Jeanne Moreau wurde 1928 in Paris geboren. Nach einer frühen Theaterkarriere wurde sie vom Kino entdeckt. Schlagartig bekannt wurde sie als Dreißigjährige in Louis Malles Film Fahrstuhl zum Schafott, in der Rolle einer mörderischen Ehebrecherin. Damit war die Tonlage gesetzt. Immer wieder stellte sie untreue, durchtriebene, frivole, promiske Frauen dar und erhielt zeitweilig sogar den Spitznamen »Jeanne du Boudoir« (»Schlafzimmer-Jeanne«). Ihre leicht trotzigen Züge und eine intellektuelle Ausstrahlung machten sie zur Ikone des europäischen Autorenkinos der sechziger Jahre. Jeanne Moreaus Gespür für die Regie-Avantgarde bescherte ihr die wohl beeindruckendste Filmografie ihrer Generation. Unter anderem drehte sie mit Michelangelo Antonioni (La notte), François Truffaut (Jules und Jim), Orson Welles (Der Prozess), Tony Richardson (Mademoiselle), Peter Brook (Moderato Cantabile), Luis Buñuel (Das Tagebuch einer Kammerzofe) und Rainer Werner Fassbinder (Querelle). In François Ozons neuem Film. Jeanne Moreau zu Hause, im Jahr 2000 BILD

DIE ZEIT: Frau Moreau, wie schön Sie aussehen … strahlend.

Jeanne Moreau: Danke schön.

ZEIT: Cocteau sagt, der Film gibt uns die Gelegenheit, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen.

Moreau: Recht hat er. Es ist ganz einfach. Jetzt ist es vier Uhr, am Ende unseres Gesprächs werden wir eine Stunde näher am Tod sein. Aber es gibt noch ein anderes Zitat von Cocteau: Der Film ist eine schöne Lüge, in der die Wahrheit erzählt wird. Mit Cocteau habe ich nach dem Krieg gearbeitet. Er schrieb mir einen Brief – damals schrieb man sich noch Briefe – und meinte, dass ich auf ihn wirke wie ein Rätsel, ein Enigma. Also spielte ich in seinem nächsten Stück eine Sphinx. Jean Marais spielte Ödipus.

ZEIT: Eine rätselhafte Frau, so haben Sie Ihre Bewunderer von Anfang an beschrieben, Ihr ganzes Leben lang. Rätselhaft kommt mir aber auch Ihr Auftritt in Ihrem jüngsten Film vor, Die Zeit, die bleibt. Ihr Regisseur François Ozon gibt Ihnen einen Auftritt von fünf Minuten – ein bisschen mehr als Orson Welles im Dritten Mann.

Moreau: Nein, nein, zehn Minuten.

ZEIT: Die retten dann den ganzen Film. Und es geht ums Sterben.

Moreau: Sie wollen also wirklich vom Tod sprechen?

ZEIT: Eigentlich nicht. Ich wollte wissen, was Sie in diesem Film, nun ja, verloren haben. Ich wünschte, der Regisseur hätte Ihnen fünfzig Minuten gegeben.

Moreau: Nein, mein Auftritt kommt genau richtig. Ein junger Mann stirbt an Krebs, will sich nicht behandeln lassen und fährt zu seiner Großmutter – die einzige Person, die ihm nahe steht. Sie hat eine interessante Vergangenheit. François Ozon musste jemanden finden, der diese Vergangenheit in ganz kurzer Zeit zur überzeugenden Gegenwart macht.

ZEIT: Also Sie. Sonst überzeugt aber wenig an diesem Film. Er will von der Einsamkeit des Sterbenden erzählen, aber die Einsamkeit des Hauptdarstellers wirkt allenfalls wie kindlicher Trotz, also aufgesetzt, als hätte der Regisseur eine Idee gehabt, der er nicht traut. Am Ende geht die Sonne im Cinemascope-Verfahren unter, und der Held liegt tot auf seinem Badetuch am Strand, als sei er in eine Art Dauerurlaub gefahren.

Moreau: Wenn 300000 Menschen den Film sehen, gibt es 300000 verschiedene Ansichten. Und jede einzelne sagt etwas über den Charakter des jeweiligen Zuschauers aus.

ZEIT: Sie sind loyal, Madame.

Moreau: Ja. Das hat auch etwas mit meiner Arbeitsweise zu tun. Ich lebe in den Filmen, in denen ich spiele. An diesem habe ich nur eine Woche mitgearbeitet, aber ich bleibe Teil der Produktion. Um meiner Rolle inneren Zusammenhang mit dem Film zu geben, musste ich auch alles über die anderen Rollen wissen.

ZEIT: Das haben Sie immer so gemacht.

Moreau: Auch im täglichen Leben.

ZEIT: Ein Leben mit Louis Malle, Luis Buñuel, François Truffaut, Roger Vadim, Joseph Losey, Rainer Werner Fassbinder, Luc Besson, Wim Wenders – wen habe ich vergessen?

Moreau: Michelangelo Antonioni. Peter Brook. Und Orson Welles. Ein schrecklich starker Mann. Ich traf ihn bei einem Abendessen nach einer Theateraufführung, ein paar Jahre nach dem Krieg in Paris. Er saß am Tisch, umgeben von schönen Frauen. Ich war jung verheiratet. Und wir hatten kein Telefon zu Hause. Es wurde sehr spät, und Taxis gab es auch nicht. Es dauerte lange, bis ich ganz durchnässt zu Hause ankam. Da warteten meine Mutter, mein Schwiegervater und mein Mann mit steinernen Mienen: Wo warst du? Na ja, da habe ich eben gesagt: Ich habe mit Orson Welles diniert.

ZEIT: Sie hätten genauso gut Charles de Gaulle sagen können.