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VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Der Buchhalter von Auschwitz

Oskar Gröning hat zwei Jahre lang als SS-Mann im Konzentrationslager Auschwitz gedient. Er zählte das Geld der toten Juden und stand Wache an der Rampe. Er sagt, er sei kein Täter gewesen. Seit 60 Jahren sucht Gröning nach einem anderen Wort für Schuld. Von Matthias Geyer
aus DER SPIEGEL 19/2005

Draußen singen die Vögel, vom Garten her weht Frühlingswind ins Wohnzimmer. Ein alter Mann sitzt auf einem Sessel, groß und kräftig, er hat weiße Haare und blaue Augen. Der Sessel steht neben einem Kamin, auf dem Sims sind drei Schnitzengel aufgestellt.

Der Mann hat sein rechtes Bein auf einen Hocker gelegt. Er ist ganz ruhig. Er redet leise. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der er einmal war.

»Ein neuer Transport war angekommen. Ich hatte Dienst auf der Rampe, mein Auftrag war, das Gepäck zu bewachen. Die Juden waren schon abtransportiert. Auf dem Boden lag jetzt nur noch Unrat, Übriggebliebenes. Plötzlich hörte man die Schreie eines Babys. Es lag auf der Rampe, eingewickelt in Lumpen. Eine Mutter hatte es zurückgelassen, vielleicht weil sie wusste, dass Frauen mit Kleinkindern sofort vergast wurden. Ich sah, wie ein anderer SS-Mann das Baby an den Beinen packte. Das Geschrei hatte ihn gestört. Er schleuderte das Baby mit dem Kopf gegen die Eisenstangen eines Lkw, bis es ruhig war.«

Der Mann guckt aus dem Wohnzimmerfenster, reglos fast. Sein Daumen pendelt über die Sesselkante wie ein Metronom. Draußen liegt die Lüneburger Heide in der Sonne, Klinkerhäuser und Gärten, in denen kein Unkraut wächst. Oskar Gröning lebt in einer wohlgeordneten Welt.

Er öffnet den Knopf an seinem linken Hemdsärmel und rollt den Stoff nach oben. »Hier«, sagt er, »da sieht man noch was.«

Man sieht einen winzigen blauen Punkt über dem Ellenbogen, den Rest einer Tätowierung. »Da ist schlampig gearbeitet worden«, sagt er. Es sollte eine Null werden, null für Blutgruppe null. Jeder, der in Auschwitz blieb, bekam eine Tätowierung. Juden mit ihrer Häftlingsnummer, SS-Leute mit ihrer Blutgruppe. Oskar Gröning war zwei Jahre lang SS-Mann in Auschwitz.

Wenn er nachts träumt, enden die Träume mit Schreien. Das Schreien wird zum Tosen, das Tosen zum Summen, das Summen zur Stille. Es sind die Todeslaute aus den Vergasungskammern.

Gröning hat nicht getötet. Er hat kein Zyklon B in die Schächte gefüllt, keine Scheiterhaufen angezündet. Er hat zugesehen. Er stand dabei, erst schockiert, dann gleichgültig. Er bekam Routine.

Er lebte in einer Welt, die organisiert war. Ihre Ordnung sicherte die Unabhängigkeit des Terrors von den Fundamenten der Zivilisation. Der Terror hatte klare Befehlsstrukturen und geregelte Dienstpläne, Aufgaben- und Ämterteilung, Folterknechte und Buchhalter.

Gröning war ein gewissenhafter Buchhalter. Er zählte das Geld der Juden, sortierte es, verschloss es in einem Tresor. Er war ein Buchhalter des Terrors.

Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Fotoalbum, sein Leben in Bildern. Zwei Drittel der Bilder sind schwarzweiß, das letzte Drittel farbig. Aber die Bilder sagen nichts. Er möchte reden, Stunden, Tage, »egal«, sagt er, »reden hilft«.

Oskar Gröning ist 1921 geboren. Er ist einer der wenigen, die für die SS in Auschwitz waren und noch leben. Seine Geschichte, eine deutsche Geschichte, ist die Geschichte von Verführung und Fanatismus, von Tätern und Mittätern, von Leben mit Schuld, von der Suche nach anderen Begriffen für Schuld. Vom Versuch eines Mannes, Vergangenheit zu bewältigen, die so dunkel ist, dass sie niemals endet.

