dass M. wegen seiner langen Abwesenheit seine Arbeit verlieren könnte. Sämtlicher Urlaub sei aufgebraucht, sagt sein Bruder. "Seine berufliche und wirtschaftliche Existenz steht auf dem Spiel." Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen auf zweieinhalb Seiten offiziell Anklage erhoben und fordert "die Höchststrafe". Nach türkischem Strafrecht bedeutet das vier Jahre Gefängnis, wenn es beim Vorwurf der "Präsidentenbeleidigung" bleibt. Mehrere Tausend Verfahren dieser Art hat die türkische Justiz seit Erdogans Amtsantritt als Präsident im August 2014 eingeleitet. In der Vergangenheit wurde daraus jedoch auch schon eine Anklage wegen "Terrorismus" oder "Terrorunterstützung", was eine deutlich längere Haftstrafe nach sich ziehen kann.

Im Gefängnis in Söke, einer Stadt an der Ägäisküste, wartet M. darauf, dass ihm am 11. Oktober in Ankara der Prozess gemacht wird - für etwas, von dem er behauptet, es nicht getan zu haben. Sein Bruder sagt, vielleicht habe jemand seinen Computer gehackt. "Mein Bruder wird als politische Geisel genommen", wirft er den türkischen Behörden vor. "Was hat er denn getan, das rechtfertigt, ihn wie einen Schwerverbrecher zu behandeln?" Auf M.s Facebook-Seite sind die Posts, von denen Erdogan sich beleidigt fühlt, nicht zu finden.

Familie M. hat inzwischen mehrere deutsche Politiker um Hilfe gebeten, darunter den früheren Außenminister Sigmar Gabriel, dem gute Beziehungen zum türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu nachgesagt werden. Sie hofft, dass Erdogan womöglich einlenkt, da er doch um gute Beziehungen zu Deutschland bemüht zu sein scheint. Festnahmen deutscher Staatsbürger hatten zuletzt zu einer schweren Krise zwischen Deutschland und der Türkei geführt. Die Unterstützung aus Berlin, schreibt M.s Frau an Gabriel, sei "im Moment die letzte Chance", die sie sehe, um ihren Mann vor einer "mehrjährigen, ungerechtfertigten Haftstrafe zu bewahren".

Urlaub in der Türkei - "Werde ich sicher nicht verhaftet?" (SPIEGEL TV von 2017)

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