404: all cops are busy

Wo die deutsche Polizei bei der Verfolgung von Hass im Netz versagt

Das Strafgesetzbuch gilt ohne Ausnahme in ganz Deutschland: Das Strafrecht macht keinen Unterschied zwischen Ost und West, zwischen Stadt und Land, zwischen Flensburg und Sonthofen. Überall droht Straftäter:innen die gleiche Strafe. Das deutsche Strafrecht ist einheitlich.

Die deutsche Strafverfolgung ist hingegen uneinheitlich. In erster Linie sind die jeweiligen Behörden der 16 Bundesländer für die Verfolgung von Straftaten zuständig. Die Gesetzgeber in den Bundesländern können selbst entscheiden, wie sie „ihre” Polizei und „ihre” Staatsanwaltschaften organisieren: Die Länder setzen unterschiedliche Schwerpunkte, schaffen unterschiedliche Spezialeinheiten und bilden unterschiedlich fort.

Das führt vor allem bei einem vergleichsweise „neuen“ Rechtsgebiet wie Hass im Internet zu sehr unterschiedlichen Ermittlungsergebnissen in der Praxis, glauben Expert:innen wie die Leipziger Strafrechtsprofessorin Prof. Dr. Elisa Hoven. Ob Betroffene von Hass im Netz zu ihrem Recht kommen, hängt demnach vor allem davon ab, ob die Polizist:innen, an die sie geraten, Straftaten im Netz ernst nehmen und Ermittlungen einleiten – oder nicht.

Das Experiment

Um zu prüfen, was an dieser Vermutung dran ist, hat das ZDF Magazin Royale ein deutschlandweites Experiment durchgeführt und in allen Bundesländern 16 Korrespondent:innen engagiert, die am 3. August 2021 um 17 Uhr in ihrer örtlichen Polizeiwache dieselben sieben Hasskommentare zur Anzeige vorgelegt haben.

Alle Delikte anzeigen
1. Hakenkreuz + „Meine Ehre heißt Treue”
Telegram
2. „Sieg Heil Sieg Hreil Soeh Heil Sieg Heil Sieg Heil Sieg Heil [...]”
Twitter
3. „Durch die Impfung wollen diese d*****juden die Menschheit dezimieren”
Twitter
4. „digga ich Schlitz dich auf lass dich ausbluten koche deine Organe und schicke sie deiner Mum du dummer obdachloser bastard”
Twitter
5. „Aus rotten muss man diese drecks Leute” (Gerichtet an Geflüchtete)
Facebook
6. „Türken gehören auf die streckband, damit man sieht, wie [...]”
Facebook
7. „An die Wand stellen” (gerichtet an Prof. Christian Drosten)
Facebook

Das ZDF Magazin Royale hat das Experiment ausgewertet und den ersten „Strafverfolgungsatlas” erstellt: In dieser Deutschlandkarte sehen Sie, wie deutsche Polizeibehörden bei der Verfolgung von Hass im Netz vorgehen – und wo sie versagen. Klicken Sie für die detaillierten Ergebnisse auf das jeweilige Bundesland. Wenn Sie die mobile Version nutzen, klicken Sie auf das jeweilige Wappen.

Klicken Sie auf eines der Wappen, um den ausführlichen Bericht zu lesen:

Methodik lesen

Die Vorbereitungen für das Experiment starteten im Sommer 2020. Die Korrespondent:innen des ZDF Magazin Royale brachten im August 2021 ausschließlich „echte” und strafrechtlich relevante Hasskommentare zur Anzeige, die zwischen März und Juli 2021 auf Twitter, Telegram und Facebook veröffentlicht und mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht angezeigt worden waren.

Die Korrespondent:innen sind alle am 3. August 2021 um 17 Uhr mit den sieben ausgedruckten Hasskommentaren zu Ihrer örtlichen Polizeistation gegangen, um sie zur Anzeige zu bringen. Auf den Ausdrucken waren neben der Screenshots auch Username der Tatverdächtigen, Datum und Link zum jeweiligen Kommentar ersichtlich. Die Sachverhalte waren so aufbereitet, dass sie ohne weitere Auskünfte von der Polizei verfolgt werden hätten können. Kein:e Korrespondent:in war von einem der angezeigten Hasskommentare persönlich betroffen. Es handelte sich bei den Kommentaren um „Offizialdelikte”. Solche Delikte muss die Polizei „von Amts wegen” verfolgen, sobald sie Kenntnis davon erlangt – egal, von wem und wie die Polizei davon erfährt.

Die Korrespondent:innen haben direkt nach Erstatten ihrer Anzeige ein umfassendes Gedächtnisprotokoll verfasst. Um für die Auswertung des Experiments über eine größere Datenbasis zu verfügen, wurde in jedem Bundesland eine zusätzliche Anzeige per Post an eine andere Polizeidienststelle geschickt. Aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit fanden die postalischen Anzeigen keinen Eingang in die abschließende Bewertung und bleiben somit weitestgehend unerwähnt.

Zwei Monate nach den Anzeigen, am 4. Oktober 2021, haben sich die Korrespondent:innen per Mail bei ihren Polizeiwachen gemeldet und nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen gefragt. Sie haben außerdem eine „Chronologie nach der Anzeige” angelegt und ihren Schriftverkehr mit Polizei und Staatsanwaltschaften dem ZDF Magazin Royale zur Verfügung gestellt.

Weil die polizeilichen „Sachstandsmitteilungen” (Nachrichten zum aktuellen Status der Anzeigen) an unsere Korrespondent:innen größtenteils unzureichend waren oder gar keine Auskunft erteilt wurde, hat das ZDF Magazin Royale im April und Mai 2022 presserechtliche Auskunftsansprüche an alle Polizeiwachen gestellt (nach den entsprechenden Landespressegesetzen).

Obwohl beim Studiendesign auf größtmögliche Vergleichbarkeit geachtet wurde, hat das Experiment keinen Anspruch auf wissenschaftliche Signifikanz. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ. Die Ermittlungsergebnisse aus ganz Deutschland können Sie in dieser Tabelle nachlesen.

Ein Dank geht allen voran an die Korrespondent:innen in den 16 Bundesländern sowie an HateAid, hassmelden.de und alle anderen Vertreter:innen aus Wissenschaft, Polizei, Staatsanwaltschaft und Zivilgesellschaft, die mit ihrer Expertise zu diesem Projekt beigetragen haben.