Oskar Gröning, 83 Jahre alt, sitzt in einem Sessel und redet. Ein alter Mann, der etwas erklären möchte.

Er schlägt das Album auf, Pergamentpapier raschelt, er blättert durch Familienfotos, Vater, Oma, Opa, Tante Mariechen, mit Kinderwagen, beim Fahrradausflug, es sind nur ein paar Seiten, dann kommen die Bilder mit den Uniformen. Sein Vater war Mitglied im »Stahlhelm«, einer paramilitärischen Sammelgruppe Deutschnationaler, die gegen den Versailler Vertrag, gegen Reparationsforderungen und später gegen Republik und Demokratie kämpfte.

»Vater machte in einem Gasthaussaal nationale Aufführungen«, sagt Gröning. In einem Stück wurde ein Deutscher von Franzosen erschossen, weil er Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebiets geleistet hatte. »Disziplin, Gehorsam, Zucht, so sind wir erzogen worden«, sagt Gröning. Seine Mutter starb, als er vier war.

Er blättert weiter, er sucht etwas. »Hier«, sein Finger tippt auf ein Foto, »hier: So sind wir marschiert.«

Das Foto stammt von 1933, eine Gruppe Kinder läuft hinter einer Fahne her, sie tragen militärische Uniform, von einem Haus weht die Hakenkreuzfahne. Das Kind Oskar marschiert in der ersten Reihe, es ist zwölf Jahre alt und Mitglied in der Jugendorganisation des »Stahlhelm«.

Was bedeutete Uniform für Sie?

»Faszination. Noch heute, wenn ich Militärmusik höre, den großen Zapfenstreich«, seine Stimme zittert, bricht. »Entschuldigen Sie, aber das ist für mich ein Erlebnis, so erhebend, noch immer.«

Neben dem Haus seines Vaters war eine Eisenwarenhandlung, sie gehörte dem Juden Selig. Er hatte eine Tochter, Änne, sie spielten zusammen mit Murmeln auf der Straße. Irgendwann standen Männer von der SA vor dem Geschäft und hielten ein Schild, »Deutsche, kauft nicht bei Juden«, danach spielte er mit Änne nur noch im Hof.

Was haben Sie gedacht, als die Männer von der SA das Schild hochhielten?

»Gar nichts«, sagt Gröning. Seine Stimme ist jetzt wieder ruhig und fest.

Eine Tür zum Wohnzimmer öffnet sich, seine Ehefrau stellt eine Platte mit Butterkuchen auf den Tisch, mit Frischhaltefolie zugedeckt, »für später«, sagt sie. Dann fährt sie weg. Sie möchte nicht zuhören.

Er wartet, bis die Frau die Haustür hinter sich geschlossen hat. Dann sagt er: »Wissen Sie, die Juden, das waren für uns die Schweinehändler, die Rechtsanwälte, die waren immer anrüchig in Bezug aufs Geld. Es hieß immer: Die Juden hauen die Christen übers Ohr. Das ist so ihre Art.«

Hat Änne Seligs Vater jemanden übers Ohr gehauen?

»Der Gedanke ist damals nicht gekommen.«

Oskar Gröning hebt das Bein vom Hocker, er setzt sich gerade hin und singt, erst leise, dann lauter. »Und wenn das Juden-blut vom Mes-ser spritzt, dann geht's noch mal so gut.«

Für einen Moment verschwimmen die Grenzen zwischen dem Mann von heute und dem Mann von damals, dann kehrt er zurück, ins Heute, und sagt: »Da haben wir doch nicht drüber nachgedacht, was wir da singen.«

Er blättert weiter durch das Album, unter ein Foto mit gezacktem Rand hat er mit blauer Tinte »1941, mit Tante Anna« geschrieben. Es zeigt den jungen Gröning, groß, blond, er steckt in einer Uniform, auf dem Kragen steht SS. Er sitzt auf einer Stuhllehne und lächelt. Er ist sehr stolz.

Er hatte die SS in den Wochenschauen gesehen. Er fand sie zackig, die zackigste Truppe von allen. 1940 meldete er sich freiwillig.

