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Aufklärungsfilm "Helga": Vorgänger von "Dr. Fummel" und "Graf Porno"

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Aufklärungsklassiker "Helga" So bieder begann die Sexfilmwelle

Eisprung sells: Millionen Menschen weltweit sahen 1967 "Helga" im Kino. Die Fortpflanzungsdoku ließ Männer umkippen - und Filmheldin Ruth Gassmann fast auswandern.

Schon in Minute 7:30 geht's schnörkellos zur Sache: "Mutti", fragt das vielleicht zehnjährige Mädchen, weiße Bluse, rosa Rock, Pagenschnitt, "wie kommen die Kinder in den Bauch?" Da strahlt die schwangere Mutti, nimmt die Hand der Tochter und sagt bedeutungsvoll: "Der Vater hat seinen Samen in die Mutter gelegt."

Potzblitz! Der Vater hat nicht seine Unterhosen in den Schrank oder seine Brille in die Schublade, sondern seinen Samen in die Mutter gelegt. Damit ist alles gesagt, das große Rätsel gelöst, das Thema abgehakt. Denn um den Liebesakt geht's gar nicht bei Deutschlands erstem abendfüllenden Aufklärungsfilm "Helga. Vom Werden des menschlichen Lebens".

Stattdessen doziert eine Frauenärztin mit großer Freude am Detail über Samenfäden und Eihülle, Periode und Konzeptionsoptimum. Mit jedem Fremdwort, das die Fachfrau auspackt, schauen die von ihr belehrten Mädchen, darunter Helga, bedröppelter aus der Wäsche. Sexualität, schwant ihnen, scheint eine ziemlich dröge Angelegenheit. Mit Lust hat das Ganze nichts zu tun - jedenfalls in diesem Film.

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Aufklärungsfilm "Helga": Vorgänger von "Dr. Fummel" und "Graf Porno"

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Trotzdem strömten die Menschen ins Kino, nachdem "Helga" am 22. September 1967 in Frankfurt Premiere hatte. Erfolgreicher war damals nur James Bonds fünftes Abenteuer "Man lebt nur zweimal". Allein im ersten Jahr verfolgten knapp fünf Millionen Deutsche Helgas Weg zum Mutterglück, weltweit sogar 40 Millionen.

Von Wildfremden gestreichelt

Der Exportschlager von Regisseur Erich F. Bender beglückte Franzosen und Italiener, Algerier und Amerikaner, Japaner und Portugiesen, wurde sogar auf den Fidschi-Inseln gezeigt. Über Nacht avancierte die bis dahin nahezu unbekannte "Helga"-Darstellerin Ruth Gassmann zum Star: "Wildfremde streichelten mir im Kaufhof übers Haar", erzählt die heute 82-Jährige im einestages-Gespräch.

3500 Mark Gage erhielt die junge Schauspielerin damals. Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß durfte sich über 1,5 Millionen Mark freuen: Der Staat profitierte als Auftraggeber von der überraschenden Popularität. "'Helga' ist der erfolgreichste deutsche Film aller Zeiten und ein Staats-Streich zugleich", schrieb der SPIEGEL 1968 .

SPD-Gesundheitsministerin Käte Strobel, Gründerin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, hatte den Film veranlasst. "Helga" sollte sich, so die später auch als "Sex-Strobel" titulierte Ministerin mit der Hornbrille, "auf eine wissenschaftlich fundierte Faktenvermittlung" beschränken.

Zoom auf Vulva und Babykopf

Und so werden im Film permanent Referate gehalten. Die Frauenärztin, der schnarrende Herr Professor, die Krankenschwester mit der gestärkten Schürze: Sie alle tun ihr Wissen kund, illustriert durch Mikroskopaufnahmen von Fötus, Zellteilung und wuselnden Spermien.

Tapfer erträgt Helga alle Belehrungen. Sie lächelt und hechelt sich durch ihre Schwangerschaft - bis zum Skandalmoment des Films: einer echten Geburt, in Farbe und inklusive Zoom auf Vulva und Babykopf, Blut und Käseschmiere.

Und das im Jahr 1967: als Väter im Kreißsaal noch nichts zu schaffen hatten, als Abtreibung verboten und Homosexualität strafbar war. Als die Pille offiziell nur verheirateten Frauen ausgehändigt wurde und der "Kuppeleiparagraf" Menschen ins Gefängnis brachte, die unverheiratete Paare bei sich beherbergten.

Reihenweise kippten Zuschauer angesichts des gebärenden Unterleibs um, Rot-Kreuz-Helfer standen in Kinosälen parat. Und der Rezensent der "Süddeutschen Zeitung" haderte mit dem Leben in "einer hemmungslos sexualisierten Umwelt, wo illustrierte Blätter den Follikelsprung und eheliche Praktiken diskutieren (...) und die Kameras in die Kreißsäle schleichen".

"Helga" geht fremd

Auch "Helga"-Darstellerin Gassmann war entsetzt, als sie den Film sah. Aber nicht wegen der Geburtsszene, für die eine anonyme Frau in einer Münchner Klinik eingesprungen war. Sondern ob einer vier Sekunden langen Nacktaufnahme: für die Schauspielerin damals eine unerträgliche Schmach.

