"Es kommt drauf an, was man unter Lockdown versteht" – Seite 1

Nie haben sich so viele Menschen in Deutschland mit Corona angesteckt. Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt stark. Die Politik muss reagieren – aber welche Handhabe hat sie noch? Wäre ein erneuter Lockdown verfassungsgemäß und verhältnismäßig? Andrea Kießling vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie von der Ruhr-Uni Bochum erklärt die juristischen Grundlagen. 

ZEIT ONLINE: Die Infektionszahlen steigen wieder stark an. Gäbe es für einen erneuten Lockdown derzeit überhaupt eine Rechtsgrundlage?

Andrea Kießling: Das kommt drauf an, was man unter Lockdown versteht. Das Schließen von Betrieben und der Gastronomie, Kontaktbeschränkungen, das alles wird nicht mehr möglich sein, wenn der Bundestag wie geplant das Infektionsschutzgesetz ändert.

ZEIT ONLINE: Warum?

Kießling: Der Gesetzgeber will die epidemische Lage von nationaler Tragweite auslaufen lassen. Dann können die Bundesländer nicht mehr die gleichen Maßnahmen ergreifen wie etwa im vergangenen Winter. Der Maßnahmenkatalog wird kleiner. Man kann zwar weiter eine Maskenpflicht anordnen oder auch 2G oder 3G. Aber Ausgangsbeschränkungen, die ich ohnehin immer problematisch fand, sind dem Entwurf nach etwa nicht mehr möglich. Die Länder haben für einige Maßnahmen dann keine Ermächtigungsgrundlage mehr. Das könnte ein Problem werden.

"Das System läuft nicht mehr normal"

ZEIT ONLINE: Ein Kritikpunkt ist auch: Die Länder werden mit der Corona-Politik allein gelassen und sind dann wieder selbst verantwortlich.

Kießling: Auch jetzt sind die Länder zuständig. Durch das Infektionsschutzgesetz gibt der Bund nur den Rahmen für die Länder vor und die Länder entscheiden, wie sie ihn ausfüllen. Nur ein Mal, bei der sogenannten Bundesnotbremse, hat der Bund Kompetenzen an sich gezogen.

ZEIT ONLINE: Sie hatten schon im Sommer gefordert, das Infektionsschutzgesetz müsse reformiert werden. Was meinten Sie genau?

Kießling: Im Sommer war das Gesundheitssystem nicht überlastet. Aber trotzdem war klar, dass es weiter in einigen Bereichen eine Maskenpflicht braucht. Nur: Selbst niederschwellige Maßnahmen wie diese hatten zur Voraussetzung, dass der Bundestag die epidemische Lage feststellt. Ich hatte deshalb gefordert, dass weniger grundrechtsintensive Maßnahmen wie die Maskenpflicht davon abgekoppelt werden.

ZEIT ONLINE: Im Infektionsschutzgesetz wird das Ziel ausgegeben, die Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Wenn es so weitergeht, dann scheint das nur noch eine Frage von Tagen zu sein.

Kießling: Ich würde sogar sagen: Das haben wir schon. Die Intensivstationen müssen nicht so voll sein, dass in Deutschland kein Bett mehr frei ist. Es reicht für die juristische Bewertung, wenn sich diese Tendenz abzeichnet. Schon jetzt werden Operationen verschoben. Daran sieht man: Das System läuft nicht mehr normal.

ZEIT ONLINE: Trotzdem ist die Lage anders als im vergangenen Winter. Sehr viele Menschen sind inzwischen geimpft.

Kießling: Das ändert nichts bei der Bewertung der epidemischen Lage, also bei der Frage, wie belastet das Gesundheitssystem ist. Die Zahl der Geimpften spielt bei der Rechtsfolge der Maßnahmen, also bei deren Verhältnismäßigkeit, eine Rolle. Da müssen wir differenzieren zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften. Einfach pauschal irgendwelche Dinge anordnen, die dann für alle Personen uneingeschränkt gleich gelten, das geht nicht mehr.

ZEIT ONLINE: Das heißt, eine Art Lockdown für Ungeimpfte wäre möglich?