Warum?

»Es war die spontane Begeisterung, im Krieg nicht zu spät zu kommen beim letzten Siegen«, sagt er.

Zwei Jahre lang arbeitete Gröning in einer Besoldungsstelle, im Oktober 1942 bekam er einen neuen Auftrag. Ein Hauptsturmführer sagte, dass es ein Sonderauftrag

sei. Dass er von hoher Bedeutung für das deutsche Volk sei, für den Endsieg. Dass er an seinen Eid denken solle, an das, was auf seinem Koppel stand. »Meine Ehre heißt Treue.« Dass der Auftrag Verschwiegenheit bedeute bis in den Tod.

Eine Wohnzimmeruhr schlägt, es ist sechs Uhr abends geworden, Oskar Gröning redet seit fünf Stunden. Er hat Butterkuchen gegessen und immer weitergeredet. Er ist jetzt in Auschwitz angekommen. Vielleicht will er eine Pause machen.

»Nein, nein, das macht mir nichts aus«, sagt er. Er holt eine Flasche Mineralwasser aus der Küche. Die Frau ist noch nicht zurück.

Gröning ist 21 Jahre alt, als er an einem Oktobertag in Auschwitz ankommt. Ein Zug aus Kattowitz bringt ihn ins Lager, er wird in einer Verwaltungsbaracke untergebracht. Die, die schon länger da sind, packen Ölsardinen und Speck auf den Tisch, Wodka und Rum.

Der SS geht es gut in diesem Lager. Das hier muss etwas Besonderes sein, denkt Gröning. Sie trinken viel. Irgendwann springt die Tür auf, jemand sagt: Ein neuer Transport ist da. Drei Männer stehen auf, sie binden sich ihr Koppel um und nehmen Pistolen mit.

Gröning fragt, was das zu bedeuten hat. Jemand sagt: Da sind Juden angekommen, die werden jetzt ins Lager aufgenommen. Wenn sie Glück haben.

Was heißt das?, fragt Gröning.

Das heißt, dass auch welche entsorgt werden, sagt der andere.

Am nächsten Morgen wird ihm eine Dienststelle zugewiesen. Gröning sagt, dass er eine Banklehre gemacht hat.

Er kommt in die »Häftlingsgeldverwaltung«. Ein Adjutant gibt ihm eine Einweisung. Er erfährt, dass die Juden ihr Geld abgeben müssen. Es kommt in einer Holzkiste, er soll es sortieren und von Zeit zu Zeit beim Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in Berlin abgeben.

Er erfährt, dass die meisten Juden vergast werden. Am selben Tag fängt Oskar Gröning an, Geld zu zählen.

Er glaubt an Adolf Hitler und Joseph Goebbels. Er glaubt, dass es die deutsche Aufgabe ist, das Weltjudentum zu vernichten. Er glaubt, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg wegen der Juden verloren hat. Er will diesen Krieg hier gewinnen.

Er isst gut, arbeitet gut, schläft gut. Auf den Betten der SS-Leute liegen Steppdecken in karierten Bezügen, man liegt weich darin. Sie gehörten mal den Juden.

Nach zwei Monaten im Lager bekommt Gröning eine zusätzliche Aufgabe. Immer häufiger treffen jetzt die Züge an der Rampe ein, man braucht jemanden, der aufpasst, dass kein Gepäck geklaut wird. Bei seinem ersten Einsatz wird das Baby mit dem Kopf gegen den Lkw geschleudert.

Abends liegt er im Bett und kann nicht schlafen. Du bist in einen Laden geraten, der stinkt, denkt er. Er unterscheidet zwischen Exzessen durch Einzelne und Massenmord durch das Ganze. Die Exzesse sind für seine Begriffe Barbarei, der Massenmord legitimiert.

Er geht zu seinem Vorgesetzen und sagt: Wenn das hier immer so abläuft, möchte ich versetzt werden. Der Vorgesetzte sagt: Das, was du gesehen hast, war sicher nicht ganz in Ordnung. Aber du hast eine Verpflichtung unterschrieben. Jeder macht seinen Dienst da, wo er hingestellt wird.

