Ordensverleihung: "Gelebte Solidarität – Engagiert in der Corona-Pandemie"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 26. März 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Ordensverleihung "Gelebte Solidarität – Engagiert in der Corona-Pandemie" am 26. März in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Das Virus fordert uns weiter heraus; auch in den kommenden Wochen sind erneut gewaltige Kraftanstrengungen nötig, und es ist ein großes Glück, zu wissen, dass wir dabei auf Menschen wie Sie zählen können. Danke für Ihre Solidarität, für Ihr Mitgefühl, Ihr Engagement auch jenseits des Scheinwerferlichts."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verleiht Annerose Chyzy das Verdienstkreuz am Bande bei der Ordensverleihung unter dem Motto 'Gelebte Solidarität – Engagiert in der Corona-Pandemie' im Großen Saal von Schloss Bellevue

Wenn alle helfen, den Himmel hochzuhalten, dann wird keiner müde, so beschreibt ein afrikanisches Sprichwort, ich finde, auf ganz wunderbare Art und Weise das, was wir vielleicht Solidarität nennen: zusammenhalten – auch und gerade dann, wenn es schwierig ist.

Vor genau einer Woche habe ich hier in diesem Saal Frau Dr. Türeci und Herrn Professor Şahin für die Entwicklung des ersten wirksamen Impfstoffes gegen Covid-19 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Eine Ordensverleihung, das ist etwas ganz Besonderes. Sie werden es vielleicht auch schon spüren. Es werden Menschen ausgezeichnet, die – wie Sie – wirklich Großes geleistet haben. Und so unterschiedlich sie alle sind, sie haben doch eines gemeinsam: Sie alle schauen nicht nur auf sich, sie schauen auch auf andere. Sie setzen sich für andere ein. Sie helfen Menschen oder organisieren Hilfe. In der Pandemie leben sie vor, was es heißt zusammenzuhalten.

Gerade wenn niemand zuschaut, zeigt sich oft, wer wir wirklich sind. Heute ehren wir Menschen, die angepackt und Außergewöhnliches getan haben. Sie alle haben selbstlos und unaufgefordert geholfen, ohne dass dabei ein Scheinwerferlicht auf sie fiel.

Wenn wir den Scheinwerfer heute für einen Moment auf Sie und Ihre vorbildhafte Leistung richten, dann soll dieses Licht auch gleichzeitig auf viele andere Helferinnen und Helfer fallen. Unser Land ist Ihnen in dieser Zeit zu wirklich großem Dank verpflichtet.

Ich freue mich sehr, Sie in Berlin und hier im Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen.

Die vergangenen Monate haben viel Verunsicherung mit sich gebracht, große Sorgen, Frust, Unmut, mitunter auch das Gefühl von Ohnmacht. Wir sind Corona-müde und fragen uns, wann dies alles ein Ende haben wird. Ich kenne keinen einzigen, der sich nicht wünscht, dass diese triste Zeit endlich hinter uns liegen möge.

Diese Krise hat uns über die Maßen viel Geduld abverlangt. Und Geduld haben die allermeisten auch gezeigt. Wir haben Verständnis gezeigt für Dinge, die nicht so gut liefen. Wir hatten gehofft, dass auf die erste Viruswelle keine zweite folgt. Und wir hatten gehofft, dass uns eine dritte Welle erspart bliebe.

Doch es ist anders gekommen. Unser Vorrat an Geduld schwindet. Ich verstehe den Frust. Wir haben darauf vertraut, dass all die Einschränkungen, die Hygienemaßnahmen das Virus bändigen werden. Dass der Impfstoff schneller kommt und die Warteschleife in der Impfhotline kürzer ist. Doch wir scheinen uns im Kreis zu drehen, bewegen uns von einem Lockdown in seine nächste Verlängerung. Jeder Fehler, jedes Versäumnis wiegt schwer. Enttäuschung, Gereiztheit, Misstrauen breiten sich aus. Und irgendwie auch das Gefühl bei vielen, dass Geduld und Disziplin nicht belohnt werden.

Ja, der Tunnel ist länger, als wir gedacht und gehofft haben. Aber gerade jetzt im Angesicht der dritten Welle ist nicht die Zeit, finde ich, für Resignation, Verzweiflung oder Abrechnung. Wir sind nicht so nah am Ziel, wie wir sein könnten – aber wir stolpern auch nicht irgendwo in der Startzone herum.