Kießling: Sicher nicht, wenn man unter Lockdown Ausgangssperren versteht. Aber der zukünftige Katalog erlaubt es den Ländern, wie auch schon jetzt, relativ umfassend 2G einzuführen, dann liefe das zumindest in die Richtung sehr starker Einschränkungen für Ungeimpfte.

"Einschränkungen in Schulen und Kitas sind nicht das letzte Mittel"

ZEIT ONLINE: In der Pandemie gab es oft den Zwiespalt: Einerseits müssen Gesetze sehr präzise sein. Aber je konkreter sie werden, desto schneller können sie von der Realität überholt werden.

Kießling: Das ist auf jeden Fall ein Problem. Wo wir sehr intensive Grundrechtseingriffe haben, da ist der Gesetzgeber dazu gezwungen, möglichst genau zu formulieren. Wer etwa den Ländern detailliert sagt, welche Maßnahmen sie ergreifen dürfen, sagt auch gleichzeitig, welche sie nicht ergreifen dürfen. Noch schwerer wird das aber bei den Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit die Länder handeln dürfen. Das ergibt sich auch aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Maskenpflicht ist kein intensiver Grundrechtseingriff, da können das sehr niedrige Voraussetzungen sein. Aber für Kontaktbeschränkungen und die Schließung der Gastronomie, da muss die Hürde höher liegen. Der Gesetzgeber hat mal versucht, sich dafür an den Inzidenzen zu orientieren. Das System war sehr klar. Aber durch die steigende Impfquote wurde es überholt. Im Sommer kam die Hospitalisierungsquote dazu. Das sollen auch weiterhin die Kriterien sein, so richtig transparent ist dieser Maßstab aber nicht; die Länder haben jeweils eigene Systeme entwickelt. In dem neuen Entwurf zum Infektionsschutz stehen nun keine Voraussetzungen drin. Es heißt nur, die Länder dürfen dieses und jenes bis zum März umsetzen.

ZEIT ONLINE: Wo bleibt das Gesetz noch schwammig?

Kießling: Es enthält keine Abstufung der Maßnahmen, etwa für Schulen und Kitas. Das gilt auch jetzt schon. Nachrangig, also als letzte Mittel, sind derzeit nur Ausgangsbeschränkungen, Versammlungsverbote und Besuchsverbote in Pflegeheimen geregelt. Einschränkungen in Schulen und Kitas werden auch jetzt einfach als eine Maßnahme unter vielen in den Katalog aufgenommen. Das ist ein Fehler im Gesetz.

ZEIT ONLINE: Was ist das Ziel des Infektionsschutzes? Geht es darum, das System nicht zu überlasten – oder darum, das individuelle Risiko auf Ansteckung zu minimieren?

Kießling: Im Gesetz steht nicht nur der Schutz des Gesundheitssystems als Ziel, sondern auch der Schutz von Leben und Gesundheit. Allerdings ist das recht vage formuliert. Man kann daraus nicht ablesen, der Staat müsse jede Infektion verhindern. Es war allerdings bislang im Infektionsschutzrecht völlig unstreitig, dass der Staat das Leben von Menschen einschränken kann, damit Dritte nicht gefährdet werden. Beim Nichtraucherschutz läuft es ähnlich. Ich verbiete Rauchern das Rauchen in geschlossenen Räumen, um das Erkrankungsrisiko für andere zu minimieren.

ZEIT ONLINE: Das Risiko minimieren – heißt das, eine allgemeine Impfpflicht könnten Sie sich vorstellen?

Kießling: Ich habe da keine verfassungsrechtlichen Bauchschmerzen. Inzwischen gab es so viele Impfungen und man weiß, dass der Impfstoff sehr sicher ist. Das wäre vor einem Jahr etwas anderes gewesen. Die entscheidende Frage ist deshalb die der Rechtsfolge. Wer kontrolliert die Impfpflicht und was passiert bei Verstößen? Es dürfte ja zum Beispiel nie so weit kommen, dass man Unwilligen mit Gewalt die Nadel in den Arm sticht. Relativ einfach wäre das bei einer Pflicht für bestimmte Berufsgruppen. Die Folge wäre, dass Ungeimpfte dann nicht mehr dort arbeiten dürften. Das haben wir schon bei der Masernimpfung. Die ist Pflicht auch für das Personal in Kitas und Schulen.