Gröning kehrt in die Ordnung des Terrors zurück. Er wird vom »Rottenführer« zum »Unterscharführer« befördert. Er steht an der Rampe, wenn er Dienst hat, er zählt das Geld, wenn die Holzkiste kommt. Er nennt es »herrenloses Geld«. Er sortiert Zloty, Drachmen, Francs, Gulden, Lire. Eine Weltgemeinde wird geplündert.

Abends, wenn der Dienst zu Ende ist, trägt Gröning sein Essen in die Baracke, spielt Karten mit den Kameraden und Mensch-ärgere-Dich-nicht mit dem Vorgesetzten. Wenn die Kameraden schlafen gehen, sind sie manchmal betrunken. Dann schießen sie das Licht mit der Pistole aus. Am Wochenende trifft er seine Sportgruppe, sie turnen nicht weit von Rampe und Gaskammer. Sie haben viel Spaß zusammen.

Eines Nachts wird er von Trillerpfeifen aus dem Bett geholt. Juden sind ausgebrochen. Er rennt durch die Dunkelheit und kommt an ein Bauerngehöft, davor liegen Leichen. Er sieht noch, wie nackte Menschen in das Gehöft getrieben werden. Er sieht, dass ein Oberscharführer die Tür schließt, eine Gasmaske über den Kopf zieht, eine Dose öffnet, den Inhalt in eine Luke kippt. Dann hört er Schreie. Die Schreie werden zu einem Tosen, das Tosen wird zum Summen, dann ist es still.

Er geht mit einem anderen zurück zu seiner Baracke. Der andere sagt: Ich kenne eine Abkürzung. Unterwegs erzählt der andere, wie das aussieht, wenn Leichen auf Rosten verbrannt werden. Ihre Körper richten sich auf, den Männern erigiert der Penis, sagt der andere.

Die Abkürzung führt an einem Scheiterhaufen vorbei. Leichen werden gerade verbrannt. Gröning geht etwa 50 Meter heran, er

guckt sich an, wie das ist, wenn Menschen brennen.

Er stellt ein zweites Versetzungsgesuch und dann ein drittes. Im September 1944 wird er in eine Feldeinheit entlassen und kämpft gegen die Alliierten bei der Ardennen-Offensive.

Es ist dunkel geworden über der Lüneburger Heide, Oskar Gröning hat sein Leben in Auschwitz erzählt, nüchtern, wie einen Dokumentarfilm. Er steht auf, holt neues Mineralwasser. »Fragen Sie ruhig.«

Was haben Sie gedacht, als Sie wussten, dass in Auschwitz Juden vergast werden?

»Dass es ein Mittel der Kriegführung ist. Eines Krieges mit fortschreitenden Methoden.«

Aber Sie waren nicht im Krieg, sondern in einer Fabrik, in der Systemmord betrieben wurde.

»Wenn Sie davon überzeugt sind, dass die Vernichtung des Judentums nötig ist, dann spielt es keine Rolle mehr, ob das Töten so oder so passiert. Hitler hat schon 1939 in einer Rede gesagt, dass es den Untergang des Judentums in Europa bedeuten würde, wenn die Juden den Deutschen einen neuen Krieg aufzwingen.«

Es ist ein Unterschied, ob man in einer anonymen Masse jubelt oder in einer Tötungsmaschine arbeitet.

»Ja, das ist ein Unterschied. Aber es ist nun mal leider so, dass sie mich, Oskar Gröning, in dieses Camp gebracht haben, in dem das, was bejubelt wurde, passierte. Dann steht man da, und es gibt nur noch das Gefühl: Ich bin eingespannt in das Notwendige, das fürchterlich ist. Aber notwendig.«

Was haben Sie gefühlt, als die Juden in die Gaskammer geführt wurden?

»Nichts, muss ich sagen. Weil das Schreckliche nicht deutlich geworden ist. Wenn man weiß, dass getötet wird, weiß man auch, dass gestorben wird. Das Schreckliche kam erst mit den Schreien.«

Kann man sagen: Sie hatten sich an Auschwitz gewöhnt?