Und das sage nicht nur ich. Vor einer Woche hat uns Herr Professor Şahin, der mit seiner Frau zusammen den Biontech-Impfstoff entwickelt hat, hier im Schloss Bellevue daran erinnert, dass wir zwei Drittel des Weges hinter uns haben. Vor einem Jahr, sagte er, konnte niemand damit rechnen, dass uns heute nicht nur ein, sondern mehrere Impfstoffe tatsächlich zur Verfügung stehen. Und das für sich genommen ist schon ein großer Erfolg! Professor Şahin hat uns allen Mut gemacht, auch wenn er sagte, dass es noch eine Weile sehr schwer bleiben wird.

Der Kampf gegen das Coronavirus ist wie ein Marathonlauf, und das letzte Drittel der Strecke ist der härteste Teil des Laufes. Auf diesem Abschnitt dürfen wir nicht den Mut, nicht die Zuversicht und vor allen Dingen auch nicht das Selbstvertrauen verlieren. Wir wissen, was getan werden muss, um ins Ziel zu gelangen: Wir müssen impfen, schneller und umfassender als bisher, mit allen Mitteln, die wir haben, und mit mehr Pragmatismus als bisher.

Trotzdem: In dieser schwierigen Zeit, in der wir alle ungeduldig und erschöpft sind, sehe ich auch viel Gutes – Solidarität, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, aber auch Dankbarkeit. Dankbarkeit für Dinge, die wir allzu oft als selbstverständlich ansehen: Unterstützung zum Beispiel, die kommt, wenn sie gebraucht wird, eine persönliche Begegnung, Begleitung, einfaches Dasein und hin und wieder ein ermutigendes Wort.

Mit Ihrer Fürsorge, Ihrem bewundernswerten Einsatz, den Sie alle gezeigt haben, demonstrieren Sie miteinander all jenen Menschen, die verunsichert sind, die Ängste haben, von Sorgen getrieben werden, dass sie eben nicht allein sind, dass da jemand ist, der sich um sie kümmert. Das ist gelebte Solidarität. Aber jeder und jede Einzelne von Ihnen zeigt noch mehr: Empathie, die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen, mitzufühlen.

Ein Wort, das seit dem Beginn der Pandemie in unserer Sprache so gut wie allgegenwärtig ist, ist das englische Wort Lockdown. Es bedeutet für viele Alleinstehende, für ältere, aber auch für jüngere, vor allem eines: Einsamkeit.

Und Einsamkeit zu überbrücken, das Alleinsein vielleicht ein bisschen erträglicher zu machen, das ist die persönliche Mission einer stellvertretenden Vorsitzenden der Arbeiterwohlfahrt aus Thüringen. Während des Lockdowns greift sie in ihrer Rolle als ehrenamtliche Seniorenbegleiterin tagein, tagaus zum Hörer und macht Telefonbesuche. Über das Telefon nimmt sie am Leben der Betreuten teil, hört ihren Sorgen zu und verkürzt ihnen die Zeit des Alleinseins.

Das Alleinsein in der Zeit der Pandemie erträglicher machen, das will auch eine Leiterin und Mitbegründerin des Treffpunktes der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Als die Begegnungsorte für Holocaust-Überlebende vorübergehend geschlossen werden mussten, rief sie eine Treffpunkt-Hotline ins Leben, um Unterstützung und Hilfe auf diese Weise anzubieten.

Corona hat uns gelehrt, wie wichtig es ist, aufeinander achtzugeben: achtzugeben auf unsere Mitmenschen, auf die Familie, die Freunde, die Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Pandemie hat gezeigt, welche Kraft und Zugewandtheit in uns steckt, dass Dinge, die unmöglich schienen oder mindestens verschüttet waren, möglich sind.

Und die Pandemie führt uns allen auch vor Augen, wie wichtig gute Pflegerinnen und Pfleger sind, wie dringend wir alle auf sie angewiesen sind. Deshalb ehren wir heute eine langjährige Stationsleiterin der Klinik für Infektiologie in Leipzig, die von ihren Kolleginnen und Kollegen wegen ihres unermüdlichen und selbstlosen Einsatzes geschätzt und bewundert wird.

