Patientenbeauftragter im Interview

Stefan Schwartze: „Patientinnen werden ohne Not in Angst und Schrecken versetzt“

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze.

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Stefan Schwartze wurde im Januar 2022 auf Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zum Patientenbeauftragten der Bundesregierung berufen. Der gelernte Industriemechaniker war in den vergangenen zwei Legislaturperioden Sprecher der Arbeitsgruppe Petitionen der SPD-Bundestagsfraktion.

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Herr Schwartze, glaubt man den Ärzteverbänden, steht die medizinische Versorgung in Deutschland unmittelbar vor dem Kollaps. Merken Sie das in den Anfragen der Bürgerinnen und Bürger?

Das ist übertrieben. Allerdings hören wir tatsächlich viele Klagen darüber, dass es große Probleme gibt, einen Termin beim Haus- oder Facharzt zu finden. Aktuell gibt es zum Beispiel Engpässe bei der Versorgung mit Rheumatologen. Die Situation schaue ich mir gerade genau an.

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Bei welchen Krankheiten suchen die Menschen Rat?

In der Mehrzahl der Fälle geht es um Long Covid und ME/CFS – also das chronische Erschöpfungssyndrom. Die Zahl der Betroffenen ist inzwischen sehr, sehr hoch. Sie sind verzweifelt, weil sie sich oft von den Ärztinnen und Ärzten nicht ernst genommen fühlen. Weil das Wissen auch in der Ärzteschaft fehlt, werden sie schnell in die Ecke einer psychischen Erkrankung gestellt, wo sie definitiv nicht hingehören. Und sie berichten davon, dass ihr Leiden auch in den Sozialversicherungen, also insbesondere in der Kranken- und Rentenversicherung, keine Anerkennung findet und sie wie Simulanten behandelt werden.

Übertreiben die Betroffenen nicht vielleicht doch?

Ganz und gar nicht. Wir hören von vielen Schicksalen, bei denen wirtschaftliche Existenzen ganzer Familien wegbrechen, weil Erkrankte nicht mehr arbeiten können und sie langsam aus allen Sozialsystemen herausfallen. Ich appelliere an die Ärzteschaft, an das Pflegepersonal, aber auch an Ämter und Behörden: Nehmen Sie diese Menschen sehr ernst, gehen Sie angemessen mit ihnen um und helfen Sie, wenn immer es geht! Das gilt auch für die Jugendämter, schließlich sind auch Kinder und Jugendliche betroffen.

Was muss noch getan werden?

Wir müssen vor allem die Forschung voranbringen. Die im Haushalt 2024 bereitgestellten 150 Millionen Euro können dafür nur ein Anfang sein. Ursachen und Behandlungsmethoden sind leider immer noch weitgehend unerforscht. Gefordert ist insbesondere auch das Forschungsministerium von Bettina Stark-Watzinger, das für die Grundlagenforschung zuständig ist. Und wir müssen geeignete Versorgungsstrukturen aufbauen, um dieses komplexe Krankheitsbild richtig behandeln zu können. Dazu gehört auch eine bessere Schulung von Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegekräften.

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Jahrelang gab es für Patientinnen und Patienten die Unabhängige Patientenberatung. Mit der beschlossenen Umwandlung in eine Stiftung hat sie zunächst ihre Arbeit eingestellt. Wann wird sie neu aufgebaut und wieder erreichbar sein?

Es wird einen Startschuss noch vor dem Sommer geben. Ich kann mich noch nicht genau auf die Woche und den Tag festlegen, aber wir sind auf gutem Wege. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind eingestellt und arbeiten mit Hochdruck an der Wiedereröffnung. Zunächst brauchen wir noch einen Probelauf, ob die Telefonanlage und die Computersysteme funktionieren. Wir arbeiten zwar mit der bisherigen Datenbank, in der alles Wissen für die Beraterinnen und Berater abgelegt ist. Aber das muss auf die neue Technik aufgespielt und aktualisiert werden. Das ist ja ein halbes Jahr nicht geschehen. Das ist im Gesundheitswesen eine lange Zeit.