»Ich habe mich mit der Zeit eingelebt. Oder vielleicht besser: Ich habe mich in die innere Emigration begeben. Es gab ein ganz normales Leben in Auschwitz. Es gab einen Gemüseladen, in dem man auch Knochen kaufen konnte, um sich eine Suppe zu kochen. Es war wie in einer Kleinstadt. Ich hatte meine Dienstgruppe, und in der spielten Gaskammern keine Rolle. Das eine war das eine, und das andere war das andere.«

Es ist halb neun, die Haustür öffnet sich, seine Frau. Sie fragt, ob sie Käsebrote machen soll. Sie könnte die Brote hinstellen und nach nebenan gehen, sagt sie.

Als ihr Mann 1948 aus britischer Gefangenschaft nach Hause kam, sagte er zu ihr: »Mädchen, tu dir und mir einen Gefallen: Frag nicht nach.« Sie fragt noch immer nicht.

Gröning bietet an, im Hotel weiterzureden. Er will vorankommen. Abrechnen.

Am nächsten Morgen sagt er, dass er gut geschlafen hat. Er hat eine Tablette genommen. Seine Frau ist schon aus dem Haus. Auf dem Wohnzimmertisch steht Mineralwasser. Das Fotoalbum ist weg, jetzt liegen Unterlagen da. Dokumente, die ihn entlasten könnten. So etwas wie Oskar Grönings Ehrenurkunden.

Das eine Dokument trägt das Aktenzeichen VP-55b/9.44/Zö/IG. Es ist ein Schreiben an das SS-Führungshauptamt in Berlin, in dem seine Versetzung bestätigt wird. »Der Vorgenannte hat sich freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet« steht da.

Das zweite Dokument ist ein Brief vom Landgericht Duisburg. Gröning wird darin als Zeuge im Prozess gegen einen SS-Mann geladen, der in Auschwitz Häftlinge ermordet haben soll.

Oskar Gröning hat drei Worte in diesem Brief mit blauer Tinte unterstrichen:

»Als Zeuge geladen«. Nicht als Angeklagter. Juristisch ist er unschuldig.

Er wohnte bei den Schwiegereltern seines Vaters, nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft. Sie saßen am Tisch, aßen, dann sagte die Schwiegermutter des Vaters: Weiß ich denn, ob ich hier mit einem Mörder zusammensitze? Oder mit einem potentiellen Mörder?

Er schlug mit der Hand auf den Tisch und sagte: Ich sitze hier, weil ich nicht schuldig bin. Ich war kein Täter, insofern bin ich ein ehrenvoller Mensch.

Der Mensch Oskar Gröning, ein Kästchen im Organigramm von Auschwitz. So sah er das, so sieht er das. Er bleibt einsam mit diesem Blick.

Gestern Nacht, als Gröning schon schlief, zeigte das Fernsehen eine britische Dokumentation, es ging um die Befreiung der Lager. Der Film unterscheidet nicht zwischen denen, die gemordet haben, und denen, die das Geld der Ermordeten zählten. Er zeigte Männer in SS-Uniformen und Berge mit Leichen. Monster und ihre Opfer.

»Ich sehe mir das nicht an. Das bringt mich nicht weiter. Wie Leichen aussehen, weiß ich«, sagt Gröning. Seine Stimme ist kühl, abweisend. Eine Träne sammelt sich in seinem linken Auge.

Die Bilder sagen: schuldig. Grönings Bilder sind weicher, weniger radikal, nicht so eindeutig, sie sagen: unschuldig.

Er muss weiterleben, als er 1948 aus britischer Kriegsgefangenschaft zurückkommt. Er will nicht gestört werden.

Er hat sich seitdem nie etwas angesehen. Nichts gehört, nichts gelesen, was ihm das Lager zurückgebracht hätte. Er weiß nicht, dass 1963 der Auschwitz-Prozess begann, der die junge deutsche Demokratie zum ersten Mal mit den Einzelheiten der Vernichtungsmaschine bekannt machte. »Da weiß ich nichts von«, sagt er.

1968, als die groß gewordenen Kinder die Vätergeneration anklagte, waren seine Söhne 26 und 19 Jahre alt. Sie studierten und kamen selten nach Hause. Sie wussten, dass ihr Vater in Auschwitz gewesen war, aber sie sprachen darüber nicht mit ihm. Sie hatten keine Fragen.

»Das spielte bei uns keine Rolle«, sagt Gröning.