"Helga"-Darstellerin Gassmann

"Helga"-Darstellerin Gassmann

Foto: imago/Future Image

"Wir dachten schon ans Auswandern", sagt Gassmann. Weil man ihr beim Dreh vorgeflunkert habe, ihr Körper sei im Film nur als Silhouette zu sehen, verklagte "Helga" die Produktionsfirma Rinco-Film - worauf ihr Kopf aus der Szene geschnitten wurde.

Später war Gasmann weniger zimperlich, wirkte in den Fortsetzungen "Helga und Michael" (1968) sowie "Helga und die Männer" (1969) mit. Es waren deutlich explizitere, nicht mehr von Behörden gesponserte Filme, in denen die einstige Mustergattin gar den Seitensprung für sich entdeckt. "Ich dachte mir: Nach 'Helga' nimmt mich eh keiner mehr, warum also nicht noch zwei weitere drehen?", so Gassmann.

Nach "Helga III" war Schluss - ab sofort übernahm Oswalt Kolle, um die Welt in sexuellen Belangen zu erleuchten. Eine Herkulesaufgabe: Mit jedem Film, den der Aufklärungsmissionar auf den Markt warf (acht waren es zwischen 1968 und 1972), wuchs die Neugier der Menschen auf mehr.

"Orpheus des Unterleibs"

"Deine Frau, das unbekannte Wesen". "Dein Mann, das unbekannte Wesen". "Dein Kind, das unbekannte Wesen" - im Halbjahrestakt knöpfte sich Kolle solche Wesen vor, entnervt fragte das "Hamburger Abendblatt" 1970: "Nun 'Deine Oma, das unbekannte Wesen'?"

Mit seinem Anspruch ("Wir müssen die Erotik der Frauen sexualisieren und die Sexualität der Männer erotisieren") verscherzte Kolle es sich mit der katholischen Kirche und Frankreichs Staatschef Charles de Gaulle, der einen der Filme per Nagelschere zerschnitten haben soll. Aber weltweit sahen laut "Süddeutscher Zeitung" rund 140 Millionen Menschen die Filme von Kolle, in der Presse geadelt als "Sexpapst", "Liebesguru" und "Orpheus des Unterleibs".

Die Altersfreigabe-Einrichtung FSK winkte Kolles Filme bis auf wenige Szenen ebenso durch wie "Helga" - auch hier wirkte ein ganzes Heer an staubtrockenen Sexualforschern, Psychologen, Professoren mit. Die Filmemacher jubilierten: Wer die Zensur umgehen wollte, musste einfach seriöse Aufklärung vorgaukeln, und schon durften die Nackedeis durchs Bild toben und es toll treiben.

Platz da für Dr. Fummel

Der Überraschungserfolg von "Helga", resümiert Historiker Jürgen Kniep, "wirkte wie eine Initialzündung für die darbende Filmbranche". Im Fahrwasser der Aufklärungsfilme segelten Alois-Brummer-Meisterwerke wie "Dr. Fummel und seine Gespielinnen" (1969) und "Graf Porno bläst zum Zapfenstreich" (1970) ebenso wie all die "Schulmädchen-Report"- und Lederhosen-Streifen. Eine wahre Sexfilmwelle überrollte die Bundesrepublik - auch wegen Gesundheitsministerin Käte Strobel.

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Lederhosenfilme: Auf der Alm, da gibt's koan Sinn

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"Am Ende war alles nur noch Porno", schimpft Ruth Gassmann. Auch sie hätte in Filmchen à la "Lass jucken, Kumpel" mitwirken können - ein Produzent, erzählt sie, stand schon mit einem 100.000-Mark-Koffer bei ihr auf der Matte. Sie sagte nein.

Dennoch ist sie in der Jess-Franco-Erotikklamotte "Robinson und seine wilden Sklavinnen" (1972) zu sehen. "Eine Frechheit", zürnt Gassmann. Weil man ihr weisgemacht habe, der Film heiße "Robinson Crusoe", übernahm sie die Nebenrolle der keifenden (und angezogenen) Ehefrau. "Diese Branche ist schon schwierig", sagt die neunfache Großmutter.

"Die 'Helga' nehme ich mit ins Grab"

Auch in Hollywood wurde es nichts mit der Filmkarriere - obwohl Gassmann in den USA so beliebt war, dass der Gouverneur von Georgia sie 1969 per Urkunde zum "Oberstleutnant und Adjutant des Gouverneur-Stabes" beförderte. Enttäuscht wandte sich die Augsburgerin von der Schauspielerei ab und reüssierte als Sängerin.

Ihre Paraderolle in Deutschlands epochalem Aufklärungsfilm wird sie bis heute nicht los. "Sie zeigte ganz Deutschland, wie man Kinder macht", schrieb die "Bunte" 2009. Und Gassmann seufzt: "Die 'Helga' nehme ich mit ins Grab." Mittlerweile hat sie ihren Frieden damit gemacht und verweist auf den "Bambi"-Filmpreis, den "Helga" 1969 bekam.

Ein Foto fing den Moment in München ein: Ministerin Käte Strobel, ernst, mit Blazer, hält die Rosen - "Helga", weitherziges Dekolleté, strahlendes Lächeln, umklammert die goldene Trophäe. "Das war für mich der Heiligenschein", sagt Gassmann und lacht. "Besser ging's nicht."