Die vergangenen Monate haben noch einmal besonders deutlich gemacht, wie wichtig die Arbeit der Pflegerinnen und Pfleger, der Ärztinnen und Ärzte ist. Trotz des hohen Risikos, auch selbst angesteckt zu werden, haben sie sich Tag und Nacht intensiv um ihre Patienten gekümmert. Einige unserer Mitmenschen, die in der Pflege arbeiten, haben sich tragischerweise infiziert und einige sind gestorben.

Ich höre mit einiger Sorge, dass immer mehr Pflegekräfte den Mut verlieren, dass sie nicht wissen, ob sie noch die Kraft haben, ihre Arbeit fortzusetzen. Wäre das so, hätte das fatale Folgen für uns alle. Wir alle müssen als Gesellschaft bereit sein, ihnen für ihren großartigen Einsatz zu danken und mehr Anerkennung als bisher zu zollen – sie erwarten mehr als den abendlichen Applaus von den Balkonen.

Und auch das ist eine Lehre aus einer schweren Zeit: Das Virus kennt keine Landesgrenzen, die Pandemie fordert den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit der gesamten Weltgemeinschaft. Denn wir sind nur sicher, wenn auch alle anderen sicher sind.

Die grenzüberschreitende ärztliche Hilfe ist einem Kardiologen aus Homburg/Saar eine große Herzensangelegenheit. Dank seines Einsatzes konnten Covid-Patienten aus Frankreich in ein Klinikum in Deutschland verlegt und dort behandelt werden. Dank dieser Zusammenarbeit konnten Menschenleben gerettet werden.

Mehr noch als für die Älteren unter uns ist die Pandemie für Kinder eine schwere Zeit. Viele verstehen noch nicht, was um sie herum geschieht, und leiden oft besonders stark unter den Einschränkungen: Sie dürfen nicht mit ihren Freundinnen und Freunden spielen, dürfen nicht in die Schule.

Lockdown ist nicht der einzige Anglizismus, der derzeit aus unserem Sprachgebrauch kaum noch wegzudenken ist. Während die Eltern im Homeoffice arbeiten, heißt das Pendant für die Kleinen Homeschooling. Dort sitzen sie allein vor dem Bildschirm, anstatt mit ihren Tischnachbarn in der Schule gemeinsam Pläne für den Nachmittag zu schmieden.

Eine Lehrerin aus Schleswig-Holstein hat sich der Nöte der Jüngsten angenommen. Um ihnen die Einsamkeit in der Pandemie ein wenig zu erleichtern, hat sie ihre Nähmaschine hervorgeholt und Lernpuppen genäht, die die Kinder wie Schulfreunde während des Lernens durch diese schwierige Zeit begleiten.

In dieser Ausnahmesituation, die nun schon mehr als ein Jahr dauert, ist viel Kreativität gefordert, aber auch unglaublich viel Tatkraft und schnelle Hilfe gezeigt worden. Eine führende Mitarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes verstand das sofort. Als es mit der Maskenverteilung nicht so recht klappten wollte, sprang sie in einen Lkw und transportierte über Nacht tausende Schutzmasken dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht wurden. Einfach so, selbstlos und ohne jede Verpflichtung.

Ich bin dankbar, dass es in unserem Land Menschen gibt, die – wie Sie – Zeit, Kraft und Ideen einsetzen, um anderen zu helfen.

Wir sind auf sie angewiesen, wir brauchen sie – immer, aber ganz besonders in dieser Zeit. Das Virus fordert uns weiter heraus; auch in den kommenden Wochen sind erneut gewaltige Kraftanstrengungen nötig, und es ist ein großes Glück, zu wissen, dass wir dabei auf Menschen wie Sie zählen können.

Danke für Ihre Solidarität, für Ihr Mitgefühl, Ihr Engagement auch jenseits des Scheinwerferlichts. Ich wünsche mir, dass diese Solidarität auch nach dem Ende der Pandemie noch zu spüren ist.

Im Sinne des afrikanischen Sprichwortes, anfangs zitiert, lassen Sie uns den Himmel hochhalten, alle gemeinsam, und allen Schwierigkeiten zum Trotz Zusammenhalt leben.