1979 sendete das deutsche Fernsehen die amerikanische Serie »Holocaust«. Die Verfilmung des Schicksals einer jüdischen Familie war Geschichtsunterricht für deutsche Familien, jeder sprach davon. »Schindlers Liste« war ein flüchtiges Ereignis im Vergleich zu »Holocaust«.

»Da habe ich nie etwas von gehört«, sagt Gröning.

Es gibt nur einen, mit dem Oskar Gröning in den ganzen Jahren die Wahrheit bespricht, Gott. Er möchte sich von etwas befreien, aber er weiß nicht, wie er das nennen soll. Schuld? Ist er Täter? Mittäter? Oder, auch das hält er für möglich, nichts davon? Er stellt dieselben Fragen wie ein ganzes Land. Aber er stellt sie an sich selbst, in diesem Wohnzimmer hier. Er bekommt keine Antwort.

Gröning beginnt ein bürgerliches Leben, als der Krieg vorbei ist, er arbeitet als Lohnbuchhalter in einer kleinen Fabrik. Niemand weiß, was er vorher gemacht hat. Solange er nur mit Geld hantiert, ist er auf der sicheren Seite, das war immer so. Er hat einen Dackel und sammelt Briefmarken. Er ist Mitglied in einem Verein. 1985 besucht er die jährliche Hauptversammlung, er redet mit einem anderen Sammler über Briefmarken und Politik, der andere sagt: Es ist unglaublich, dass jetzt schon Leute strafrechtlich verfolgt werden, die den Holocaust leugnen, obwohl der ja tatsächlich nie stattgefunden hat.

Es ist ein großer Moment im Leben von Oskar Gröning. Eine Explosion, so, als wenn jemand eine Nadel in einen Luftballon sticht, der ans Äußerste gedehnt ist. Gröning sagt: Ich weiß da etwas mehr, wir können bei Gelegenheit darüber sprechen. Der Sammlerfreund schenkt ihm ein Buch, »Die Auschwitz-Lüge« des Altnazis Thies Christophersen. Gröning schickt das Buch zurück, er legt ein paar Blätter Papier dazu, Selbstgeschriebenes, seine Antwort auf Christophersen.

Ich habe alles gesehen, schreibt er. Die Vergasungen, die Verbrennungen, die Selektionen. In Auschwitz sind 1,5 Millionen Juden ermordet worden. Ich war dabei.

Es ist ein Brief an sein Gewissen.

Ein halbes Jahr später werden seine Anmerkungen in einer Neonazi-Zeitschrift veröffentlicht. Gröning kann sich nicht mehr verstecken. Er rennt nach vorn, er sieht eine Chance. Er kann seine Vergangenheit einsetzen, als wäre sie eine Wertmarke. Er könnte zum Kronzeugen gegen die Auschwitz-Lüge werden. Er sieht einen Auftrag, eine Mission. Und mildernde Umstände vielleicht.

Er setzt sich hin und schreibt. Von morgens acht bis abends zehn, drei Wochen lang. Er schreibt mit einer Schreibmaschine

87 Seiten voll, es ist sein Leben, so wie er es sieht. Er zitiert darin Bücher von Sebastian Haffner. Aber Haffner hat das Phänomen Hitler zu erklären versucht, nicht Auschwitz. Gröning lässt die Seiten binden und schenkt sie seinen Söhnen. Er glaubt, etwas erklärt zu haben. Erlöst zu sein. Der Vater erwartet Freispruch.

Sein ältester Sohn, inzwischen Jurist, reagiert nicht. Der jüngere, ein Philologe, schreibt Fragen an den Rand. Die Söhne sprechen stille Urteile.

Gröning setzt sich hin und schreibt weiter, er versucht, die Fragen des Jüngeren zu beantworten. Er lässt neue Exemplare binden, verschenkt sie an Freunde, er will etwas bekannt machen, wie jemand, der in der Fußgängerzone steht und Flugblätter verteilt. Mensch Oskar, sagen die Freunde, hast ja wirklich was mitgemacht. Niemand stellt Fragen. Keiner will Erklärungen.

Vielleicht kann man das nicht erklären?

»Die Menschen haben eine Scheu davor. Das ist es, was ich nicht verstehe«, sagt Oskar Gröning.