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Das Long-Covid-Institut der bekannten und renommierten Ärztin Dr. Jördis Frommhold in Rostock macht dicht. Ohne weitere Förderung des Gesundheitsministeriums kann es nicht wirtschaftlich betrieben werden. Für einen Teil der Patientinnen und Patienten gibt es aber noch Hoffnung.

Krankenkassen und Medizinrechtsexperten fordern seit Langem Verbesserungen bei den Patientenrechten: Die Ampel hat das in ihrem Koalitionsvertrag auch zugesagt, aber bisher nicht geliefert. Wann passiert das?

Das vor zehn Jahren in Kraft getretene Patientenrechtegesetz muss dringend verbessert werden. Schon damals war klar, dass im Fall von Behandlungsfehlern die Beweislast für die Patientinnen und Patienten deutlich zu hoch ist. Die Betroffenen scheitern meist daran zu beweisen, dass der Schaden allein durch einen Behandlungsfehler verursacht wurde. Dieser Vollbeweis ist in der Praxis extrem schwer. Deshalb setzte ich mich dafür ein, dass künftig die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht. Das wird der Komplexität des menschlichen Körpers gerecht und gilt längst in Ländern mit vergleichbaren Rechtssystemen, also zum Beispiel in Österreich oder der Schweiz.

Aber noch mal: Wann kommt eine Neuregelung?

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Die Gespräche mit dem Justizministerium sind auf gutem Weg. Da ist Bewegung in der Sache.

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Und wo bleibt der im Koalitionsvertrag angekündigte Härtefallfonds?

Wir arbeiten daran. Er soll nicht das Haftungsrecht ersetzen, sondern dann eintreten, wenn Menschen nach einer Behandlung einen schweren gesundheitlichen Schaden erlitten haben und deshalb finanziell in Schwierigkeiten geraten. Wird gerichtlich festgestellt, dass es wirklich einen Behandlungsfehler gab, muss der Verursacher das Geld an den Fonds zurückzahlen. War es jedoch eine schicksalhafte Entwicklung, dann soll die Allgemeinheit dafür aufkommen, nicht die Betroffenen selbst.

Was sollte Ihrer Meinung nach noch in eine Novelle des Patientenrechtegesetzes?

Dringend erforderlich sind mehr Auskunftsrechte. Die Patientinnen und Patienten müssen einen Anspruch darauf bekommen, die gesamte Krankenakte einzusehen. Wann ist welcher Eintrag gemacht worden, wann ist etwas geändert worden, und was stand da vorher? Das muss lückenlos den Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen, ebenso die Dienst-, Operations- und Hygienepläne. Nur so stehen die Betroffenen im Streitfall auf Augenhöhe mit den Krankenhäusern. Und wir brauchen generell eine neue Kultur beim Umgang mit Fehlern, damit aus ihnen gelernt werden kann. Dazu gehört endlich die Einführung eines anonymen „Never-Event-Registers“, damit leicht vermeidbare Fehler wie eine Operation an den falschen Gliedmaßen tatsächlich nie wieder passieren.

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Traditionell sorgen die Selbstzahlerleistungen – abgekürzt IGeL – oft für Ärger bei den Patientinnen und Patienten, weil sie sich von den Ärzten dazu gedrängt fühlen. Was sollte hier geschehen?

Die regelmäßigen Untersuchungen des Medizinischen Dienstes zeigen, dass die große Mehrheit des IGeL-Angebots keinen erkennbaren Nutzen hat. Einige schaden sogar, weil sie häufig falsch positive Befunde liefern und dadurch unnötige weitere Untersuchungen und Eingriffe nach sich ziehen. Das gilt zum Beispiel für die Ultraschalluntersuchung zur Krebsfrüherkennung der Eierstöcke und der Gebärmutter – eine der am meisten verkauften Leistungen. Hier werden junge Frauen ohne Not in Angst und Schrecken versetzt. Diese Untersuchung wird deshalb auch von den gynäkologischen Fachgesellschaften abgelehnt. Ich fordere ganz klar: Leistungen, die von den medizinischen Fachgesellschaften als schädlich bezeichnet werden, haben in Arztpraxen nichts zu suchen und gehören verboten, auch im Rahmen von IGeL.

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