Er steht auf und geht in ein Zimmer nebenan. Sein Bett steht da, sein Schreibtisch, sein Computer, sein Regal, Kartons. Im Regal lagern Bücher über den Nationalsozialismus und die Bibel. In den Kartons liegen gebundene Exemplare seiner Aufzeichnungen und Videokassetten.

Zwischen dem Wohnzimmer und seinem Schlafzimmer gibt es eine unsichtbare Schranke. Im Wohnzimmerschrank stehen Kochbücher der Frau. Er hebt den Karton mit den Videokassetten vom Boden. »Neun Stunden.«

Neun Stunden hat Oskar Gröning vor den Kameras der BBC gesessen. Der Sender arbeitete an einer Dokumentation, es ging um Auschwitz. Die BBC wollte einen SS-Mann, der SS-Mann wollte Vergebung.

Es war ein Versuch. Der SS-Mann sagte etwas, die BBC kommentierte. Zum Beispiel, dass Auschwitz für die SS-Leute ein guter Deal war, angenehmer, als gegen die Rote Armee an der Ostfront zu kämpfen. Sie zeigte Gröning als den, der er war, Schmierstoff in der Maschine der Massenvernichtung. Auch von der BBC kam kein Freispruch.

Gröning will die Videokassetten zu DVDs umarbeiten lassen, damit er sie in seinem Zimmer ansehen kann, vor dem Computer. Er will das Wohnzimmer nicht blockieren. Seine Frau möchte die Bänder nicht sehen, sagt er.

Warum nicht?

»Vielleicht, weil sie Angst hat.«

Wovor?

»Vielleicht vor der Wahrheit.«

Er geht zurück ins Wohnzimmer und setzt sich in seinen Sessel. Er wartet auf Fragen.

Haben Sie Schuld?

Oskar Gröning sieht auf das Tonband, das vor ihm liegt. Er denkt lange nach. Es geht darum, die richtigen Worte zu finden. Dann sagt er: »Schuld hängt eigentlich immer mit Taten zusammen, und da ich meine, ein nicht tätiger Schuldiger geworden zu sein, meine ich auch, nicht schuldig zu sein.«

Wenn Sie kein Täter waren, was waren Sie dann? Ein Mittäter?

»Ich weiß es nicht. Man wehrt sich doch dagegen. Ich bringe mich in Schwierigkeiten mit dieser Frage. Mittäter wäre mir schon fast zu viel. Ich umschreibe das mit 'Rädchen im Getriebe'. Wenn Sie das als Schuld bezeichnen wollen, dann bin ich ein ungewollt Schuldiger. Juristisch bin ich nicht schuldig.«

Und moralisch?

»Vom christlichen Standpunkt betrachtet, von den Zehn Geboten her, vom Gebot: Du sollst nicht töten, ist Mithilfe schon ein Verstoß. Obwohl, auch das ist eine Frage: War das Mithilfe zum Töten, was ich getan habe?«

Sie hatten eine Funktion in einem Apparat, der zum Töten da war.

»Ich sage es einmal anders: Ich fühle mich schuldig gegenüber dem Volk der Juden, in einer Truppe gewesen zu sein, die diese Verbrechen begangen hat, ohne dass ich dabei Täter war. Das jüdische Volk bitte ich um Verzeihung. Und den Herrgott bitte ich um Vergebung.«

Als das Tonband aus ist, sagt er: »Ich werde mit der Antwort nicht fertig.« Er sucht sie seit 60 Jahren.

Oskar Gröning hat alles gesagt, was er sagen kann. Es gibt keine Fragen mehr. Es muss reichen. Er wünscht sich jetzt, dass man ihm vergibt. Oder, wenn das nicht geht, dass man ihn versteht.

Er geht hinaus in den Garten. Auf dem Rasen liegt ein Hügel aus kleinen schwarzen Schalen. Gröning hat im Winter drei Zentner Vogelfutter auf seine Wiese gekippt und 150 Meisenknödel in die Bäume gehängt. Er liebt Vögel. Neulich hatte einer in seinem Briefkasten genistet. Eines Tages war er tot. Jemand hatte den Vogel mit einem Luftgewehr erschossen.

»Da könnte ich heulen«, sagt Oskar Gröning.

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